Gross, Scheindel

Nachname: Gross
Vorname: Scheindel
abweichender Vorname: Sabina
geborene: Engelberg
Geburtsdatum: 11. Januar 1885
Geburtsort: Lezaisk/Galizien (Österreich-Ungarn, heute Polen)
Familienstand: verheiratet
Eltern: Koppel und Rosa, geb. Engelberg, Oehlbaum
Familie: Ehefrau von Heinrich G.; Mutter von Dora, Rachel Rosa und Emanuel;
Adresse:
Adlerstr. 8,
Stephanienstr. 27,
Kronenstr. 16
Deportation:
April/Mai 1939 zwangsweise nach Polen nach Polen dem abgeschobenen Ehemann gefolgt,
zu unbekanntem Zeitpunkt nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)

Biographie

Heinrich und Sabina Groß

Heinrich Groß wurde am 9. September 1880 im galizischen Altsarnow (Zarnowo), im Bezirk Strczyzow geboren. Damals war der Ort Bestandteil der österreichisch-ungarischen Monarchie, heute gehört er zu Polen. Heinrich wohnte von seiner Geburt an bis 1901 bei seinen Eltern, Simon Groß und Lea, geborene Kimmel in Glinik. Dort betrieben die Eltern eine Landwirtschaft, ein Erwerbszweig, der für Juden im Allgemeinen eher selten war; in Galizien jedoch, da dort Juden auch zu früheren Zeiten Land erwerben konnten, durchaus häufig anzutreffen war. Heinrich und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Michael halfen selbstverständlich im elterlichen Betrieb. Ab 1901 leistete Heinrich beim österreichischen Militär seinen dreijährigen Militärdienst beim vierten Jäger Bataillon in Nisko bis 1904 ab, zuletzt als Korporal. Am 14. November 1904 zog es Heinrich dann nach Karlsruhe. Die genauen Umstände und Gründe lassen sich nicht erhellen. Da jedoch zahlreiche jüdische Bewohner Galiziens aus ähnlichen Verhältnissen hierher kamen, wäre zu vermuten, dass eine gewisse mündliche „Propaganda“ dafür ursächlich war. Bruder Michael folgte 1906 aus Glinik nach Karlsruhe. Heinrich verdiente den Lebensunterhalt anfangs als Handlungsreisender, nach einiger Zeit, 1909, eröffnete er ein Bilder- und Spiegelgeschäft, in das sein Bruder Michael 1912 als gleichberechtigter Teilhaber einstieg. Das Geschäft wurde später als Gebrüder Groß OGH bekannt.
Am 30. September 1909 heiratete Heinrich seine Frau Scheindel, die sich ab den 1920er Jahren Sabina nannte. Scheindel war am 9. Januar 1885 im galizischen Lezaisk geboren, lebte aber schon seit 1893 mit ihrem Vater, dem Kaufmann Koppel Oehlbaum und ihrer Mutter Rosa, geborene Engelberg, in Frankfurt am Main. 1886 bis 1893 hatte sie die Volksschule in Zarnowa besucht. So könnte es sein, dass sich die Eheleute bereits seit den Kindertagen gekannt hatten.
Am 21. März 1910 kam das erste Kind von Heinrich und Scheindel auf die Welt, Dora. Auf den Tag genau ein Jahr später, am 21. März 1911, folgte das zweite Kind, Emanuel. Am 1. Juli 1913 konnte das Ehepaar sich über ihr drittes gemeinsames Kind Rachel Rosel freuen.
Als der Erste Weltkrieg begann, musste Heinrich Groß, ebenso auch sein Bruder Michael, zum österreichisch-ungarischen Heer einrücken. Vom 4. August 1918 bis zum 11. November 1918 trug Heinrich die Uniform, beim Landsturm Etappenbataillon 110. Trotz dieser Truppenbezeichnung war die Einheit auch an der Kriegsfront in Galizien, in Russland und in Ungarn eingesetzt.
