Iwanier, Schewa

Nachname: Iwanier
Vorname: Schewa
abweichender Vorname: Schewa
Geburtsdatum: 3. Mai 1939
Geburtsort: Frankfurt a.M. (Deutschland)
Familienstand: ledig
Eltern: Aron und Auguste, geb. Waldmann, I.
Adresse:
unbekannt , in Frankfurt a.M. wohnhaft
Deportation:
22.11.1941 von Frankfurt a.M. Nach Kaunas (Kowno) (Litauen)
Sterbeort:
Kaunas (Kowno) (Litauen)
Sterbedatum:
25. November 1941

Biographie

Familien Iwanier und Steinmetz

Im Gedenken an Rabbi Naftali Herzel Weiss-Steinmetz und Rachel Steinmetz mit Susi, Rosa, Salomon und Pinchas
Samuel Brodmann
Auguste und Schewa Iwanier


Familie Iwanier
Mordechai Alter Iwanier wurde am 9. Februar 1878 in Wiznitz geboren. Sein Beiname „Alter“ entsprach im aschkenasischen Kulturkreis dem Wunsch der Eltern, nach dem Tod eines Kindes das nächste bis ins hohe Alter leben zu sehen.

Wiznitz war mit etwa 4/5 jüdischer Bevölkerung ein „Schtetl“ am rechten Ufer des Czeremosz in der nördlichen Bukowina, nahe der Grenze zu Galizien (deutsch ausgesprochen: „Wischnitz“,1 jiddisch וויזשניץ mit stimmhaftem -zh- wie in „Journal“) und gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn. In der Zwischenkriegszeit rumänisch, hieß der Marktflecken Vijniţa, wurde 1940 sowjetrussisch, 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzt und unter die Verwaltung rumänischer Faschisten gestellt. Nun wurden die verbliebenen jüdischen Menschen nach dem rumänischen Transnistrien deportiert. 1944 kam der Ort wieder zur UdSSR, heute heißt er Vyzhnytsa in der Ukraine.

Mordechai Alter Iwanier besuchte die Volksschule und sicher auch eine religiöse Schule in Wiznitz. Er absolvierte eine Textilfachschule und war Volontär in einer Tuchhandlung. 1898 eröffnete er sein erstes Geschäft in seiner Vaterstadt. Die Namen seiner Eltern sind nicht bekannt. 1895 werden in Wiznitz drei Familienoberhäupter genannt: „Iwanier, Mendel: Halinatuchhandel; Iwanier, Osias: Fischhandel; Iwanier, Salomon: Fleischhauer.“2 Der zuerst Genannte kann sehr gut der Vater sein. Halina-Tuch ist ein grober Wollstoff, den die ärmere Bevölkerung für Mäntel verwendete.

Die Iwaniers gehörten zu den Anhängern der Wiznitzer Chassidim, also zu einer streng orthodoxen Bewegung, die heute noch in Israel und den USA lebendig ist. Der Chassidismus ist eine mystische, lebenslustige Bewegung, die die Tora stark mit mündlichen Überlieferungen verbindet. Der „Tisch“ eines charismatischen Rebben bildet den gesellschaftlichen Mittelpunkt.

Im Hause Iwanier wurde Jiddisch gesprochen, vielleicht auch Hochdeutsch. Der Name Iwanier (betont auf dem ersten -I-, mit seinen Varianten Ibner und Ebner) kann gut eine russifizierte Form des mittelhochdeutschen Berufsnamens "ebenære“ sein, etwa: „Schiedsrichter“ oder „Schlichter“. 1769-75 hatte nämlich Russland die nördliche Bukowina besetzt. So wurde z.B. auch der Ortsname Gartenberg lehnübersetzt in das bekannte Sadagóra.3 Namensverwandte sind z.B. der zionistische Pionier Dr. Mayer Ebner (1872-1955) aus Czernowitz oder Mark Ivanir, ein ukrainisch-israelisch-amerikanischer Filmschauspieler der Gegenwart, der u.a. im Film „Schindlers Liste“ (1993) auftrat.

