Bayer, Etka

Nachname: Bayer
Vorname: Etka
geborene: Rubinstein
Geburtsdatum: 24. Mai 1899
Geburtsort: Zgierz (Russland, heute Polen)
Familienstand: verheiratet
Familie: Ehefrau von Karl B.; Mutter von Sigmund (1919-1997)
Adresse:
Tullastr. 38,
Waldhornstr. 28, a,
Kaiserstr. , ?
Beruf:
Kauffrau , Inhaberin eines Herrenkonfektionsgeschäfts
Emigration:
1933 nach Frankreich (Frankreich) , Rouen
Deportation:
9.10.1942 verhaftet und am 11.10. nach Drancy ,
4.11.1942 von Drancy nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)

Biographie

Etka Bayer und Familie

Etka Rubinstein wurde am 24. Mai 1899 in Zgierz geboren, einer kleinen polnischen Stadt in der Nähe von Łódź, die damals zum Russischen Kaiserreich gehörte. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits als Kind mit ihren Eltern Mojzesz und Dora, geborene Zacz, vor den russischen Pogromen floh oder erst als junge Frau nach Deutschland kam. In Süddeutschland lebte sie spätestens ab 1919: Am 9. Mai heiratete sie in Radolfzell (Baden) den 1896 in Nenzingen geborenen Kaufmann Karl Bayer. In dieser Kleinstadt am Bodensee kam auch ihr Sohn Sigmund am 9. Juli 1919 zur Welt. Ab 1926 lebten die Bayers in Konstanz und im Oktober 1930 zogen sie nach Karlsruhe. Dort wohnten sie zunächst in der Tullastraße 38, dann in der Waldhornstraße 28a; nach späteren Angaben des Sohnes waren sie zuletzt in der Kaiserstraße wohnhaft. Etka Bayer war Inhaberin eines Herrenkonfektionsgeschäftes. Über die Zeit in Karlsruhe liegen uns leider keine weiteren Informationen vor.

Im Sommer 1933 verließ Etka Bayer mit Karl und Sigmund das nationalsozialistische Deutschland und emigrierte nach Frankreich. Am 17. Juli ließen sich alle drei in Rouen (Seine-Inférieure, Normandie) nieder. Die Gründe für die Wahl dieser Stadt sind nicht bekannt, aber in den Jahren zuvor hatten sie sich – nach den Eintragungen in Etkas Reisepass – mehrmals in Frankreich aufgehalten und dort möglicherweise Kontakte geknüpft. In der normannischen Handelsstadt baute sich die Familie eine neue Existenz auf. Dort wohnte sie 4 rue des Carmélites. Etka verkaufte Hemden auf den Märkten und ihr Mann Karl („Charles“) half ihr dabei; von dem jungen Sigmund („Simon“), der 1936 noch Schüler war, hieß es später, dass er nicht arbeitete und sich um den Haushalt kümmerte. Zunächst waren die Bayers als deutsche Staatsbürger erfasst. Nach Erlass eines entsprechenden Dekrets der französischen Volksfrontregierung stellten sie 1936 einen „Antrag auf Anerkennung als Flüchtling aus Deutschland“, der positiv beschieden wurde. Als Grund für ihr Exil gab Etka Bayer schlicht „à cause d’Hitler“ (wegen Hitler) an. In einem späteren Schreiben erklärte sie, dass ihr Mann „den Hitlerschen Verfolgungen hatte entkommen müssen“. In Deutschland waren sie als Katholiken gemeldet, aber Etka und höchstwahrscheinlich auch Karl (siehe weiter unten) waren jüdischer Herkunft. Als Konvertiten oder selbst als Kinder von Konvertiten konnten sie tatsächlich Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns werden.

Kurz nach Kriegsbeginn im September 1939 äußerte Etka Bayer gegenüber den französischen Behörden den Wunsch, ihre polnische Staatsangehörigkeit wieder aufzunehmen, denn als „feindlichen Ausländern“ drohte ihr und ihrem Ehemann ungeachtet ihrer Verfolgung durch die Nazis die Internierung in einem französischen Lager. Da ihr Sohn sich freiwillig zur französischen Fremdenlegion gemeldet hatte, um am Krieg gegen Deutschland teilzunehmen, wurden sie aber offiziell davon befreit. Zwischen Juni und August 1940 hielt sich Etka Bayer in der Vendée an der Atlantikküste auf: Sie war sicherlich mit Karl während des großen französischen Exodus vor den deutschen Truppen geflohen. Sie zogen aber nach Rouen zurück, das nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 zur besetzten Zone gehörte. Nach Beginn der Besatzungszeit galten sie als staatenlos.

