Kühl, Elisabeth

Nachname: Kühl
Vorname: Elisabeth
abweichender Name: Busemann, gesch.
geborene: Ganz
Geburtsdatum: 30. November 1895
Geburtsort: Mainz (Deutschland)
Familienstand: geschieden
Eltern: Eugen und Margaretha, geb. Frank, G.
Familie: geschiedene Ehefrau von Karl B.; geschiedene Ehefrau von Herbert K.; Mutter von zwei Kindern; Schwester von Rudolph Alexander (1898-1962)
Adresse:
1932/33: Kriegsstr. 290,
1933/34: Bannwaldallee 60, 2.5.1934 nach Ettlingen verzogen,
1938: Akademiestr. 49, wieder zugezogen; 20.10.1938 nach St. Gallen, Schweiz, verzogen
Beruf:
Krankenschwester
Deportation:
um 1941 im Lager Flachsröste Lohhof (Deutschland) , Flucht,
6.5.1942 verhaftet in Innsbruck,
5.6.1942 in das KZ Ravensbrück (Deutschland),
später nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)
Sterbedatum:
11. Oktober 1942

Biographie

Elisabeth Kühl

Das Stadtarchiv und das Generallandesarchiv Karlsruhe bewahren zahlreiche Doppel der Kennkarten vom Dezember/Januar 1938/39 sowie Passanträge jüdischer Karlsruherinnen und Karlsruher aus den 1930er Jahren auf. Die darauf befindlichen Fotos sind oft schnell und einheitlich gemachte Porträts für den amtlichen Zweck. Auf den Betrachter wirken sie häufig traurig, denn die Menschen darauf blicken ernst, nie heiter. Eventuell eher eine Betrachtungsweise, die vom folgenden Schicksal dieser Menschen weiß? Ein Porträt fällt ganz aus dem Rahmen: Es zeigt eine Frau mittleren Alters, ernst, wie gewöhnlich, aber ihre Kleidung - Uniform - hebt sie heraus. Unter einem schwarzen Umhang sowie weißer Schürze schaut eine weiß-(blau?)-gestreifte Bluse hervor, am Kragen mit einer Brosche verschlossen, das Haupt mit den nach hinten gekämmten Haaren wird am hinteren Schopf von einem schwarzen Haubenüberwurf bedeckt. Zweifelsohne, das Porträt einer Krankschwester in ihrer Ausgeh-Tracht. Tatsächlich gibt Elisabeth Kühl als Beruf Krankenschwester an. Auf dem schwarz-weiß Porträt sind ihre blauen Augen und das blonde Haar nicht erkennbar, die sie gemäß amtlicher Personenbeschreibung hatte.

Die Überlieferung zu Elisabeth Kühl war von Anfang an schmal, doch bestand Hoffnung, über ihren Berufsweg eventuell Aufschlüsse zu erlangen. Dies war dann aber nicht so. Tatsächlich erwuchsen beim Recherchieren immer neue Fragen, die meist unbeantwortet bleiben.

Die Erwartung, dass die Brosche einen Anhalt zur Zuordnung liefern würde, da Krankenschwesternbroschen meist die Herkunft, Ausbildungsstätte oder die Schwesternschaft bezeichnen, erfüllte sich nicht. Der vergrößerte Ausschnitt zeigt die Lutherrose, ein Symbol aus der evangelisch-lutherischen Kirche wie auch der Diakonie - wie das Hilde-Steppe-Archiv in Frankfurt informierte - und die Inschrift: „Deutscher Luthertag, 10. November 1933“. Die besondere Schwesternkleidung könnte Elisabeth Kühl ebenso als Diakonieschwester ausweisen, wie im Hilde-Steppe-Archiv angenommen wurde, wie auch als Angehörige einer Schwesternschaft vom Roten Kreuz. Der so genannte Luthertag am 10. November 1933 zum 450. Geburtstag des Reformators wurde in Deutschland vielerorts mit pompösen Feiern abgehalten, allerdings aus organisationspolitischen Gründen verlegt auf den 19. November, auf denen allenthalben die Verbindung Martin Luthers zu Adolf Hitler hergestellt wurde, ebenso wurde dabei wiederholt die christlich motivierte Judenfeindschaft durch Luthers markante Auslassungen hervorgehoben. Was hierüber die Gedanken von Elisabeth Kühl waren?