Mordechai Iwanier war ein sehr prominenter Anhänger von Raw Yisroel Hager,4 dem 3. Wiznitzer Rebben, der ihm der Familienüberlieferung nach riet, nach Karlsruhe zu gehen, und er war befreundet mit dessen Sohn, dem fast gleichaltrigen Chaim Meir Hager, dem späteren 4. Wiznitzer Rebben. Diese Dynastie sieht sich in der Nachfolge des Gründers des Chassidismus, des „Ba'al Schem Tow“ (1698-1760):

• Ya'akov Koppel Chassid (?-1786) war „Shaliach tzibbur“, d.h. Vorbeter, des Ba'al Schem Tow. Sein Vortragsstil, sein synagogaler Gesang wird von den Wiznitzer Chassidim bis heute gepflegt.5 Er ist Stammvater der Linie.
• Dessen Sohn, Menachem Mendel Hager aus Kosov (?1768-1826) wurde - wie üblich nach seinem Hauptwerk - „Ahavas Shalom“ (Friedensliebe) genannt.
• Dessen Sohn wiederum war Chaim Hager aus Kosov (1795-1854), genannt „Toras Chaim“ (Gesetz des Lebens).
• Dessen Sohn Menachem Mendel Hager aus Wiznitz (1820-1884) hieß „Tzemach Tzadik“ (Zweig des Gerechten) und zählt als der 1. Wiznitzer Rebbe.
• Dessen Sohn Boruch Hager (1845-1893) hieß auch „Imrei Baruch“ (Segenssprüche) und war der 2. Wiznitzer Rebbe.
• Dessen Sohn Yisroel Hager (1860-1936), „Ahavas Yisroel“ (Liebe zu Israel) genannt, war der 3. Wiznitzer Rebbe.
• Dessen Sohn Chaim Meir Hager (1887-1972) hieß „Imrei Chaim“ (Sprüche des Lebens) und war der 4. Wiznitzer Rebbe. Er überlebte, ging 1947 von Antwerpen aus nach Palästina und wurde Oberhaupt der Wiznitzer Chassidim in Bnei Brak.
• Dessen Sohn Yehoshua Moshe Hager (1917-) ist (2008) der gegenwärtige Wiznitzer Rebbe in Bnei Brak.

1912 kam Mordechai Alter Iwanier mit Familie nach Karlsruhe, wo er ein Manufakturwaren- und Ausstattungsgeschäft („Fa. Chaim Grösler Nachfolger“) übernahm und in der Kriegsstraße 10, Ecke Mendelssohnplatz/Kronenstraße, Räume für Geschäft und Wohnung mietete. Etwa 1915 wurde die Hausnummer 10 in 68 geändert.6
Manufakturenwaren sind Stoffe als Meterware, unter Ausstattung wurden z.B. Vorhänge, Bett- und Tischwäsche verstanden. Der Tuchhandel wird teilweise im Laden, teilweise über kleine Händler und Hausierer gelaufen sein.7

Mordechai Iwaniers etwa gleichaltrige Frau Sossie,8 geborene Friedmann (die Sterbeurkunde nennt „Sofie“, der Grabstein auf dem orthodoxen jüdischen Friedhof Haid-und-Neu-Straße: סאסי „Ssassie“ oder „Ssossie“), stammte aus dem etwa 20 km von Wiznitz entfernten, galizischen Zablotów (Österreich-Ungarn). In der Zwischenkriegszeit gehörte der Ort zum polnischen Bezirk Sniatyn, Wojewodschaft Stanislawow, heute als Zabolotiv zur Ukraine. Sossie Friedmanns Vater ist als Se'ev ha-Cohen angegeben, also als aus der priesterlichen Linie der „Kohanim“ stammend.9 Se'ev entspricht „Wolf“. Ein „Kohen“ ist ein direkter (männlicher) Nachkomme des biblischen Aaron. Vielleicht waren die Friedmanns verwandt mit Yisroel Friedman, dem Ruzhiner Wunderrabbi, Schwiegervater des oben genannten „Tzemach Tzadik“ und Begründer der chassidischen Linie von Sadagóra.

Der Ehe der Iwaniers entstammten die Kinder Rachel, Perl, Nathan und Aron. Warum hatte die Familie die alte Heimat verlassen? Meine These ist, dass folgendes eine Rolle spielte:

• der wachsende Einfluss österreichisch-deutsch eingestellter Juden im bukowinischen Bürgertum, die die chassidische Lebensform als mittelalterliches Ghetto und die jiddische Volkssprache als Jargon ablehnten;
• die zionistische Agitation politisch links stehender Organisationen, die viele junge Leute für ein neues, eher säkulares Leben in Palästina gewannen;
• der offene oder versteckte Antisemitismus der völlig verarmten ruthenischen Landbevölkerung, die „den Juden“ die Schuld für ihre verzweifelte Lage gaben;
• die Hoffnung, im liberalen Baden mit Unterstützung der neoorthodoxen Austrittsgemeinde unbehelligt als strenggläubige Juden leben zu können.

