Gehr, Felix

Nachname: Gehr
Vorname: Felix
Geburtsdatum: 25. April 1897
Geburtsort: Pakosch (Deutschland, heute Polen)
Familienstand: verheiratet
Familie: Ehemann von Charlotte Frederique G.
Adresse:
unbekannt
Beruf:
Kaufmännischer Angestellter Einkäufer
Emigration:
1933 in die Niederlande
Deportation:
6.6.1942 verhaftet und nach Amersfoort (Niederlande),
16.7.1942 von Westerbork nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)
Sterbedatum:
19. Juli 1942

Biographie

Felix Gehr

Außer einer Akte im Generallandesarchiv, die auf Veranlassung seiner Witwe in den 1950er Jahren angelegt wurde, scheinen von der Hauptperson dieses Berichts keine Spuren in Karlsruhe zu finden zu sein. In der Kaiserzeit in der damaligen preußischen Provinz Posen geboren, zog seine Familie – wie viele andere – nach Berlin. In den Zwanziger Jahren arbeitete der junge Mann beim Warenhauskonzern Tietz (dem späteren Hertie) und kam dadurch in die badische Landeshauptstadt. 1933 verließ er Hitlerdeutschland und siedelte in die Niederlande über. Seit 1938 verheiratet, wurde er allein im Sommer 1942 aus nichtigem Anlass verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er sein Leben verlor. Seine Frau konnte inkognito nach Belgien entkommen und hat den Krieg im Versteck, dann im Gefängnis überlebt.

Felix Gehr wurde geboren am 25. April 1897 in Pakosch, Kreis Mogilno, Regierungsbezirk Bromberg in der Provinz Posen, heute Pakosc in Polen.1 Sein Vater war der Schlachtermeister David Gehr, geboren am 13. März 1862 in Prust, Landkreis Tuchel, Bezirk Marienwerder in Westpreußen, heute Pruszcz in Polen. Felix' Mutter hieß Settchen2, genannt Lina, geborene Simon, geboren am 18. November 1861 im oberhessischen Nieder-Weidbach (heute Teil von Bischoffen im Lahn-Dill-Kreis). Beide Eltern entstammten dem Landjudentum, das oft traditionell religiös, aber nicht orthodox war und sich in der Berufswahl an den rituellen Erfordernissen orientierte. So gab es Viehzüchter und -händler, Schlachter, Köche und Wirte, daneben die das Leder verarbeitenden Schuster, aber auch Weinhändler und Bäcker, da und dort auch Landwirte. Wer Kultusamt oder akademischen Beruf anstrebte, ging Richtung Westen in die großen Städte. Die jüdische Bevölkerung im Raum Posen sprach zumeist deutsch und war, nach heutigen Maßstäben, gut integriert, mit der Einschränkung, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen dort eher schwierig und belastet war.

Felix' hebräischen Namen kennen wir nicht, den er wie alle jüdischen Knaben mit der Beschneidung (Brith Milah) erhielt und mit dem er, als er 13 war, das erste Mal zum Lesen des Wochenabschnitts aus der Torah aufgerufen wurde (Bar Mitzwah). Der Name Felix/Feliks könnte, wie manches Mal, eine Lehnübersetzung zum Namen Ascher (volkssprachlich Osher) nach 1 Mose 30,13 sein. Ascher ist ein Sohn des biblischen Jakob und einer der Stammväter Israels.

Der Familienname lässt auf die Herkunft von Vorfahren aus Góra Kalwaria (jüdisch-deutsch: Ger) schließen, einer kleinen Stadt an der Weichsel in Zentralpolen. Aber auch eine Herleitung aus althochdeutsch gêr (etwas Spitzes, Keilförmiges, auch: Speer) ist denkbar, wie heute noch im Ausdruck „Gehrung“ (Schreiner-Fuge) oder historisch „Gehr/Gehre“ für ein spitz zulaufendes Flurstück oder einen Zwickel im Schneiderhandwerk.