Elisabeth Kühl war Protestantin, die Eltern waren vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, erst die Nationalsozialisten kategorisierten sie gemäß ihren Rassebestimmungen als Jüdin.
Geboren wurde sie am 30. November 1895 in Mainz als Elisabeth Ganz, Tochter von Kaufmann Eugen Ganz (geboren 8. Februar 1869 in Mainz, gestorben 6. Oktober 1940 in Wien) und Margaretha, geborene Frank (geboren 27. August 1873 in Köln, Sterebedatum unbekannt). Es gab noch einen Bruder Rudolph Alexander, geboren am 21. Januar 1898 in Mainz. Er emigrierte nach 1933 nach Frankreich, überlebte die Verfolgung und verstarb 1962. Die elterliche Familie verzog nach Wiesbaden, wann genau, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, spätestens 1908/09 gemäß dem dortigen Adressbuch. Sie wohnten in der Kaiser-Friedrich-Straße, ab 1914 bis 1934 in der Walkmühlstraße, jeweils gutbürgerliche Villenstraßen. Der Vater war Fabrikdirektor der Chemischen Fabrik Electro GmbH in Flörsheim/Main, in dieser Position wurde er ehrenamtlicher Handelsrichter beim Landgericht Wiesbaden. Bereits er und seine Frau waren vom Judentum zum Protestantismus konvertiert. Elisabeth Kühl dürfte also kaum mit jüdischer Tradition vertraut gewesen sein. Sie selbst gab 1938 gegenüber den Polizeibehörden an, „streng christlich erzogen“ worden zu sein. Es gab zwar eine jüdische Verwandtschaft, doch der Kontakt war durch diesen Schritt beeinträchtigt und der mit Elisabeth wurde später aufgrund ihrer Entwicklung gar ganz unterbrochen. So fehlt heutigen Nachfahren der Familie Ganz fast komplett die Erinnerung an sie, außer schwach, dass sie „äußerst deutsch-national“ gewesen sei und dass ihr Ehemann Busemann, ein Journalist, war. Nach einer Nichte, die sie bereits nicht mehr direkt kannte, galt sie als das „schwarze Schaf“ in der Familie.

Tatsächlich hatte Elisabeth Ganz 1919 in Hofweier (heute Gemeindeteil von Hohberg) bei Offenburg den Katholiken Karl Josef Georg Busemann geheiratet. Nach den standesamtlichen Unterlagen war sie ebenfalls als Katholikin verzeichnet. War sie wegen der Heirat oder bereits früher konvertiert? In Hofweier war sie seinerzeit wohnhaft, wie das Standesamt nachweist, welche Umstände für diesen eher nicht zu erwartenden Wohnort zugrunde lagen, muss offen bleiben. Während des Ersten Weltkrieges hat sie nach eigenen Angaben „als Rot-Kreuz-Schwester“ – vermutlich mit einem Kurs, aber wohl noch ohne qualifizierte Ausbildung – in Lazaretten gearbeitet. Busemann war am 26. Februar 1894 in Ohligs im Kreis Solingen als Sohn des Postsekretärs Karl Busemann und der Anna, geborene Olbrich, zur Welt gekommen, die dann 1895 nach Straßburg/Elsass zogen. Nach dem Abitur 1912 schlug er die gleiche Laufbahn wie der Vater ein, begann daneben aber auch an der Straßburger Universität Jura-, Staatswissenschafts- und Physik-Studien. 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wurde 1916 Leutnant und erhielt 1917 das EK I, konnte nach der Entlassung im Oktober 1918 seine Studien wieder aufnehmen, was aber nach der Rückgabe Elsass-Lothringens an Frankreich unterbrochen wurde. Nach seiner Ausweisung aus dem Elsass als ehemaliger deutscher Offizier im Januar 1919 begab er sich nach Freiburg um sein staatswissenschaftliches Studium abzuschließen, wo er an der dortigen Universität 1920 über „Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Binnenwasserstraßen und Eisenbahnen in Deutschland“ promovierte. Wie und wo sich die Verbindung der beiden Eheleute ergab, muss offen bleiben. Vielleicht durch die wirtschaftlichen Kontakte von Vater Ganz? 1920 wurde eine Tochter in Freiburg i.Br. geboren, 1921 ein Sohn. Nach der Promotion Busemanns zog die junge Familie nach Celle, dort lebten die Eltern des Ehemannes. Von dort zogen sie 1924 nach Frankfurt a.M., wo Dr. Karl Busemann eine Stelle als Leiter der Wirtschafts-Redaktion bei der „Rhein-Mainischen Volkszeitung“ anfing, 1929 dann zur „Frankfurter Zeitung“ (FZ) wechselte. Zu diesem Zeitpunkt aber war die Ehe von Elisabeth und Karl Busemann bereits geschieden, seit dem 30. Juni 1928 vor dem Landgericht Frankfurt a.M. aus „Schuld“ des beklagten Ehemanns.
Der geschiedene Ehemann war Verfasser verschiedener Wirtschaftsbücher, war für die „FZ“ von 1933 bis 1939 als Wirtschafts- und Finanzkorrespondent in Paris, im Krieg tat Busemann sich als Stabsoffizier bei der Rüstungsinspektion hervor. 1946 gründete er die Zeitschrift „Die neue Stadt“ in Frankfurt für den Wiederaufbau und Raumplanung und leitete ab 1950 bis zur Pensionierung 1959 die Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Neuen Presse“, betätigte sich noch freiberuflich für Presse und Rundfunk bis zu seinem Tod 1966 in Wiesbaden.