Heinrich Groß kehrte unversehrt, aber auch undekoriert aus dem Krieg nach Karlsruhe zurück und nahm die Geschäfte wieder auf. Im Betrieb der Gebrüder Groß arbeiteten nur Heinrich und Michael, sowie als mithelfende Angehörige ihre Ehefrauen, Angestellte gab es keine. Verkauft wurden gerahmte Gemälde, aber auch christlich-religiöse Kunstgegenstände, gelegentlich auch Wohnungsinterieur. Das Besondere war, dass das Geschäft als ein Abzahlungsgeschäft organisiert war, das heißt, der Verkauf wurde meist auf Ratenzahlungsbasis abgewickelt. Zu dieser Zeit gab es noch keinen ausgebauten Markt für Konsumkredite, so dass der Ladeninhaber das Risiko einging, umgekehrt aber auch einen höheren Preis erzielen konnte. Das Geschäft der beiden Brüder jedenfalls lief ausgezeichnet, selbst in den Zeiten der Wirtschaftskrise, das Einkommen von Heinrich und Michael Groß kann als hoch bezeichnet werden.
Heinrich und Scheindels Kinder galten in der Schule als fleißig und sehr begabt. Dora ging auf die Töchterschule in der Kriegsstraße, Emanuel auf die Realschule und Rosel auf die Karl-Wilhelm-Schule in der Oststadt (heute Heinrich-Meidinger-Schule, Berufsfachschule). Heinrich Groß gehörte der jüdisch-orthodoxen Chewra Kadischa Beerdigungsbruderschaft an. Die sorgte dafür, dass Verstorbene gemäß dem religiösen Ritual betrauert und beerdigt wurden. Demnach lässt sich die Familie der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Karlsruhe zurechnen.
Nach der langen Zeit des Aufenthaltes in Karlsruhe und nachdem als Ergebnis des Ersten Weltkriegs Österreich-Ungarn aufgelöst wurde, der heimatliche Teil Galiziens der Groß’ an Polen gefallen war, stellte Heinrich Groß für sich und seine Familie am 8. Juli 1921 den Antrag auf Einbürgerung in Deutschland. Die Familie fühlte sich deutsch, wollte sich keinesfalls als Polen identifizieren, als dessen Staatsbürger sie wegen der Gesetzeslage galten. Aufgrund ihrer guten wirtschaftlichen Lage, sowie ihrer hohen Steuerzahlungen und ihres ausgezeichneten Leumundes wäre anzunehmen gewesen, dass dem Gesuch stattgegeben würde. Der Stadtrat von Karlsruhe, der Oberbürgermeister sowie das Innenministerium Badens befürworteten dann auch den Antrag. Als er jedoch formal den Vertretungen der übrigen Länder zur Einverständniserklärung vorgelegt wurde, kam er von dort am 18. März 1922 mit dem Vermerk: „Bedenken gegen Einbürgerung“, zurück. Somit war der Antrag abgelehnt. Eine genauere Begründung gab es nicht, und von welchem föderalen Land Deutschlands der Einspruch kam, blieb unklar. Sehr wahrscheinlich kam der Einwand preußischerseits, denn von dort wurden Anträge oft abgelehnt, weil „Ostjuden unerwünscht“ waren. Trotzdem war dieser Vorgang mehr als verwunderlich, denn Heinrichs Bruder Michael hatte zwei Jahre zuvor, 1919, den Einbürgerungsantrag gestellt und anstandslos genehmigt erhalten. Dies, obwohl er bekanntermaßen etwas später wie Heinrich nach Deutschland gezogen war und sich in derselben sozialen Lage wie sein Bruder befand.