Pakosch hatte um die Jahrhundertwende knapp 3.000 Einwohner.3 In dem Städtchen am Oberlauf der Netze sind Juden bereits im 16. Jahrhundert belegt. Die Stadt war kirchlich reformiert, aber nicht lutherisch, sondern von den Böhmischen Brüdern geprägt. Später wandelte sie sich in einen katholischen Wallfahrtsort. Die nächste größere Stadt ist das 15 km östlich gelegene Inowrazlaw, 1904-1920 und unter der deutschen Besatzung Hohensalza genannt. Pakosch lag an der Nebenbahn von Rogasen nach Inowrazlaw und besaß eine Zuckerfabrik und eine Kalkbrennerei.

Im Jahr 1656, im Polnisch-Schwedischen Krieg, hatten polnische Czarnecki-Truppen, die das von den Schweden besetzte Großpolen zurückeroberten, ein Massaker an den Juden von Pakosch verübt. Wer nicht fliehen konnte, wurde getötet. Bis ins frühe 19. Jahrhundert gab es dort keine jüdische Gemeinde mehr. (Der jüdische Friedhof im heutigen Pakosc ist überbaut, es gibt auch heute dort keine jüdische Gemeinde).

Im Allgemeinen Lexicon sämmtlicher jüdischer Gemeinden Deutschlands (1884)4 wird in Pakosch ein privater Anbieter koscheren Essens aufgeführt, „Fleischermeister F. Gehr“, vielleicht Felix' Großvater. Dora Gehr, offenbar die Witwe, ist im Adressbuch 1903 als Fleischerin mit Adresse Rynek (Marktplatz) 18 in Pakosch genannt5, vermutlich im Haus der Familie David Gehr. Nebenan in Nummer 20 ist der Kaufmann Jacob Gehr genannt, geboren 1867 in Mankowarsk bei Tuchel, verheiratet mit Jenny, geb. Abraham – vielleicht Davids Bruder. Die damalige jüdische Gemeinde in Pakosch, die laut dem genannten Lexikon den „traditionellen Ritus“ pflegte, zählte damals 166 Seelen.

Pakosch besaß ein Bethaus in einem einfachen Fachwerkbau (erst 1904 durch einen Steinbau ersetzt) und eine erst 1893 eröffnete, einklassige Jüdische Volksschule6 mit zunächst 29 Schülern und dem Lehrer Naftaniel, der allerdings 1902 nach Berlin ging. Sein Nachfolger, Lehrer Joseph, hatte im Juni 1905 nur noch 10 Schüler zu unterrichten. Aus den Gebieten um Posen und Westpreußen gab es schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Bevölkerung große Wanderungsbewegungen in die Großstädte, vor allem nach Berlin. Dem Engagement solcher Neuberliner verdankt die Hauptstadt übrigens die 1866 fertiggestellte, bis heute reformorientierte Neue Synagoge in der Oranienburger Straße.

Migrationsursachen waren neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Spannungen mit der polnischen Bevölkerung unter anderem, dass es z.B. in der Provinz Posen kaum höhere Schulbildung und keine Universitäten gab. Die Statistik sagt, dass Pakosch im Jahr 1905 29% weniger „jüdische Seelen“ zählte als 20 Jahre zuvor.7

Die Familie von Fleischermeister David Gehr muss Pakosch um die Jahrhundertwende verlassen haben, denn sie findet sich 1903 im Adressbuch8 der 25 km entfernten, südwestlich gelegenen Kreisstadt Mogilno. Mogilno hatte zur Jahrhundertwende 3.500 Einwohner, davon 134 „Israeliten“.9 Die Stadt war ein Eisenbahnknotenpunkt und hatte eine Seifen-, Öl- und Stärkeindustrie.

1906 lebte David Gehr mit Familie noch in Mogilno, denn ein Sohn, Siegbert Alexius, kam dort am 31. Januar 1906 zur Welt – seine Mutter war 45 Jahre alt, damit war er sicherlich der jüngste von vermutlich mehreren Geschwistern, deren Namen – außer Felix – wir bisher nicht feststellen konnten. In Mogilno lebte 1903 eine weitere Familie Gehr, Gustav und seine Frau Henriette (Jette) geborene Heim mit ihren sechs Söhnen, der jüngste von ihnen war der 1907 in Mogilno geborene Herbert Gehr (später Musiker).10 Gustav und David Gehr waren vielleicht Brüder – auf jeden Fall nahe Verwandte. Nicht im Adressbuch von 1903, aber anhand ihrer Lebensdaten zu folgern, lebten zumindest zeitweise in Mogilno auch die erwähnten Jakob und Jenny Gehr, mit sechs Söhnen,11 unter ihnen Franz (geb. 1898) und Max (geb. 1909).