Die gängigste Alternative wäre die Auswanderung in die USA, „di goldene medine“ gewesen.10 Die „Alija“ (Aufstieg) in das Land der Vorväter, Palästina, oder gar nach Jerusalem kam meist nicht in Betracht, da in einer strengen Sicht erst wenn der Messias gekommen und der Dritte Tempel errichtet ist, die Zeit des Exils endet.

Ein Mann wie Alter Iwanier trug immer eine Kopfbedeckung, am „Schabbes“ auch den „Schtrejml“, eine kostbare Pelzmütze, aber wohl kaum noch Kaftan, Kniehosen und Pantoffeln wie in der Bukowina oder Galizien. Die Ehefrau mag statt der traditionellen Perücke schon ein Kopftuch getragen haben. Da die Familie zu den „Charedim“ (G'ttesfürchtigen), nach heutiger Lesart: den Ultraorthodoxen zählte, wurde aber eine umfassende religiöse Erziehung und Belehrung praktiziert, wenn auch nur teilweise für Mädchen. Die „Halacha“ mit ihren zahlreichen Gesetzen prägte das Leben von klein auf. Ohne Wenn und Aber waren diese Leute „Schomrei Schabbat“, d.h. hielten den Sabbat strikt ein. Dann wurden z.B. keine Geschäfte getätigt, kein Feuer oder Licht gemacht, kein Verkehrsmittel benutzt bis Sonnenuntergang.

Sossie Iwanier starb am 24. August 1926 in Karlsruhe im Alter von 47 Jahren an Tuberkulose.12 Damals gab es noch keine Antibiotikabehandlung, so dass diese Infektionskrankheit sehr oft tödlich verlief.

Ab dem Adressbuch 1927 wird Alter Iwanier als „Adolf“ Iwanier tituliert. Dies mag ein Anpassungsversuch gewesen sein, oder auch ein Irrtum. Am 26. April 1938 starb auch er, mit 60 Jahren. Wie seine Frau zuvor wurde er in Karlsruhe auf dem orthodoxen jüdischen Friedhof am Rintheimer Feld (Haid-und-Neu-Straße) bestattet.

Auf seinem Grabstein steht:
„Ein bescheidener Chassid, rein in seinem Handeln und gradlinig auf seinen Wegen. Die Tora war Ziel seines Strebens, und aus Ehrfurcht vor G'tt waren alle seine Taten von ganzem Herzen gerichtet auf Wohltätigkeit und Güte [...] Mordechai Alter Iwanier ... starb in gutem Namen bei Einbruch der Nacht ... und wurde begraben...im Monat Nissan des Jahres 5698.“12

Rachel, verh. Steinmetz
Das älteste Kind, Tochter Rachel Iwanier, wurde am 9. Februar 1906 in Wiznitz geboren.13 Über Schulbesuch und Ausbildung in Karlsruhe ist nichts bekannt. Um 1928 heiratete sie Herzel Steinmetz.

Vier Kinder gingen aus der Ehe hervor: Sossa (Susi) geboren am 11. Juni 1929, Rejse (Rosa) geboren am 3. Juli 1931, Salman (Salomon) geboren am 20. August 1933 und Pinchas (oder Pinkas) geboren am 22. Juni 1937, alle in Karlsruhe. Die Familie wohnte im Elternhaus, Kriegsstraße 68.

Naftali Herzel Weiss, genannt Steinmetz, wurde am 2. Februar 190414 im galizischen Żydaczów (Österreich-Ungarn) geboren. Der Ort gehörte in der Zwischenkriegszeit zur polnischen Wojewodschaft Stanislawow und heißt heute ukrainisch Zhydachiv. Damals war das eine ostgalizische Kleinstadt im Großraum Lemberg. Später scheint die Familie in das kleine, damals ungarische Técső14 in Karpatenruthenien umgezogen sein, denn dies wird als sein und seiner Mutter Herkunftsort genannt.16 Auf jiddisch טעטש (Tetsch), war der an der Theiß, einem Nebenfluss der Donau, an der Grenze zu Rumänien gelegene Ort für seine Apfelplantagen bekannt. Nach 1939 hieß er tschechoslowakisch Tačovo und gehört heute als Tyachiv zur Ukraine.

Herzels Mutter war Nissel Steinmetz, sein Vater Pinchas Weiss.17 Herzel hatte ältere Brüder, Leibisch und Schraga Feiwel, sowie ältere Schwestern, Malka und Rivka.18 Es liegt nahe, dass seine Eltern sicher rabbinisch, aber nicht standesamtlich geheiratet hatten, so wurde Herzel offiziell unter dem Familiennamen der Mutter geführt.19 Sein religiöser Name lautete Raw Naftali ben-Pinchas, sein gewöhnlicher Name jiddisch/deutsch Herzel Weiss oder Steinmetz. Herzel (oder „Herschel“) als Diminutivum zu „Hirsch“ ist traditionell mit dem Namen Naftali verknüpft, nach Genesis 49:21:

„Naftali ist ein schneller Hirsch, er gibt schöne Rede“.