Die Familien Heinrich Groß und Michael Groß wohnten in der Adlerstraße 8, einem stattlichen klassizistischen Gebäude welches sie 1927 gemeinsam erworben hatten, jeweils in einer 5-Zimmer-Wohnung, welche gut eingerichtet und möbliert war. Im Jahre 1927 begann Emanuel eine Lehre bei der Eisenhandlung der Gebrüder Baer in Karlsruhe, die anderen zwei Kinder gingen weiterhin zur Schule. Im selben Jahr, am 6. April 1927, stellte Heinrich Groß für sich und seine Familie einen Neuantrag auf Einbürgerung, er ließ sich also von der ersten Absage nicht entmutigen und da sie jahrelang gute Steuerzahler waren und auch nicht vorbestraft waren, hoffte die Familie dieses Mal auf einen positiven Bescheid. Doch auch dieser Antrag wurde im Februar 1928 abgelehnt, nachdem er denselben Weg wie der fünf Jahre zuvor gegangen war. Nach positiver Würdigung in Karlsruhe wurde er über den Weg der Länder abermals abgewiesen. So mussten Heinrich Groß und die Familienmitglieder wider Willen mit ihren polnischen Pässen weiterleben.
Der Machtantritt der Nationalsozialisten veränderte die Lage vollkommen. Das Geschäft der Gebrüder Groß war vom „Judenboykott“ am 1. April 1933 betroffen. Vor dem Laden hielten SA-Männer die Kundschaft vom Eintritt ab. Überhaupt ging nun das Geschäft gar nicht mehr, wie Michael Groß’ Ehefrau Fanny später erklärte. Das Geschäft wurde zum 3. November 1933 sogar im Handelsregister gelöscht. Michael Groß hatte seit dem Frühjahr 1933 bereits Auswanderungsgedanken getragen und diese schließlich umgesetzt, Anfang 1934. Das gemeinsame Haus der Brüder in der Adlerstraße wurde veräußert. Michael Groß und Familie gingen in die Niederlande, nach Amsterdam. Dort überlebten sie Krieg und Verfolgung versteckt, 1946 wanderten sie nach Palästina aus, um 1957 in die Niederlande zurückzukehren.
Heinrich Groß seinerseits erwarb mit dem Verkaufserlös sowie dem Guthaben aus langer Geschäftstätigkeit das Haus Stephanienstraße 27, wo die Familie auch einzog. Sie bewohnten nun eine geräumigere 6-Zimmerwohnung in einer „guten Wohnadresse“.
Heinrich Groß wird in den Adressbüchern nach 1933 bis 1938 weiterhin als Kaufmann geführt, jedoch ließ sich trotz intensiver Recherche kein Beleg finden, welche Art von Geschäft er nun betrieb und von was er genau lebte.
Heinrich Groß hegte seit dem Frühjahr 1938 ebenfalls Auswanderungsgedanken und verkaufte im Hinblick darauf das Haus in der Stephanienstraße an einen Rechtsanwalt, allerdings bereits gemäß dem sich verschärfenden Verfolgungsdruck weit unter Wert. Sie lebten fortan in einer 3-Zimmer-Wohnung in der Kronenstrasse 16, wo auch der künftige Schwiegersohn und Ehemann von Tochter Rosel Rachel, Arthur Herschthal wohnte. Die beiden heirateten am 24. November 1938, 14 Tage nach den dramatischen Geschehnissen in der so genannten „Reichskristallnacht“. Beide konnten noch im Juli 1939 in die USA emigrieren. Der ältere Sohn Emanuel hatte schon im Januar 1938 geheiratet, die aus Flehingen stammende Greta Weingärtner, die als Fremdsprachensekretärin bei der Nähmaschinenfabrik Haid & Neu gearbeitet hatte. Beide gingen noch im selben Jahr in die USA, Emanuel wurde später Wirtschaftsprüfer im Bundesstaat New York. Der Zeitablauf lässt darauf schließen, dass die Emigration bereits Jahre zuvor geplant war, außerdem vermutlich Verwandte und Fürsprecher in den USA diese Absicht unterstützten, denn so kurzfristig hätte die Einwanderung der Groß-Kinder in die USA nicht umgesetzt werden können. Auch die dritte Tochter, Dora, wanderte in die USA aus, der genaue Zeitpunkt ließ sich jedoch nicht ermitteln; sie arbeitete später als Friseurin in den USA. Heinrich und Sabina Groß hatten demnach also vor, ihren Kindern nachzufolgen. Doch es kam anders.