Der Lebensweg der geschiedenen Elisabeth Busemann bleibt nach der Abmeldung aus Frankfurt aber zunächst unklar. Gesichert ist noch ihre Abmeldung mit den beiden Kindern nach Würzburg am 15. November 1929. Dort lässt sich ihr Aufenthalt aber nicht mehr nachweisen, sodass sich ihr Weg zunächst wieder verliert.

Aber 1932/33 wohnte Elisabeth Busemann in Karlsruhe, das Adressbuch weist „Busemann, Dr. Karl (Elis.)Frau, Kriegsstr. 290“ nach. Unklar ist, ob ihr Zuzug 1932 oder 1933, vielleicht sogar etwas früher erfolgte, Meldeunterlagen existieren kriegsbedingt nicht mehr. Was waren ihre Beweggründe nach Karlsruhe zu kommen? Sie war ohne Beruf, wie das nächste amtliche Dokument zeigt: Am 23. Mai 1933 heirateten Elisabeth Busemann und der Filialleiter Herbert Karl Kühl, am 9. Mai 1907 in Stettin geboren, vor dem Standesamt in Karlsruhe. Der Standesbeamte vermerkte im Namensregister die Konfession von Elisabeth Kühl: „katholisch“! Dabei war sie nach ihrer Geburt protestantisch getauft worden. War sie eventuell bei der Heirat Karl Busemanns katholisch konvertiert? Das Dokument weist dann die nachträgliche nationalsozialistische Namenszuordnung „Sara“ 1939 auf, der Standesbeamte bemühte sich aber nicht, die Konfession auf „jüdisch“ zu ändern. Die Verworrenheit steigert sich noch: Einer der Trauzeugen 1933 benannte sich auch als „Stammführer“ (der Hitlerjugend war wohl gemeint), war also NSDAP-Mitglied. Zwar gab es noch keine „Nürnberger Rassegesetze“, aber diese Heirat wäre zum damaligen Zeitpunkt schwer vorstellbar gewesen. War die nach NS-Doktrin zugeordnete jüdische Herkunft von Elisabeth Kühl vielleicht noch nicht offensichtlich? Vermutlich nicht! Eventuell war sich Elisabeth Kühl selbst darüber auch gar nicht im Klaren. Es gibt sogar den begründeten Anhalt, dass sie persönlich zu diesem Zeitpunkt Mitglied der NSDAP gewesen war, dazu unten mehr.

