Herz, Sigmund Nathan
Nachname: | Herz |
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Vorname: | Sigmund Nathan |
Geburtsdatum: | 23. Februar 1856 |
Geburtsort: | Kochendorf/Neckarsulm (Deutschland) |
Familienstand: | verheiratet |
Familie: | Ehemann von Anna Theresia H.;
Vater von Walter und Elisabeth |
Karl-Friedrich-Str. 32,
ab 1904: Schirmerstr. 1,
ab 1938: Klosestr. 34
Biographie
Sigmund und Anna Herz
Das Schicksal meiner jüdischen Großeltern
Wenn ich an meine Karlsruher Großeltern zurückdenke, tauchen vor meinem Auge zwei sehr gegensätzliche Bilder auf.
Das erste freundliche Bild zeigt das stattliche Karlsruher Bürgerhaus zwischen Scheffelplatz und Hardtwald in der Schirmerstraße 1, mit seiner einladenden, im Stil des Historismus dekorativ gestalteten Fassade. Hier wohnten durch viele Jahre in freundschaftlichem Kontakt drei Parteien: im Parterre die Familie des prominenten Schauspielers am Karlsruher Theater, Ulrich von der Trenck, im Dachgeschoß die Familie des Professors am Goethe-Gymnasium, Dr. Ulrich Bernays, im Mittelgeschoß mit dem blumengeschmückten Balkon zur Straßenseite meine Großeltern Herz. In diesem Haus ist auch deren einzige Tochter, meine Mutter aufgewachsen.
Das andere traurige Bild zeigt das Grab meines Großvaters auf dem Friedhof von Gurs in Südfrankreich am Fuß der Pyrenäen. Über tausend schlichte quadratische Steine liegen hier auf einem weiten grünen Feld. Ein Drittel der im Herbst 1940 aus Baden und der Pfalz deportierten 6500 Juden haben auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden. Da alle Steine einander gleichen, muss man lange suchen, bis man irgendwo in der Mitte einen Stein mit der Inschrift findet: Siegmund Herz, geboren 23. Februar 1856 in Kochendorf; gestorben 18. November 1940 in Gurs. In diesen nüchternen Sätzen verbirgt sich das traurige Ende meines innig geliebten Großvaters: geächtet von den Mitmenschen, einsam gestorben, begraben in fremder Erde.
Nichts könnte das tragische Schicksal der deutschen Juden treffender charakterisieren als diese beiden mich ständig begleitenden Bilder aus dem Leben meiner Großeltern: das erste, die glückliche Existenz bis über die Lebensmitte, das zweite Bild jedoch die Verfolgung, Ächtung und Vertreibung bis zum traurigen Ende.
Mein Großvater stammte aus Kochendorf bei Heilbronn, wo die meisten Verwandten der Familie Herz zwischen Bretten und Eppingen ihren bescheidenen Lebensunterhalt als Kaufleute und Metzger verdienten. Sigmund Herz zeigte schon früh einen wachen Geist für wirtschaftliche und finanzielle Zusammenhänge. Nach einer kaufmännischen Lehre trat er in Karlsruhe 1893 in die Firma S.Henmann-Söhne, Manufakturwaren en gros, Lammstraße 8 ein. Nach zwei Jahren wurde er Teilhaber des Geschäftes, das sich nun Herz & Gutmann nannte. Im gleichen Jahr 1895 heiratete er Anna Mayer aus Mainz und bezog eine Wohnung in der Karl-Friedrich-Straße 32, nahe beim Ettlinger Tor und dem alten Bahnhof. Die junge Frau, 1869 in Mainz geboren, stammte aus einer gut situierten Familie von Kaufleuten und Bankiers. Die Tochter Elisabeth, genannt Elly, kam 1896 auf die Welt. Zusammen mit ihren Freundinnen am großherzoglichen Viktoria-Mädchen-Lyceum verehrte sie den Pfarrer Rohde an der Christus-Kirche und konvertierte unter dessen Einfluss zum protestantischen Christentum. Sie war eine glühende Anhängerin des deutschen Kaisertums und arbeitete im Krieg 1914 - 1918 als freiwillige Rote-Kreuz-Schwester im Karlsruher Reservelazarett. Bis ins hohe Alter erzählte sie von den sie tief beeindruckenden Besuchen der alten Großherzogin Luise, der Tochter des ersten deutschen Kaisers Wilhelm I., in der unter ihrer Protektion stehenden Mädchenschule und bei den verwundeten Soldaten im Lazarett.