Der hebräische Name wird für Urkunden oder den Aufruf zur Lesung der Tora gebraucht und steht auf Grabsteinen. Der volkssprachliche Name ist für den Alltag.

Die Familie Steinmetz hatte unter ihren Vorfahren den als „Gaon“ (großen Weisen) verehrten Prager Rabbiner Ezekiel Landau (1713-1793), auch „Noda b'Yehuda“ genannt, nach seinem Werk über jüdisches Recht. Der heranwachsende Herzel besuchte sicherlich eine „Yeshiva“, vielleicht im nahe gelegenen Máramaros-Sziget.20 „Yeshivot“ gab es zahlreich in der Region zwischen Rumänien und Ungarn.

In Karlsruhe, wohin er Mitte der 1920er Jahre gekommen sein muss, war Herzel Steinmetz angestellt am hauptsächlich von „polnischen“ Juden besuchten „Bejt ha-Midrasch“ in der Adlerstraße 38. Dieses Bet- und Lehrhaus war eingerichtet in einem Obergeschoss des Hauses der Brüder Aron David und Godel Herschlikowitsch (Kurz-, Galanterie-, Textilwarengroßhandlung; vgl. den Beitrag im Gedenkbuch zu ihnen).21 Die Türen dort, so schildert es der Zeitgenosse Leon Meyer in einem Bericht, waren immer offen. Die Einrichtung wurde von Dr. Abraham Michalski (1889-1961) beaufsichtigt, der 1923-1939 Rabbiner und Vorstand der Israelitischen Religionsgesellschaft („Austrittsgemeinde“) in der Karl-Friedrich-Straße war.22
Dr. Michalski berief den jungen „Talmid Chacham“ (Toragelehrten) Herzel Steinmetz zum Rabbiner am „Bejt ha-Midrasch“ in der Adlerstraße und zum „Dayan“, d.h. Mitglied des Rabbinatsgerichts.23

Im „Bejt ha-Midrasch“ versammelten sich morgens und abends „einige zehn Männer“ zum Gebet.24 Sonst wurde „gelernt“, also im aschkenasischen Hebräisch studiert und in der judendeutschen Volkssprache diskutiert, z.B. „Mischnajot“, talmudische Lehrsätze. „eine Stunde vor Mincha [=Mittagsgebet] gab dort Raw Steinmetz oder Mosche Semmelmann s.A. einen Gemara-Schiur25, an welchem 20 bis 30 Erwachsene teilnahmen“, so berichtete der Beteiligte Leon Meyer später.26

In orthodoxen „Batei Midrasch“ hielten sich meist nur Männer auf, während die Frauen Familienarbeit, Haushalt und Geschäft zu versehen hatten, oft sehr früh verheiratet und wenig gebildet. Im Israelitischen Gemeindeblatt 1933, Ausgabe B Nummer 12, finden wir in den Veranstaltungshinweisen der – von Simon Plachzinski geleiteten – Ortsgruppe des religiös-zionistischen „Misrachi“ und seiner Jugendorganisation „Zei're Misrachi“:
„Donnerstag 20:30-22 Uhr: Schiur Schulchan-Aruch. Leitung: Herr H. Weiß-Steinmetz.“
Solch ein wöchentlich stattfindender Unterricht behandelte die im „Schulchan Aruch“ erläuterten religiösen Vorschriften der Halacha für den Alltag.

Die Adressbücher 1929-193327 führen Herzel Steinmetz als Rabbiner auf. Er hat offenbar 1938 Deutschland verlassen, vielleicht bereits nach den Niederlanden, um die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Mit den vier Kindern übersiedelte jedenfalls Rachel Steinmetz nach dem niederländischen Den Haag, wo sie sich am 20. Dezember 1938 unter der Adresse Statenlaan 44 anmeldeten. Nach weiteren Umzügen (1. Juli 1939: Scheldestraat 65, 22. Juli 1940: Scheldestraat 77) zogen sie im Oktober 1940 nach Enschede, Willemstraat 7.28 Herzel Steinmetz ist erst in dieser Zeit in Enschede nachgewiesen; als Rabbiner war er in der dortigen Hachschara-Einrichtung der orthodoxen Vereinigung "Agudas Yisroel“ tätig.29 Diese Organisation bereitete Jugendliche auf die Aliya vor, und zwar im Sinne eines toratreuen Lebens im Heiligen Land.