Das Adressbuch zeigt im Folgejahr die Wohnadresse des Kaufmanns Herbert Kühl in der Bannwaldallee 60/62. Die Ehe hielt nicht lange, das Paar trennte sich 1933/34 wieder, die offizielle Scheidung erfolgte aber erst 1940 vor dem Landgericht Stettin. Vielleicht, weil inzwischen die jüdische Herkunft Elisabeth Kühls bekannt geworden war, offensichtlich werden musste bei einem „Sippennachweis“?
Elisabeth Kühl meldete ihren neuen Wohnort allein an, am 2. Mai 1934 im unweit Karlsruhes gelegenen Ettlingen. Wo waren ihre beiden Kinder, lebten sie vielleicht wieder beim Vater in Frankfurt? In Ettlingen wohnte sie in der Bismarckstraße 3a, später in der Steigenhohlstraße 12. Am 25. März 1937 ist ihr Wegzug nach Magdeburg festgehalten. Dort gibt es ebenso wie in Karlsruhe mangels Einwohnermeldeunterlagen keine genauen Angaben zum Zu- und Wegzug.

Nur ein Jahr später, 1938, finden wir sie wieder in Karlsruhe, nicht im Adressbuch, was darauf hinweist, dass es nur ein kurzer Aufenthalt war, sondern in einem amtlichen Dokument. Am 3. März 1938 stellte Elisabeth Kühl beim Polizeipräsidium Karlsruhe die „höfliche Anfrage, ob es ihr als Nichtarierin protestantischer Religion gestattet würde, auf ca. 1 bis 1 ½ Jahre nach Basel an die Frauenklinik zu gehen, um dort das Staatsexamen als Hebamme zu machen, um dann späterhin eventuell auszuwandern.“ Dies wäre eine Ausbildung, die eine eventuelle Auswanderung ermögliche und in Deutschland bestehe keine Möglichkeit mehr für das Staatsexamen hierzu, führte sie weiter aus. Sie schließt den Antrag mit „deutschem Gruß“. Ihr Beruf war zu diesem Zeitpunkt bereits Krankenschwester, somit wollte sie sich also zusätzlich qualifizieren. Doch ob sie diese wirklich zu einer Auswanderung benötigte? Hatte sie zuvor eine qualifizierte Krankenschwesternausbildung abgeschlossen, und wenn, wann und wo? Es gibt auch keinen näheren Hinweis auf ein Auswanderungsland. Zu diesem Zeitpunkt wohnte sie in der Akademiestraße 49. Es ist zu vermuten, als Untermieterin. Das Polizeipräsidium stellte ihr einen Reisepass auf ein Jahr aus. Am 12. Mai 1938 ersuchte sie um Verlängerung auf zwei Jahre, da die Ausbildung durch ein praktisches Jahr länger würde. In dem Anschreiben hierzu macht sie Angaben, die für das
Gesuch selbst keinerlei Auswirkungen hatten, aber über Elisabeth Kühl Einiges aussagen: Sie stamme aus „getauftem Elternhaus“ schreibt sie, sei „streng christlich erzogen worden“, hebt auf ihre 1. Ehe mit einem „Arier“ und auf dessen EK I und seine Teilnahme an 46 Schlachten ab. Dann gibt sie an, sie sei 1931 „Pg.“ gewesen und nennt die Mitgliedsnummer 951798, ebenso wären ihre beiden Kinder 1931 und 1932 zum „Jungvolk“ gegangen. Elisabeth Kühls Angabe zu ihrer NSDAP-Mitgliedschaft kann tatsächlich als den Tatsachen entsprechend angenommen werden, allein die Höhe der Mitgliedsnummer bedeutete aber einen Eintritt im Frühjahr 1932. Diese Angabe lässt sich heute aus den Beständen des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv zwar nicht mehr verifizieren, 1938 aber war das überprüfbar und im Falle der Unrichtigkeit hätten nachteilige Konsequenzen gedroht.