Die Familie meiner Großeltern war geprägt durch die deutsche Kultur, die Literatur und die Musik. Noch heute lese ich in den alten Klassiker Ausgaben von Lessing, Goethe, Schiller, Wieland und Heine, die in der Bibliothek meiner Großeltern gestanden waren. Mit meiner Großmutter spielte ich öfters vierhändig, Wenn hierbei mein Großvater, der in seiner Jugend ein eifriger Besucher des Badischen Hoftheaters war, die ihm aus Oper und Konzert vertrauten Melodien erkannte, sang er selig mit.
Das Haus in der Schirmerstraße 1, um 1880 erbaut, hatte die denkbar beste Wohnlage im Westen der badischen Residenz. In zwei Minuten erreichte man den Rand des Hardtwaldes mit schönen Spazierwegen und den ersten Tennisplätzen. Hier, an die Westseite des Schlossplatzes anschließend, in der Nachbarschaft der Moltkestraße, Bismarckstraße, Jahnstraße, Stephanienstraße und Westendstraße [heute Reinhold-Frank-Straße] spielte sich das gesellschaftliche Leben der Residenzstadt ab. Der Scheffelplatz mit dem 1892 durch Michael Bernays eingeweihten Denkmal des Dichters war der Mittelpunkt dieses idyllischen Wohngebietes.
Alle Bewohner des Hauses Schirmerstraße 1 waren dem Geistigen und Kulturellen zugewandt. Der Schauspieler Ulrich von der Trenck im Erdgeschoß spielte im Hoftheater, später Landestheater, die großen Charakterrollen des klassischen Schauspiels. Professor Bernays im Dachgeschoß war ein profunder Kenner der europäischen Literatur und ein leidenschaftlicher Anhänger des Theaters. Seine besondere Liebe galt den Musikdramen Richard Wagners. Die fanatische Verehrung des Bayreuther Meisters hatte er von seinem Vater Michael Bernays übernommen, des "ordentlichen Professors für neuere Sprachen und Literatur an der Universität München". Dieser war berühmt gewesen für seine freie Rede in gepflegter Sprache und die Rezitationen klassischer Dichtungen. Der Gast im Hause Wahnfried in Bayreuth musste für das Ehepaar Wagner stundenlang die Dichtungen von Schiller und Goethe aus dem Gedächtnis rezitieren. Als Freund der großherzoglich badischen Familie übersiedelte er im Ruhestand nach Karlsruhe und erwarb 1891 das Haus in der Schirmerstraße 1, wo zuerst er und später sein Sohn einzog. Ulrich Bernays versicherte mir einmal, dass er seit seiner Karlsruher Gymnasialzeit, als noch Mottl am Pult gestanden war, keine Wagner-Aufführung versäumt habe. Da er wegen einer extremen Kurzsichtigkeit die Bühne ohnedies nur verschwommen erkennen konnte, hatte er als Stammsitz den billigsten Platz im Hause, einen Hörplatz hinter einer Säule. Wenn mein Bruder und ich als Zwölf- bis Sechzehnjährige bei den Großeltern zu Besuch waren, kümmerte er sich um die Bildung der beiden Knaben.
Als ich das erste Mal in die Wohnung im dritten Stock kam, staunte ich über die Unmenge von Büchern, die bis unter die Decke in Regalen an den Wänden standen. Es war die vom Vater ererbte Bibliothek des Münchner Universitätslehrers. Noch nie zuvor hatte ich so viele Bücher in einer Wohnung gesehen. Ulrich Bernays lebte wie sein Vater nur in der Welt der Literatur und des Theaters. Aus dem unerschöpflichen Reservoir seines Wissens erteilte er uns seine wohlwollenden Belehrungen und Ratschläge, immer von einem freundlichen Lächeln begleitet. Auf seine Veranlassung mussten wir am Karfreitag den Parsifal, an Ostern den Faust besuchen. Beides war für ihn untrennbar mit dem Osterfest verbunden.
Meine Großeltern lebten bescheiden und anspruchslos, obwohl mein Großvater als erfolgreicher Kaufmann gut verdient hatte. Er ging schon vor dem ersten Weltkrieg mit Mitte fünfzig in den Ruhestand, als ihm dies der Arzt nach einer schweren Lungenentzündung geraten hatte. Da jedoch durch die Inflation sein Vermögen geschrumpft war, reiste er in den zwanziger Jahren als Vertreter für Bettfedern. Auf seinem Schreibtisch lagerten in vielen kleinen Pappschachteln die Proben der von ihm vertretenen Adler-Bettfedern, interessante Objekte für die Neugierde der Enkel. Die Wohnung hatte keine Zentralheizung. Im Winter heizte man aus Sparsamkeit nur das Wohnzimmer, die Schlafzimmer, Küche und Bad blieben kalt. Morgens holte der Großvater in einem Eimer die Kohlen aus dem Keller. In der Nähe des Ofens war es kuschelig warm, aber im Badezimmer eisig kalt, so daß manchmal das Wasser in der Waschschüssel gefroren war. Nur am Wochenende wurde für ein Bad der Gasofen angeheizt.