Nach Verkündung des ersten Judenstatuts durch das Vichy-Regime wurden Etka und Karl Bayer im Oktober 1940 als Juden registriert. Laut diesem „Statut des Juifs“ galt als Jude eine Person, „die von mindestens drei Großeltern der jüdischen Rasse oder von nur zwei Großeltern der jüdischen Rasse abstammt, wenn der Ehepartner selbst von zwei Großeltern jüdischer Rasse abstammt“. Letzteres traf vermutlich auf Karl Bayer zu, dessen Eltern in Deutschland schon als Katholiken gemeldet waren, aber vielleicht ein Elternteil selbst konvertiert war. Diese Nachverfolgung gelang jedoch noch nicht. Die Bayers waren im besetzten Frankreich bald antijüdischen Diskriminierungen ausgesetzt. Im antisemitischen Klima der Zeit erhielt die deutsche Feldkommandantur eine Anzeige „gegen den Juden Bayer […], der angeblich auf unvorschriftsmäßigem Wege eine große Anzahl von Frauen- und Männerkleidungsstücken veräußert“ habe. Die Denunziation blieb folgenlos, weil Etka und Karl Bayer schon nicht mehr in Rouen waren.

Bereits am 28. November 1940 wurden sie von den deutschen Besatzungsbehörden verhaftet. Aus einem schnell hingekritzelten Brief, den Etka einem Mitarbeiter der Präfektur von Rouen zukommen ließ, um ihm ihr Unverständnis über ihre Situation mitzuteilen und ihn um Hilfe zu bitten, geht hervor, dass sie sich Anfang Dezember im Quarantänezentrum des Hôpital d’Orsay nahe Paris unter französischer Aufsicht befanden. Anschließend wurden sie in die Vauban-Kaserne von Besançon in Ostfrankreich überführt, die als deutsches Internierungslager für ausländische Zivilisten diente. Dort blieben Karl und Etka bis Mitte März 1941 inhaftiert, durften nach ihrer Entlassung aber nicht nach Rouen zurück. Sie waren in den strategischen Küstengebieten „unerwünscht“ und wurden als Zwangsevakuierte einem Département des „Landesinneren“ zugewiesen. So gelangten sie nach Burgund und kamen am 17. März 1941 in der Stadt Avallon (Yonne) an, die sie nicht verlassen durften und in der sie sich einer täglichen Kontrolle unterziehen mussten. Dort lebten sie im „Hôtel de la Vallée“, 2 Pavé de Cousin-le-Pont. Anders als in Rouen ließ sich Karl Bayer in Avallon nicht als Jude erfassen, während Etka als Jüdin registriert wurde und später den gelben Stern tragen musste. Bald gelang es Karl, sich als Koch bei der deutschen Feldgendarmerie anstellen zu lassen. Es bleibt dahingestellt, ob er damit hoffte, einer späteren Verfolgung zu entkommen, oder ob er diese Tätigkeit schlicht aus Überlebensgründen annahm, da er deutschsprachig war.

Das Ehepaar versuchte verzweifelt, in die Normandie zurückzukehren, und reichte entsprechende Anträge ein, die jedoch abgelehnt wurden. Es liegen unter anderem ärztliche Atteste vor, in denen es heißt, dass das harte burgundische Klima für Etkas schwache Gesundheit, die an akuten Magen-Darm-Beschwerden litt, nicht geeignet sei. Selbst der deutsche Kreiskommandant von Avallon bestätigte in einem eher wohlwollenden Schreiben, dass sie „den Eindruck einer sehr kranken Person“ machte. Aus den Akten geht hervor, dass Etka Bayer im Mai 1941 Avallon ohne Genehmigung verließ, aber nach kurzer Zeit freiwillig zurückkam; die Behörden vermuteten, dass sie nach Rouen gereist war, während ihr Ehemann angab, dass sie sich in Paris einem chirurgischen Eingriff hatte unterziehen müssen. Ob der Sohn Sigmund nach seiner Demobilisierung wieder in der Normandie war und seine Eltern zu ihm zurückwollten, ist nicht bekannt. Er selbst floh im September 1942 in die Schweiz. Es ist nicht überliefert, ob er überhaupt noch Kontakt zu seinen Eltern hatte.