Felix kam noch in seiner Schulzeit oder spätestens zu Ende des Weltkriegs nach Berlin, wo bereits Verwandte lebten. 1918/19 brachen nämlich im Raum Posen und Westpreußen schwere polnisch-deutsche Konflikte aus („Großpolnischer Aufstand“). Große Teil der Provinz Posen wurden im Verlauf de facto polnisch – also bereits vor der Neuaufteilung aufgrund des Versailler Vertrags. Dadurch wanderten weitere Teile der deutschsprachigen Bevölkerung nach Westen ab, darunter viele Juden.

Die Berliner Adressbücher des ersten Jahrhundertdrittels nennen u.a. den Viehhändler Julius Gehr, die Fleischermeister Jacob bzw. Jakob Gehr und Moritz Gehr („Fleischerei und Wurstfabrik“). Daneben finden wir die Konfektionäre Arthur Gehr („Herren- und Knabengarderobe“), Isidor Gehr („Kinder- und Mädchenkonfektion en gros“, bzw. „Deutsche Kinder-Moden Gehr & Arnheim GmbH“) und Leo Gehr („Herren-Konfektion“). Soweit festzustellen, waren alle hier genannten Gehrs aus dem Großraum Posen gebürtig, einige aus Pakosch. Auch die inzwischen verwitwete Henriette Gehr findet sich 1931 im Jüdischen Adressbuch für Groß-Berlin. Sie führte mit ihren Söhnen ein Bekleidungsgeschäft.12 Daneben gab es die „Berliner Mäntelfabrik Grischu“ (Gramm, Gehr und Schulz), die Firma „Hageco-Röcke“ von Heinrich Gehr sowie eine Firma Gehr & Co, „Damenkonfektion en gros“, Mitinhaberin Emilie Gehr geb. Berliner.
Herstellung und Handel modischer Kleidung „von der Stange“ war einer der stärksten Wirtschaftszweige im damaligen Berlin. Zehntausende Frauen waren in Kleinbetrieben und in Heimarbeit darin tätig. Während die feinen Schneidereien „nach Maß“ eher im Tiergartenviertel oder Unter den Linden zu finden waren, war das Zentrum der Prêt-à-porter-Kleidung rund um den Hausvogteiplatz.

Prominent war Theodor Gehr,13 der jüngste von acht Geschwistern, Modeschöpfer, Geschäftsinhaber („Damenmäntel“) und Komponist, der um 1921 am Theater in der Kommandantenstraße mit der Revue „Goldene Freiheit“ oder 1924 mit „Modekönigin“ Erfolge feiern konnte. Ebenfalls erfolgreich war offenbar Adolf Gehr, „Kinder-, Backfischmäntel und Kostüme“,14 der noch 1933 sein Geschäft an den Hausvogteiplatz verlegte. Die Fabrikation war in der nahen Kronenstraße angesiedelt. Theodor und Adolf stammten aus Tuchel (Tuchola), der Wurzel des Namens Tucholsky, nicht weit entfernt von David Gehrs Geburtsort Prust, und beide konnten in die USA emigrieren.

Erst ab dem Berliner Adressbuch 1923 und zuletzt 1931 auch im Jüdischen Adressbuch ist David Gehr, Fleischermeister, mit der Adresse Berlin N 58, Franseckystraße 47, Erdgeschoss aufgeführt. Das Mietshaus in der heutigen Sredzkistraße im Bezirk Prenzlauer Berg stand in einer dicht besiedelten Arbeitergegend, und gehörte einer Frau Paula Eichhorn. Unter derselben Adresse – laut Jüdischem Adressbuch – wohnte auch Siegbert Gehr, Felix' jüngerer Bruder. Im Telefonbuch von 1936 zeigt sich, dass er beruflich in die Fußstapfen des Vaters getreten ist: „Fleischerei und Wurstverkauf, W 50, Ansbacher Straße 10“.