Die autoritäre Regierung in Polen plante zum 1. November 1938, die bis dahin im Ausland lebenden Polen nach diesem Termin offiziell auszubürgern, wenn sie sich nicht ausdrücklich bis zum Stichtag erneut als polnische Staatsbürger registrieren ließen. Dies nahm das Hitlerregime zum Anlass, in einer großen Abschiebeaktion am 28. Oktober 1938 alle erwachsenen Männer, die die NS-Regierung zu Polen erklärte, mit der Eisenbahn über die polnische Grenze abzuschieben. Unter den zahlreich in Karlsruhe betroffenen Männern befand sich auch Heinrich Groß. Er musste wie tausende andere in diesem Transport im Niemandsland der deutsch-polnischen Grenze verbleiben, tage-, wochen-, monatelang, denn die polnische Regierung verweigerte ihrerseits die Einreise. So campierten die Männer in einem Lager bei Neubentschen (Zbaszyn).
Die zurückgebliebene Sabina Groß und die Töchter erlebten den NS-Terror nur wenige Wochen später am eigenen Leib. In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November drangen SA-Leute in das Wohnhaus Kronenstraße 16 ein, das mittlerweile ein „Judenhaus“ war. Bei Groß’ traten sie die Türen ein, zerschlugen teilweise das Mobiliar. Welche Angst mochten die Frauen ausgestanden haben?
Nach der Aufhebung des Camps in Neubentschen, reiste Sabina Groß ihrem Mann nach Polen nach. Rosa Rachel brachte ihre Mutter in den letzten Apriltagen 1939 an den Bahnhof, dort verließ die Mutter nach über 40 Jahren Deutschland, nicht aus freiem Entschluss, sondern nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors. Das Ehepaar ging nach Tuchow, im südöstlichen Polen, nach Galizien. Dort lebten sie bei einer Frau Wildstein in Untermiete. Auch nach dem Überfall Deutschlands auf Polen und der Besatzung blieben sie dort. Vermutlich wurde Heinrich aber alsbald danach verhaftet oder musste zur Zwangsarbeit, Genaues ist unbekannt. Sabina Groß blieb in Tuchow. Der Sohn Emanuel ließ ihr monatlich aus Amerika über American Express 100 Zloty anweisen, was damals etwa 25 Mark entsprach. Der Transfer über die USA war noch möglich, da noch kein Kriegszustand mit den USA herrschte. Die letzte Geldüberweisung, bestätigt durch Unterschrift von Sabina Groß, erfolgte am 20. März 1941. Dies war zugleich das letzte Lebenszeichen von ihr. Was danach geschah, liegt im Dunkel. Kam sie in ein Ghetto und von dort in ein Vernichtungslager? Das weiß niemand. Sicher ist, dass sie nicht überlebt hat. Sie wurde später amtlich für tot erklärt, zum 31. Dezember 1945.
Heinrich Groß’ genaues Schicksal während der Jahre 1939 bis 1944 bleibt im Ungewissen. Doch wir wissen, dass er nach Auschwitz kam. Denn von dort ist die Kenntnis seiner Häftlingsnummer erhalten geblieben: 161171, nur wann er nach Auschwitz kam ist unbekannt. Notiert ist darüber hinaus noch, dass er mehrmals zwischen dem 31. Januar 1944 und dem 24. März 1944 in der Krankenbaracke des KZ Auschwitz-Monowitz behandelt wurde. Da war er schon 64 Jahre alt. Monowitz war das KZ-Lager, in dem Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten, insbesondere in den Bunawerken der I.G.Farbenindustrie. Die Lebensspanne bei dieser Zwangsarbeit war im Allgemeinen sehr kurz. Auch sein Todestag wurde auf den 31. Dezember 1945 festgelegt. Willkürlich, für juristische Zwecke, Auschwitz war schon seit dem 27. Januar 1945 befreit. Unter den Befreiten war Heinrich Groß nicht. Vielleicht starben Heinrich und auch Sabina letzten Endes auch in der Gaskammer einen qualvollen Tod. Aber das wird niemals mehr zu erfahren sein.

(Christian Kastner, Eichendorff-Gymnaisum Ettlingen, 13. Klasse, Schuljahr 2003/2004)