Als Vergeltung für einen angeblichen Sabotageakt (das Durchtrennen von Kabeln der Wehrmacht) verhaftete die Sicherheitspolizei der deutschen Besatzer – neben 50 so genannten Kommunisten – am 14. September 1941 etwa 100 jüdische Männer der Region Twente, darunter 69 aus Enschede. Die Männer wurde in der Turnhalle eines dortigen Gymnasiums festgehalten und nach dem österreichischen KZ Mauthausen bei Linz an der Donau deportiert.30 Herzel Steinmetz wurde dort am 7. Oktober 1941 ermordet, kurz zuvor oder danach alle übrigen.

Eine Gedenktafel auf dem orthodoxen jüdischen Friedhof Haid-und-Neu-Straße erinnert an „Rabbi Naftali Herzel Weiss, genannt Steinmetz, Schwiegersohn des hier Begrabenen. Aus Ungarn kam er hierher, die Lehrweisheit in seiner Hand war reich und umfassend. Allem voran ging seine Frömmigkeit. Er gab hier Anweisungen im Gericht unserer Gemeinde [...].“31
Am 1. April 1942 zog die verwitwete Mutter mit ihren Kinder wieder nach Den Haag, Scheldestraat 77 zurück, vermutlich zu ihrer dort wohnenden Schwester Perl. Von dort aus wurden Rachel und die Kinder am 17. September 1942 nach dem Durchgangslager Westerbork deportiert.32 Am 28. September ging ihr Transport von Westerbork nach dem Osten. Ihre Namen sind im Joodsmonument – dem niederländischen Gedenkbuch für die ermordeten Juden – dokumentiert. Am 1. Oktober 1942, d.h. direkt nach ihrer Ankunft, sind Rachel Steinmetz und die Kinder im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet worden.33 Sossa war 13, Rejse war elf, Salman war neun und Pinchas fünf Jahre alt.

Wenn es so verlief wie in ungezählten Fällen, waren sie mit Schmähworten und Stockschlägen an der „Rampe“ aus den Waggons getrieben, ihr Gepäck von Häftlingen auf große Haufen geworfen worden; dann hatten sich alle in Schlangen aufstellen müssen. An die Reihe gekommen, wurden die Neuankömmlinge von einem SS-Offizier bzw. -Arzt mit einem Stöckchen nach links (zur Desinfektion, ins Lager) gewiesen, oder nach rechts zu den Gaskammern und Krematorien, in den Tod. Mitunter von der Laune des Personals abhängig, war dies doch das Schicksal der meisten Mütter mit kleinen Kindern wie auch älterer, kranker oder einfach erschöpft aussehender Menschen.

Perl, verh. Brodmann
Die zweitälteste Tochter, Perl Iwanier, wurde am 14. April 1908 in Wiznitz geboren.
Sie besuchte eine Mittelschule und die Handelsschule in Karlsruhe und arbeitete im Geschäft des Vaters als Buchhalterin und Verkäuferin.
1935 emigrierte Perl nach der holländischen Hafenstadt Rotterdam. Im selben Jahr heiratete sie dort Samuel (Schmuel) Brodmann, geboren am 28. August 1910 im galizischen Bochnia (Österreich-Ungarn, später: Polen). Seine Eltern waren David Brodmann und seine Frau Fanny.

Zwei Kinder kamen in Rotterdam zur Welt: David, geboren am 22. März 1936, und Sossie, geboren am 18. April 1938. Vater Samuel war „Schochet“ (Schlachter) und bis 1940, der Zeit des Einmarschs der deutschen Besatzer, Inhaber der väterlichen Wurst- und Konservenfabrik und eines koscheren Restaurants. Im September 1940 zog die Familie nach Den Haag, Scheldestraat 77 um. Ab Mai 1942 mussten alle über Sechsjährigen den gelben Stern („gelben Fleck“) tragen, dies traf daher auch schon den kleinen David. Über das Schicksal seines Vaters Samuel Brodmann ist wenig bekannt. Am 19. August 1942 wurde er mit „Transport 21“ vom französischen Durchgangslager Drancy bei Paris aus nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er am 30. September des Jahres umkam.34