Seit 1922 in einem Handelsbetrieb angestellt,15 arbeitete Felix Gehr von 1. März 1924 an als Einkäufer beim Warenhauskonzern Tietz in Berlin.16 Was für eine Karriere Felix dort machte, ist unklar. Denkbar ist, dass er für Tietz – dessen prächtiges Hauptgebäude in der Leipziger Straße stand – teils vor Ort, teils auf Reisen einen Teil des Einkaufs im Bereich der Bekleidungsmode machte. Zu solch einem Posten gehörten eine kaufmännische Ausbildung, vertiefte Kenntnisse über Stoffe, Schnitte und Trends, Präsenz auf Märkten und Messen wie etwa in Paris – und großes Geschick.

Gründer der damals sehr innovativen Tietz-Warenhäuser waren Oscar Tietz (1858-1923) und sein namengebender Onkel und Financier Hermann Tietz (1837-1907). Beide stammten aus Birnbaum in der Provinz Posen, heute Międzychód in Polen. Der Konzern hatte in den 1920er Jahren allein in Berlin mehrere große Filialen, u.a. am Alexanderplatz, und beschäftigte deutschlandweit an die 14.000 Menschen.

Um 1930 wurde Felix Gehr offenbar an das Karlsruher Warenhaus Tietz versetzt. Damals eins der führenden Kaufhäuser der Stadt, stand es in der Kaiser-, Ecke Ritterstraße, an der Stelle des heutigen „Karstadt Sport“.

Im Karlsruher Adressbuch findet sich der – noch unverheiratete – Felix Gehr nicht.17 Als Junggeselle muss er irgendwo zur Untermiete gewohnt haben. In Karlsruhe lebte ein Kollege, Julius Simon, geboren 1883, Anfang der 1930er Jahre mit Familie in der Edelsheimstraße 2 in der Oststadt ansässig. (Zu seinem Schicksal gibt es einen Beitrag in diesem Gedenkbuch). Simon war Einkäufer und Abteilungsleiter für Spiel- und Korbwaren, Musikinstrumente, Fahrrad- und Sportartikel bei Tietz. Er stammte aus Hessen, wie Felix' Mutter, und war mit einer Katholikin verheiratet. Ob Julius Simon und Felix Gehr verwandt waren oder überhaupt näher miteinander zu tun hatten, ist allerdings nicht belegt.

Am 7. Januar 1931 verstarb Felix' Mutter Lina. Sie wurde auf dem Israelitischen Friedhof in Berlin-Weißensee bestattet (in Gräberfeld E 7, Reihe 12. Der große, schlichte Stein ist gut erhalten). Nach ihrem Tod musste der Witwer die Wohnung in der Franseckystraße offenbar aufgeben, denn 1933 wohnte er in der Rosenheimer Straße 34, einem Mietshaus im Bezirk Schöneberg, in Untermiete.18 Ein paar Häuser weiter, in der Hausnummer 31, wohnte laut Jüdischem Adressbuch für Gross-Berlin (1931) Minna Gehr, vielleicht eine alleinstehende Verwandte, ebenfalls zur Untermiete.

Am 4. August 1933 endete Felix Gehrs Anstellung bei Tietz in Karlsruhe. Noch war die Firma zwar nicht „arisiert“ worden, aber als Jude hatte Felix zweifellos bereits einen schwachen Stand. Manchen war schon Mitte 1933 klar, dass mit immer mehr Benachteiligungen und Schikanen gegen Juden zu rechnen war. Vielleicht halfen ihm Geschäftsbeziehungen nach Holland, denn am 12. September 1933 ist belegt, dass Felix Gehr aus Karlsruhe kommend nach Amsterdam zuzog.