1942 begann im besetzten Frankreich die Massendeportation von Juden in die Vernichtungslager. Am 9. Oktober 1942 wurde Etka Bayer von der französischen Gendarmerie auf Befehl des Sicherheitsdiensts der SS (Sipo-SD) bei der Razzia von 37 ausländischen und staatenlosen Juden des Départements Yonne festgenommen. Laut den vom Regionalpräfekten übermittelten Anweisungen mussten die Verhafteten Proviant für drei Tage, Decken, warme Wäsche sowie Arbeitskleidung und -stiefel mitnehmen – was die Illusion eines Arbeitseinsatzes aufrechterhalten und das wirkliche Ziel der Deportation verschleiern sollte. Zusammen mit den anderen Opfern der Razzia wurde Etka in das Gefängnis von Auxerre gebracht und zwei Tage später mit der Bahn unter Gendarmeriebegleitung in das Sammel- und Durchgangslager Drancy überführt. Am 4. November 1942 wurde sie mit dem Transport Nr. 40 nach Auschwitz deportiert, der am 6 November ankam, wo sie wahrscheinlich sofort in die Gaskammer geschickt wurde. Von den 1.000 Jüdinnen und Juden dieses Transportes überlebten nur 4. Das genaue Datum von Etkas Tod ist nicht bekannt, in Frankreich wurde es amtlich auf den 9. November 1942 festgelegt (nach geltendem Recht fünf Tage nach der Deportation).

Dass Karl Bayer selbst nicht verhaftet wurde, ist auf zwar belegte, jedoch nicht ganz nachvollziehbare Umstände zurückzuführen. Im Juni 1943 informierte die Abteilung für jüdische Angelegenheiten der Präfektur den Chef der Sipo-SD, dass anlässlich einer Kontrolle festgestellt worden sei, dass seine Papiere mit dem Stempel „Juif“ (Jude) versehen seien. Erst Monate später erteilte die Sipo-SD den Befehl, Karl Bayer festzunehmen. So wurde auf französischer Seite seine Verhaftung und Überstellung nach Drancy vorbereitet. Die deutsche Feldgendarmerie, bei der er noch immer beschäftigt war, weigerte sich jedoch, ihn am 24. März 1944 an die französischen Gendarmen auszuliefern. Daraufhin forderte die Sipo-SD die französischen Behörden auf, von weiteren Maßnahmen gegen ihn abzusehen, da er anders als seine Frau nicht Jude sei. Aus dem Schriftwechsel zwischen Präfektur, Feldkommandantur und Sipo-SD geht aber nicht hervor, ob Karl entsprechende Nachweise erbracht und warum seine potenzielle „arische Abstammung“ (nach rassistischen NS-Kriterien) so spät anerkannt wurde.

Im August 1944 wurde Avallon befreit. Ob Karl, diesmal als Angestellter der Wehrmacht, wieder fliehen oder sich verstecken musste? Er konnte vermutlich erst später in die Normandie zurückkehren und seinen Sohn Sigmund wiedersehen. Wir wissen auch nicht, wann dieser aus der Schweiz zurückkam. In der Zwischenzeit hatte er geheiratet: Seine Frau Renée, geborene Chainiaux (1923-1994), stammte aus Namur in Belgien und ihre gemeinsame Tochter Claire war am 5. Februar 1944 in Schaffhausen, also während des Schweizer Exils ihres Vaters, zur Welt gekommen. Nach dem Krieg lebten sowohl Karl als auch Sigmund Bayer wieder in Rouen. Eine Rückkehr nach Deutschland, dem Land der Täter, kam für sie nach der Ermordung ihrer Ehefrau bzw. Mutter wahrscheinlich nicht in Frage. Sie hatten wohl längst – und trotz der Vichy-Zeit – das Exilland Frankreich als ihre neue Heimat angenommen. 1953 wurde Sigmund Bayer, der in Rouen als Kaufmann arbeitete, französischer Staatsbürger.
Auf dem 1950 eingeweihten Denkmal der Synagoge von Rouen zur Erinnerung an die ermordeten Juden der Stadt steht der Name von „Mme Bayer Isaac“ [sic]. Nach unseren Kenntnissen über die deportierten Menschen aus Rouen kann es sich dabei nur um Etka Bayer handeln, die in Frankreich also nicht völlig vergessen wurde. Etkas Enkelin Claire, die selbst einen Großteil ihres Lebens in Rouen verbracht zu haben scheint, müsste noch am Leben sein, aber ich konnte leider nicht mit ihr in Kontakt treten.

(Corinne Bouillot, Université de Rouen, Mai 2022)


Quellen und Literatur:
Generallandesarchiv Karlsruhe: 480/27915 und 27916 ;
Mémorial de la Shoah (Paris): F/9/5678;
Service Historique de la Défense (Caen): 21P422313;
Archives départementales de Seine-Maritime: 3352W2, 22W/Z11606, 51W31, 6M726; Archives départementales de l’Yonne: 1W160 und 161, 1078W490;
Françoise Bottois, De Rouen à Auschwitz: Les Juifs du „Grand Rouen“ et la Shoah, Nice, 2015; Jean Rolley, „La déportation des Juifs de l’Yonne“, in Yonne mémoire Nr. 25, Auxerre, Mai 2010;
memoiredeshommes.sga.defense.gouv.fr;
ushmm.org; deportation.yadvashem.org.;