Im Frühjahr 1943 wurde Perl in Den Haag mit den Kindern verhaftet und am 13. April nach dem Kamp Vught (Brabant) verschleppt. Die deutschen Besatzer nannten es „Konzentrationslager Herzogenbusch“ nach der Nachbarstadt 's-Hertogenbosch. Dort musste Perl Brodmann schwer arbeiten. Am 7. Juni kamen die drei „auf Transport“ nach dem Durchgangslager Westerbork, wo sie bis 18. Januar 1944 blieben, bis zur Deportation nach Theresienstadt (Terezín) im deutsch besetzten „Böhmen und Mähren“. Am 20. Januar kamen sie dort an und wurden mit anderen Menschen aus Holland in der „Hamburger Kaserne“ untergebracht. Schwer erkrankt, war Perl Brodmann nach Aussage einer Zeugin einmal bereits auf einer Bahre in der „Schleuse“, dem Abfertigungsraum für die Ankommenden und Abgehenden, kehrte dann aber wieder zurück, da der anstehende Transport „voll“ gewesen sei.35

Bei Kriegsende wurden Perl und ihre Kinder in Térezin befreit und kehrten nach Den Haag zurück. David und Sossie Brodmann zählten zu den kaum mehr als 100 Kindern, die dort überlebt hatten, von insgesamt etwa 15.000.36

Von 29. Dezember 1945 bis 12. Februar 1946 war ihre Mutter in Den Haag im Ziekenhuis (Krankenhaus).37 Später heiratete die Witwe den 1906 in Krakau geborenen Kriegsblinden Mojzesz Josef Silbiger. Ein Kind, Debora, wurde am 26. September 1950 geboren. Da ihr Mann kaum arbeitsfähig war, führte hauptsächlich Perl das kleine Textilgeschäft. Die heranwachsende Tochter Debora half bald mit und schrieb die Geschäftspost, die der Vater diktierte. Am 1. August 1963 starb Perl Silbiger nach langer Krankheit in Den Haag.

Tochter Sossie Salomon, geborene Brodmann, lebte 1967 im britischen Gateshead bei Newcastle. Sohn David Brodman war ab 1963 Oberrabbiner und „Dayan“ in Amsterdam. Er machte 1973 Aliya und leitet heute (2008) ein orthodoxes Studienzentrum im israelischen Savyon. Z.B. bringt er israelischen Kindern einen biblischen Garten und fast vergessene Festtagsrituale nahe. Raw David Brodman ist für die jüdisch-islamische Aussöhnung in Erscheinung getreten und ist ein Repräsentant des Israelischen Oberrabbinats.

Nathan
Über Nathan Iwanier liegt fast keine Information vor. Er wurde in Wiznitz geboren und starb in seinen Dreißigern, um 1944, in Davos (Schweiz) an einer Krankheit.38

Aron
Der Jüngste, Aron Iwanier, wurde am 19. November 1911 in Waszkoutz am Czeremosz (Österreich-Ungarn) geboren. Das Schtetl (jiddisch/deutsch: Waschkowitz) lag ca. 30 km von Wiznitz entfernt in der nördlichen Bukowina. In der Zwischenkriegszeit hieß der Ort rumänisch Văşcăuţi und heißt heute Vashkivtsi (Ukraine).

Nach Schulbesuch in Karlsruhe arbeitete Aron im väterlichen Geschäft, das er um 1935 - zumindest formal - übernahm.39 Die Wohnung mit fünf Zimmern im 1. Obergeschoss zeigte nach zeitgenössischer Schilderung einigen Wohlstand mit „herrschaftlicher“ Möblierung, großen Bücherschränken mit Judaica, mit Silber und Porzellan.40 Das Geschäft (Groß- und Einzelhandel in Manufakturwaren, Ausstattung, Stoffen) war wie zu Zeiten des Vaters Teil der Wohnung, das Haus überstand den Krieg, ist aber wegen der Altstadtsanierung der 1970er Jahre und dem Bau der Fritz-Erler-Straße an dieser Stelle verschwunden.

Aron heiratete um 1937 Auguste („Gustel“), geborene Waldmann aus Frankfurt am Main, Tochter des Buchhändlers Selig Wolf Waldmann und seiner Frau Sprinze.

In der Pogromnacht (9./10. November 1938) wurde Aron Iwanier von Uniformierten aus dem Bett geholt und schwer misshandelt, die Wohnung verwüstet.41 Der Handel mit seinen Waren wurde ihm verboten. Unter dem Vorwand, er hätte gegen dieses Verbot verstoßen, sollte er verhaftet werden. Von seiner im Geschäft arbeitenden Frau gewarnt, flüchtete er allein zunächst zu Bekannten aus Polen, dann nach einem Telefonat mit seiner Schwester Perl in Rotterdam über Köln nach Holland und später weiter nach England.

Am 3. Mai 1939 kam Schewa (auch: Schewe, Kurzform für Batschewa), ihr einziges Kind, in Frankfurt a.M. zur Welt, wohin Auguste Iwanier offenbar zurück gekehrt war.