Beim „Wiedergutmachungsverfahren“ berichtete Charlotte Gehr später, warum Felix im Herbst 1933 Karlsruhe verlassen habe19: Er sei seiner eigenen Aussage nach in Schwierigkeiten geraten durch seine damalige Beziehung zu einer nicht-jüdischen Frau. Was das konkret bedeutete, wird nicht gesagt. Bereits vor den Nürnberger Gesetzen (1935) gab es das „völkische“ Schlagwort der „Rassenschande“, mit dem vielfach schon Verfolgungsdruck auf jüdische Männer ausgeübt wurde. Vielleicht haben braune Angehörige der Frau den „nicht-arischen“ Verehrer unmöglich gemacht.

In Amsterdam gründete Felix zusammen mit R. Weiss die Firma Gehr & Co, die Damenbekleidung herstellte und damit handelte. Ähnliche Gründungen gab es in den Niederlanden zu Hunderten in jenen Jahren. Einigen der vertriebenen Berliner Konfektionäre gelang es zunächst, wie sonst nur in London, in Amsterdam Fuß fassen.

Am 19. November 1933 verstarb in Berlin auch Felix' 71-jähriger Vater David und wurde neben seiner Frau in Weißensee beigesetzt.20 Sicherlich konnte Felix zur Beerdigung wieder nach Berlin reisen, da er noch deutsche Papiere besaß.

Im Sommer 1936 lernte Felix auf einer Geschäftsreise in Paris, der Stadt der Haute Couture, die 1916 in Saarbrücken geborene, mit ihren Eltern dort lebende Charlotte Friederike („Lotte“) Herz kennen. Sie war die Tochter von Hermann (Armand) Herz und Bertha (Berthe), geborene Winter. Die Familie war erst ein halbes Jahr zuvor aus Straßburg zugezogen und wohnte in der Avenue de Versailles 37 im XVI. Arrondissement. Charlotte hatte in Saarbrücken das Lyzeum besucht und in Lausanne ein Pensionat. Am 22. Oktober 1938 heirateten Felix und die 22-jährige Charlotte in Anwesenheit der Brauteltern in Paris, und er kehrte mit ihr nach Amsterdam zurück. Nachdem Felix zunächst in der Roemer Visscherstraat 30A gemeldet gewesen war, zog das Ehepaar nun in die Zuider Amstellaan 246.I, die heutige Rooseveltlaan. Im Amsterdamer Handelsregister steht, dass Felix die Firma „Gehr & Co“ ab März 1940 alleine führte.

Der Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 muss für viele wie Ehepaar Gehr ein Schock gewesen sein. Ab Anfang Mai 1941 waren alle Jüdinnen und Juden in den Niederlanden ab dem Alter von sechs Jahren unter Strafe angehalten, äußerlich sichtbar auf der Kleidung festgenäht den gelben Stern zu tragen. Im selben Jahr verlor Felix (und vermutlich auch seine Frau) die deutsche Staatsangehörigkeit und wurde damit staatenlos, was in Anbetracht der bürokratisch denkenden deutschen Besatzer bereits eine riskante Lage bedeutete.

Am 5. Juni 1942 passierte Felix Gehr (nach dem späteren Bericht seiner Frau) in Amsterdam ein fatales Missgeschick. Er geriet mit dem Fahrrad in Gegenrichtung in eine Einbahnstraße. Von weitem als Jude zu erkennen, wurde er von der Straße weg festgenommen und am nächsten Tag in das Polizeihaftlager Amersfoort bei Utrecht überstellt. Dort war ein Sammelpunkt für den „Arbeitseinsatz“. Vielleicht konnten Lotte und er sich während der nächsten Wochen seiner Haftzeit noch schreiben, gesehen haben sich die beiden wohl nicht mehr.

Am 16. Juli – nur einen Tag, nachdem die deutschen Besatzer die Deportationen aus den niederländischen Lagern in Gang gesetzt hatten – wurde Felix mit weiteren Häftlingen21 nach dem Durchgangslager Westerbork transportiert. Die offizielle Lesart war, dass der anstehende Transport zum „Arbeitseinsatz“ ins „Reich“ führen würde. Das in Berlin angeordnete Transportkontingent wurde mit 309 männlichen jüdischen Häftlingen aus Amersfoort „aufgefüllt“, darunter Felix Gehr. Noch am 16. Juli verließ der Zug aus Viehwaggons mit insgesamt 895 Personen Westerbork – der zweite von insgesamt 93 Deportationszügen von dort „nach dem Osten“.22