An meine Großeltern erinnere ich mich als unendlich gütige Menschen, die ihre beiden Enkel liebevoll verwöhnten. Nie hörte ich von ihnen ein lautes oder böses Wort. Der Großvater führte uns spazieren oder machte mit uns Spiele, Halma, Mühle oder das Kartenspiel Sechsundsechzig. Wenn er mit einem Trumpf stechen konnte, warf er die Karte in hohem Bogen auf den Tisch, knallte mit den Fingergelenken aufs harte Holz und begleitete dies mit einem Kartenspielerspruch wie etwa: „vier mal zehn gibt vierzig, wers nicht glaubt, der irrt sich!“ Die Großmutter kochte unsere Lieblingsspeisen, Schmorbraten, Dampfnudeln oder Kirschenplotzer. Zum Nachmittagstee gab es Weißbrot mit Butter und Marmelade, an Samstagen Käsekuchen oder Guglhupf, den sie als Mainzerin Bund nannte. Seit meiner frühsten Kindheit kam ich regelmäßig in das wunderbare Haus in der Schirmerstraße, das einen eigenartigen Zauber auf mich ausübte, den ich noch heute verspüre, wenn ich gelegentlich durch die Straße gehe. Hier sieht es noch genauso aus wie vor 75 Jahren.
Dass meine Großeltern jüdisch waren, wusste ich nicht bis zu meinem elften Lebensjahr, als ich beim Absingen der Nationalhymne in der Aula des Bismarck-Gymnasiums wie alle Schüler den rechten Arm erheben wollte, und ein Freund neben mir sagte, "das darfst du nicht". Wenige Tage danach mussten wir unserem Klassenlehrer eine Bescheinigung der "arischen Abstammung" abgeben. Da ich das nicht konnte, fühlte ich mich ab diesem Zeitpunkt gegenüber meinen Mitschülern mit einem schlimmen Makel behaftet. Dennoch wollte ich nicht begreifen, dass meine innig geliebten Großeltern Menschen minderen Ranges sein sollten!
Im August 1933 übersiedelte ich mit meinen Eltern an den Bodensee. Jetzt sah ich meine Großeltern nur noch ab und zu, wenn ich sie in den Ferien besuchte. Doch dies hörte auf, als im Jahr 1937 das Haus Schirmerstr.1 von der benachbarten Firma Raab-Karcher gekauft wurde. Das Idyll der Schirmerstraße war für immer zerstört, alle Bewohner mussten ausziehen und verloren sich in entlegenen Teilen der Stadt. Meine Großeltern fanden 1938 eine Wohnung in der Klosestraße 34, einem nüchternen Wohnblock nahe dem Hauptbahnhof. In der engen Neubauwohnung war kein Platz mehr für die Enkelkinder. Doch am Freitag jeder Woche schrieb ich mit meinem Bruder einen Brief an meine Großeltern, einen so genannten "Sonntagsbrief'. Einige Antwortbriefe habe ich als Kostbarkeit bis heute aufbewahrt.
Als im September 1939 der Krieg ausbrach, befürchteten meine Eltern einen Angriff auf die Stadt Karlsruhe und ließen daher die Großeltern an den Bodensee kommen. Aus Sicherheitsgründen wohnten sie in einem benachbarten Haus, deren Besitzerin USA-Staatsbürgerin war, einige Zeit auch bei einer Verwandten im Rentamt Hilzingen. Nachdem jedoch an der Rheinfront alles ruhig blieb, kehrten die Großeltern im Spätherbst nach Karlsruhe zurück.
Im folgenden Jahr, Ende Oktober 1940 erhielten wir durch Mittelspersonen die alarmierende Nachricht, dass das Ehepaar Herz in unbekannter Richtung abtransportiert worden sei. In den Zeitungen las man nichts darüber, doch auf Umwegen erfuhr man, der Gauleiter Wagner habe "seinem Führer" gemeldet, das Land Baden und die Pfalz seien nun "judenfrei"!