Am 22. November 1941 wurden Mutter und Tochter im „3. Transport“ aus Frankfurt mit fast 1.000 Personen vorgeblich „nach Riga“, so lange Zeit gedacht, nach heutigen Erkenntnissen aber nach Kaunas/Kowno in Litauen deportiert und dort vom Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A in Fort XI am Stadtrand erschossen.42

Im August 1947 heiratete der in England lebende, herzkranke Witwer die am 4. Mai 1921 in Berlin geborene Beatrix, geborene Goldkorn, Tochter des Rechtsanwalts Abraham Goldkorn. Am 22. Januar 1951 kam Mordechaí Montague zur Welt, am 20. April 1953 Nathan Naftalie, beide in Salford bei Manchester. Am 14. März 1958 starb ihr Vater Aron in Salford an seinem Herzleiden.

Mordechai Montague studierte am Manchester Talmudical College, später noch Drucktechnik am Manchester Polytechnic. Sein Bruder Nathan Naftalie studierte am selben Talmudical College und in Gateshead und wurde Rechtsanwalt.

Nach dem verbreiteten jüdischen Brauch, Kinder nach einem verstorbenen Angehörigen meist der vorletzten Generation zu benennen, verweist der Name des älteren Bruders, Mordechai, auf den ehrwürdigen Großvater aus der Bukowina, auf dessen Grabstein es heißt:

„Möge das Gedenken an den Gerechten zum Segen sein“.43

(Christoph Kalisch, August 2008)