Am 17. Juli, wohl nach fast 48 Stunden, kam der Transport (zusammen mit dem vorangegangenen Transport aus Westerbork) an der so genannten Alten Rampe zwischen der Stadt Auschwitz und dem im Ausbau befindlichen Lager Birkenau an. Die ins Lager gelangenden Neuankömmlinge wurden desinfiziert, mit elektrischen Maschinen kahlgeschoren und in Lagerdrillich gesteckt, ohne viel Rücksicht auf Jahreszeit, Passform und Größe. Felix erhielt die Häftlingsnummer „48125“. Solche Nummern wurden bei Erwachsenen auf den linken Unterarm tätowiert.

In der im Museum in Auschwitz erhaltenen Eingangsliste ist bei Felix Gehr vermerkt: „eingeliefert von RSHA“. Das muss heißen, dass seine Verhaftung nicht durch einen übereifrigen Schutzpolizisten, sondern durch den Apparat der Abteilung IV B 4 beim „Reichssicherheitshauptamt“ in Berlin, also die Gestapo geschehen war.

Im Sommer 1942 gab es eine Fleckfieber-Epidemie in Auschwitz. Allein am 19. Juli sind 135 männliche Häftlinge in Auschwitz-Birkenau aktenkundig, die an diesem Tag ums Leben kamen. Viele Menschen überstanden das Lagerdasein nur kurze Zeit. In den Unterlagen des Internationalen Suchdienstes wird der 19. Juli als mutmaßlicher, aus der Kenntnis der damaligen Verhältnisse erschlossener Todestag genannt, der auch von niederländischen Gerichten nach dem Krieg so anerkannt wurde. Eine größere Zahl Mithäftlinge aus dem selben Transport, die auch mit Nummer erfasst sind, ist in den Tagen und Wochen nach der Ankunft ums Leben gekommen.

Charlotte, die das Schicksal ihres Mannes damals nur erahnen konnte, war indessen noch in Amsterdam, in ständiger Gefahr, selbst abgeholt zu werden.

Am 5. Juli 1942 wurden wieder Tausende junger Jüdinnen und Juden in Holland zum Abtransport für den „Arbeitseinsatz“ schriftlich aufgerufen (z.B. auch Margot Frank, worauf hin sie mit ihren Eltern und Anne das Versteck im „Achterhuis“ bezog). Am 14. Juli gab es eine große Razzia gegen Juden.

So suchte Lotte Gehr nun dringlichst ein Versteck und machte sich, ihrem eigenen Bericht aus der Nachkriegszeit zufolge mit blond gefärbtem Haar und falschen Papieren, auf den gefährlichen Weg nach Belgien. Den Hausrat und die meisten persönlichen Dinge musste sie zurücklassen. Das Firmenvermögen ihres Mannes stand inzwischen unter deutscher Zwangsverwaltung.

In Brüssel suchte Lotte Gehr, wie sie später berichtete, einen alten Freund ihrer Eltern auf, „Herrn Caroli“, der dem belgischen Widerstand angehört habe und ihr Unterschlupf gewährte. Außer Haus bewegte sie sich fortan – wenn überhaupt – nur ohne den gelben Fleck an der Kleidung und ohne irgendwelches kompromittierende Material bei sich zu haben.

Als Lotte einmal Straßenbahn fuhr – für Juden längst verboten – geriet sie in eine Polizeikontrolle. Es wurde nach einer bewaffneten Person gefahndet, alle Fahrgäste wurden durchsucht. Lotte wurde festgenommen, weil sie die geforderten Papiere nicht vorweisen konnte und kam in das Brüsseler Gefängnis St. Gilles, wo sie etliche Monate inhaftiert blieb. Als die Alliierten näher rückten, sperrte man die Häftlinge am 2. September 1944 in einen Transportzug „ins Reich“. Der Zug blieb allerdings viele Stunden stehen, dann flüchteten die Bewacher und Lotte kam gemeinsam mit anderen Gefangenen frei. Am Tag darauf wurde Brüssel von amerikanischen Truppen befreit. Nach einigen weiteren Monaten bei Caroli kehrte die junge Frau nach Paris zurück. Ihre Eltern waren beide im April 1944 über das belgische Sammellager Mechelen/Malines deportiert worden und in Auschwitz umgekommen.