Am Morgen des 22.Oktober 1940 war um 8 Uhr ein Polizist an der Türe meiner Großeltern erschienen und hatte ihnen eröffnet, sie müssten in zwei Stunden bereit sein, für eine längere Reise an den Bahnhof zu gehen. An Gepäck dürften sie nur so viel mitnehmen, wie sie tragen könnten. Mein vierundachtzigjähriger Großvater litt an schwerer Angina pectoris, und konnte überhaupt nichts tragen. Der Polizist beruhigte die alten Leute, sie könnten unbesorgt ihre Sachen in der Wohnung lassen, sie kämen bald wieder zurück! Die Möbel wurden anschließend beschlagnahmt und wie alles jüdische Inventar- mit Ausnahme von wertvollen Kunstgegenständen - bei Versteigerungen verschleudert. Die Vermögen wurden beschlagnahmt und vom Staat eingezogen. Das Reisegepäck nahm man den Großeltern am Bahnhof ab, sie sahen es nie mehr wieder. Sie bewahrten nur, was sie am Leibe trugen.
Hiervon, sowie den menschenunwürdigen Bedingungen während der Eisenbahnfahrt, berichtete später meine Großmutter, die in Frankreich bis zum Kriegsende alle Strapazen überlebte. Für meinen herzkranken Großvater muss der mehrere Tage dauernde Transport in quälender Enge, ohne die Möglichkeit einmal auszusteigen, eine unbeschreibliche Tortur gewesen sein. Die Medikamente, auf die er angewiesen war, hatte man ihm mit dem Gepäck abgenommen.
Als der Transport endlich am Ziel der Reise, nahe der französisch-spanischen Grenze eintraf, waren die Reisenden völlig erschöpft. Von der Bahnstation Oloron-Ste Marie wurden sie auf offenen Lastwagen nach dem 18 Kilometer entfernten Camp de Gurs transportiert. Beim Anblick der riesigen primitiven Lageranlage machte sich allgemeine Verzweiflung breit. Man musste die von Schlamm und Morast umgebenen Baracken der ehemaligen Spanien-Flüchtlinge beziehen. Männer und Frauen wurden getrennt untergebracht. Die Quartiere in den Holzhütten ohne Fenster, ohne elektrische Beleuchtung, ohne Heizung und ohne Betten waren unbeschreiblich primitiv. Zum Schlafen musste man sich mit Stroh auf den blanken Holzboden legen. Von den löchrigen Dächern tropfte der Regen nach innen. Josef Werner nannte in seinem Buch, „Hakenkreuz und Judenstern“ das Camp de Gurs eine Stätte des Hungers und seelischer Not. Zum Glück wussten die Lagerinsassen damals nicht, dass die deutsche Regierung vorhatte, die über 6000 Juden von Frankreich weiter nach Madagaskar transportieren zu lassen. Mein Großvater lebte in der Hölle von Gurs nur wenige Wochen. Er wurde nach der Ankunft krank und bettlägerig. Auch in seinen letzten Stunden durfte meine Großmutter nicht zu ihm. Er selbst konnte aus Gurs kein Lebenszeichen mehr schicken. Auf einer Postkarte des Roten Kreuzes erhielten wir Wochen später die Nachricht: Sigmund Herz am 18. November 1940 in Gurs verstorben.
Meine Großmutter, die damals schon über 70 Jahre alt war, überstand mit erstaunlicher Vitalität die Strapazen des Transportes und des Lageraufenthaltes. Sie kam nach dem Krieg zurück nach Deutschland und lebte bis 1953 bei der Familie der Tochter am Bodensee. Als Erinnerung an das Leben im Lager Gurs besitze ich von ihr ein kleines Notizbuch, das sie immer bei sich getragen hat. Darin befinden sich wichtige persönliche Notizen, neben Adressen von Bekannten im Ausland, französische Wendungen der Umgangssprache und einige Kochrezepte für einfache Gerichte. Anna Herz hatte das Glück, wegen ihres Alters nicht wie die meisten anderen Lagerinsassen nach dem Osten in ein Vernichtungslager abtransportiert zu werden. Durch Bemühungen von entfernten Verwandten in der Schweiz konnte sie in ein französisches Altersheim in St.Laurent du Pont übersiedeln. Da sie gut französisch sprach, erhielt sie eine bevorzugte Position und konnte die übrigen deutschen Bewohner des Heimes betreuen.
Nach dem Krieg erzählte sie ihren Kindern und Enkeln nur wenig über die schlimmen Erlebnisse der Deportation. Sie zeigte sich stets gütig und freundlich und äußerte sich niemals gehässig über die Menschen, die ihr und ihrem Mann so schlimmes Unrecht angetan hatten. Ihr Denken war an der Gegenwart orientiert und weniger in die Vergangenheit als in die Zukunft gerichtet; stets blieb sie aufgeschlossen für neue Begegnungen und Erlebnisse.
(Frithjof Haas)