Anmerkungen:
[1] Im Jahr 1900: 4738 zumeist jüdische Bürger lt. Meyers Konversationslexikon 5.Aufl. 1909: http:www.zeno.org/Meyers-1905/A/Wi%C5%BAnitz; jüd. Bevölkerung lt. http:www.jewishgen.org (unter: Vizhnitsa, Ukraine) und Verbreitungskarte 1910 vgl. http:en.wikipedia.org/wiki/Image:Bukovina_1910.jpg .
[2] Ippens Provinz-Adressbuch, Bezirk Wiznitz (1895), S. 38 vgl. www.literature.at (ALO) .
[3] Später Teil von Czernowitz; http:
bukowina.info/Land.html .
[4] Angaben von Raw David Brodman, 15.7.08, E-Mail .
[5] http:www.thejewishpress.com/displaycontent_new.cfm?contentid=20792&contentname=My%20Machberes&sectionid=14&mode=a&recnum=0
[6] Nach 1945 umbenannt in Mendelssohnplatz 3, später abgerissen.
[7] In dieser Richtung erinnert sich Walter Bingham.
[8] Die Sterbeurkunde nennt „Sofie“, der Grabstein hatסאסי („Ssassie“ oder „Ssossie“).
[9] Ze'ev = Wolf. Grabstein auf dem orthodoxen Friedhof Haid-und-Neu-Straße.
[10] www.ellisisland.org. So findet sich eine Familie Iwanier aus Wiznitz, die 1902 über Antwerpen nach New York ausreiste: die 30-jährige Mutter Feige mit den Kindern Schimon (9), Elke (8), Mojsche Leib (7), Aron (5) und Schulem (2). Vater Chaim Iwanier war bereits dort.
[11] . Wiedergutmachungsakten GLA 480/...
[12] Freie, gekürzte Übersetzung.
[13] Identität als Tochter von Mordechai I. und Frau von Herzel S. durch Gedenkblätter von Yaakov Berger bestätigt.
[14] Ohne Datum in Geburtenregister Poln. Staatsarchiv Warschau (jewishgen.org), 2.2.1904 in Totenbuch Mauthausen und danach in joodsmonument.nl; in Gedenkblatt bei yadvashem.org sogar ca. 1906.
[15] Bis 1919 zu Österreich-Ungarn. Vgl. weiteres unter http:
newsgroups.derkeiler.com/Archive/Soc/soc.genealogy.jewish/2006-03/msg00467.html bzw.
http:newsgroups.derkeiler.com/Archive/Soc/soc.genealogy.jewish/2006-04/msg00075.html .
[16] Polnisches Staatsarchiv AGAD, Warschau Fond 300: Zydaczow Geburtenregister 1887-1904, zit nach jewishgen.org JRI-Poland. Karpathenruthenien = Transkarpatien.
[17] http:
newsgroups.derkeiler.com/Archive/Soc/soc.genealogy.jewish/2006-03/msg00492.html
und Geburten in Zydaczow, 1877-1904, Agad Archive, Jewish Record Indexing/jewishgen.org sowie auf Gedenktafel am Grab Mordechai Alter Iwanier
[18] Vgl. YadvaShem-Datenbank und jewishgen.org.
[19] Herzl Weiss und Rachel Weiss (sic!) in Gedenkblättern, YadVashem, 1957.
[20] Anon.: Die osteuropäischen Jeschivoth. In: Zentralblatt für die Israeliten Badens und der Pfalz, 2. Jg. 3.1932, S. 6.
[21] http:users.pandora.be/holocaust.bmb/eng/Herschen.htm und Gedenkbuch der Karlsruher Juden. Wohl nicht vor 1925 vgl. dort.
[22] Geb. 1889 Berlin, gest. 1961 Israel, http:
www.alemannia-judaica.de/rabbiner_baw.htm .
[23] Angabe von Raw David Brodman, E-Mail 15.7.2008.
[24] Leon Meyer, vgl. 8/StS 13/492 vgl. Werner, Juden in Karlsruhe:597.
[25] Unterweisungsstunde in der (schriftlich fixierten) Auslegung der (mündlichen) Mischna; beides zusammen ergibt den Talmud.
[26] Leon Meyer, a.a.O.
[27] d.h.: Stand Herbst 1928 bis Oktober 1932.
[28] E-Mail Kees Ijspelder, Stadt Den Haag, 25.10.2007
[29] Auch: Agudat Israel. Auskunft Raw David Brodman, E-Mail 15.7.2008. - Vielleicht im (Anfang 1938 eingerichteten) Haus Haimer’s Esch im nahegelegenen Dorf Twekkelo ?
[30] Van Zuylen, L.F.: Palestinepioneers in Twente 1933-1945. Enschede, o.J., S. 5 und 63.
[31] Freie und gekürzte Übersetzung der nach dem Krieg angebrachten Tafel.
[32] http:www.joodsmonument.nl/listpublish.php?q_mm=steinmetz und Auskunft von Herinneringscentrum Kamp Westerbork, José Martin, 8.10.2007 sowie Datenbank YadVashem.
[33] http:
www.joodsmonument.nl/person-465736-en.html , http:www.joodsmonument.nl/person-465736-en.html und http:www.bundesarchiv.de/gedenkbuch (dort nur die Kinder).
„Herzels Frau und vier Kinder sind am 17.9.1942 im Lager eingetroffen. Ihre letzte Adresse war Scheldestraat 66 [...] in Den Haag. Rachel wird dann schon als Witwe bezeichnet. [...] Rachel und ihre Kinder wurden am 28.9.1942 von Westerbork aus nach Auschwitz deportiert, alle sind am 1.10.1942 ermordet worden. Die Daten habe ich der Kartei des Jüdische Rates und den Deportationslisten entnommen. Die Kartei stammt vom Archiv des Roten Kreuzes in Den Haag.“ (Mitteilung José Martin, Museum Kamp Westerbork, 2007)
[34] Vgl. http:*mms.pegasis.fr/jsp/core/MmsRedirector.jsp?id=76730&type=VICTIM, Le mémorial de la déportation des Juifs de France, Serge und Beate Klarsfeld, Paris 1978 und Yad Vashem Datenbank
[35] vgl. Wiedergutmachungsakten GLA 480/...
[36] Angabe Rabbi Brodman (Savyon), Video
[37] Alle Angaben aus Wiedergutmachungsakten GLA 480/...
[38] Diese Angaben von Nathan Naftalie Iwanier, Mail vom 18. Januar 2008. Serge und Beate Klarsfeld sowie das Gedenkbuch des Bundesarchivs nennen einen Nathan Iwanier, Kaufmann, geb. 2. Mai 1910 in Wiznitz, der am 12.11.1943 aus Marseille nach Drancy kam und am 17.12.1943 mit Transport 63 von dort nach Auschwitz deportiert wurde und umkam.
[39] Die Firma Iwanier in Karlsruhe erlosch 1939, also kurz nach dem Tod des Vaters.
[40] Darstellung aus Akten GLA 480/13894 u.a.; das Haus überstand den Krieg, ist aber wegen der Altstadtsanierung der 1970er Jahre und den Bau der Heinrich-Hübsch-Schule an dieser Stelle verschwunden
[41] Darstellung aus Akten GLA 480/13894 u.a.
[42] Alfred B. Gottwaldt und Diana Schulle, Die "Judendeportationen" aus dem deutschen Reich 1941 – 1945. Eine kommentierte Chronologie. Wiesbaden 2005, S. 106f.
[43] זצ'ל = Akronym, lies: „satzál“.