Mit einem Touristenvisum reiste Charlotte Gehr 1953 nach Brasilien. Henriette Gehr mit ihren Söhnen war bereits vor dem Krieg nach Brasilien emigriert; Nachkommen leben heute dort und in den USA. Die Familie von Felix' Bruder Siegbert Gehr ist 1954 nach Brasilien ausgewandert und lebte fortan in Rio de Janeiro.23 Daher liegt es nahe, dass Charlotte Angehörige besuchte.

1958 – sie war inzwischen ausgebildete Kosmetikerin – heiratete Charlotte zum zweiten Mal. Durch die Ehe mit Raymond Beaujard wurde sie nun französische Staatsbürgerin.

Jakob und Jenny Gehr gingen mit vier überlebenden Söhnen nach Kolumbien. Noch weitere Verwandte hatten in Südamerika eine Bleibe gefunden. Kontakt zu Angehörigen der Gehrs in Übersee kam aber leider noch nicht zustande. Vielleicht kann dieser Beitrag dabei helfen, so dass Felix Gehr nicht vergessen wird.


(Christoph Kalisch, September 2015)



Anmerkungen:
[1] Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 480/ Nr. 29420.
[2] GLA 480/ 29420 und Friedhof Weißensee haben „Settchen“, ein Auswanderungsdokument für Sohn Siegbert nach Brasilien hat „Dettchen“, letzteres wohl ein Tippfehler.
[3] A. Warschauer (1905).
[4] Allgemeines Lexicon sämmtlicher jüdischen Gemeinden Deutschlands (1884), S. 116.
[5] http:molendowie1353.republika.pl/images/Pakosc.pdf = Adressbuch für die Stadt Inowrazlaw und die Kreise... (1903).
[6] Heppner/Herzberg: 1. Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüd. Gemeinden in den Posener Landen, Koschmin u.a., 1909.
[7] B. Breslauer: Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen : Denkschrift im Auftr. d. Verbandes d. Deutschen Juden. Berlin, 1909.
[8] Adressbuch für die Stadt Inowrazlaw und die Kreise Inowrazlaw und Strelno : mit den Städten Urgenau, Kruschwitz, Strelno sowie Mogilno und Pakosch (1903).
[9] Vgl. Brockhaus 14. Aufl. 1902.
[10] Vgl. Interview „Norbert Gehr's Legacy“ (https:
www.youtube.com/watch?v=9Wa8XEzrwo0) .
[11] http:www.genealogy.com/forum/surnames/topics/gehr/140/ .
[12] Bericht Norbert Gehr (1940-2015) über seine Großmutter, Vater und Onkel vgl. https:
youtu.be/9Wa8XEzrwo0
[13] https:news.google.com/newspapers?id=JqxaAAAAIBAJ&sjid=Xk8DAAAAIBAJ&hl=de&pg=3853%2C5357224 .
[14] http:
www2.hu-berlin.de/djgb/www/find .
[15] Seit 1922 Beitragskonto bei der RfA Berlin, vgl. GLA 480/29420 .
[16] Auskunft Fa. Union (Karlsruhe) 1956, vgl. GLA 480/29420.
[17] Ein in den Karlsruher Adressbüchern 1931/32 bis 1933/34 aufgeführter „Zivil-Ingenieur“ Ludwig Gehr in der Marie-Alexandra-Straße 8 ist sicher nicht mit Felix verwandt. Vgl. Ernst Klee: Auschwitz - Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon.
[18] Auskunft J. Ber, Isr. Friedhof Berlin-Weißensee Juli 2015.
[19] Aussage von Charlotte Gehr nach seinen Erzählungen, GLA 480/ Nr. 29420.
[20] Gräberfeld E 7, Reihe 12.
[21] https:www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/chronicles.html?page=4 .
[22] vgl. http:
db.yadvashem.org/deportation/transportDetails.html?language=de&itemId=6496326 .
[23] https:*familysearch.org/ark:/61903/1:1:V1S2-RJ2 .