Elisabeth Kühl ging mit ihrem erhaltenen Reisepass nicht nach Basel in die „Frauenklinik“, d.h. das Frauenspital. Das Staatsarchiv Kanton Basel-Stadt weiß, dass dort zu diesem Zeitpunkt nur Schweizerinnen zur Hebammenausbildung zugelassen wurden. Zur Hebammenausbildung in die Schweiz aber ging sie tatsächlich. Im Staatsarchiv St. Gallen liegen ihre Meldeangaben vor. Am 20. Oktober 1938 zog sie von Karlsruhe nach St. Gallen, war Hebammenschülerin beim Kantonsspital und wohnte unter dessen Adresse in der Rohrschacher Straße 95, sie gab als Zivilstand „getrennt lebend“ an. Weiteres wissen wir nicht, auch nichts über die Ausbildung, die sie vermutlich erfolgreich abgeschlossen haben dürfte, da sie insgesamt eineinhalb Jahre dort blieb. Bemerkenswert aber ist ein Detail ihrer Meldeangaben, Konfession; (protestantisch-)“reformiert“! Gehörte sie inzwischen wirklich zu den Reformierten? War es ein Versehen des Beamten oder machte sie selbst diese Angabe?
Elisabeth Kühl meldete sich aus St. Gallen am 22. April 1939 ab, nach Wien.

Österreich und die Hauptstadt Wien gehörten inzwischen zum Deutschen Reich, die Verfolgung der Juden hatte längst einen terroristischen Höhepunkt erreicht. In Wien wurde früher als sonst im Reich massiv die Auswanderung der Juden erzwungen. Elisabeth Kühl dürfte sich immer noch als „nichtarische Protestantin“ bezeichnet haben, dass sie aber nationalsozialistisch als Jüdin galt, muss ihr bewusst gewesen sein. Warum ging sie nach Wien?

Der Vater Eugen Ganz, Fabrikant und Gerichtsrat a.D., war im Mai 1934 nach Wien gezogen, lebte zunächst im Wiener Bezirk I (Stadtzentrum), zog drei Monate später in die Landstraßer Hauptstraße des danach benannten III. Bezirks und im Juni 1936 in den VI. Bezirk (Mariahilf), an den Getreidemarkt direkt am Gürtel. Vermerkt als seine Gattin ist die 1882 geborene Marta Ganz. Elisabeth Kühls Mutter Margaretha war eventuell nicht mehr am Leben, doch näheres ist unbekannt. Auch der weitere Weg der uns unbekannten Marta Ganz kann nicht beschrieben werden. Gesichert ist das Versterben von Eugen Ganz am 6. Oktober 1940 in Wien. Warum war der Vater aus Wiesbaden überhaupt nach Wien verzogen?
Gesichert wissen wir aus den polizeilichen Wiener Meldeunterlagen, dass Elisabeth Kühl von St. Gallen aus zu ihrem Vater ging. Sie meldete sich dort am 2. Mai 1939 an und am 31. Mai bereits wieder ab, mit Zielort Budapest in Ungarn. Am 29. September 1939 kam sie wieder zum Vater zurück, Aufenthaltsort zuvor war Istanbul gewesen. Von Dezember bis zum August 1940 scheint sie eine eigene Adresse gehabt zu haben, in der Floridsdorfer Schüttaustraße, im XXI. Wiener Bezirk, dann aber lebte sie wieder beim Vater. Dies war ihre letzte Adresse. Sie verließ diese, ohne sich nochmals „ordentlich“ abzumelden. Wann und wohin? In Wien hatten unmittelbar nach Kriegsbeginn und der Besetzung Polens bereits im Oktober 1939 planmäßige Deportationen der Juden dorthin stattgefunden, die im Februar 1941 mit über 5.000 Wiener Juden nach Kielce forciert wurden. Was machte Elisabeth Kühl zu diesem Zeitpunkt, warum hatte sie im Ausland gelebt und vermutlich gearbeitet und war dennoch immer wieder zurückgekommen, hätte sie nicht die Chance ergreifen können oder wollen im Ausland zu leben? Eventuell hängen ihre Auslandsaufenthalte mit ihrer Arbeit zusammen. Machte sie diese im Auftrag einer Schwesternschaft, aber konnte sie überhaupt noch in einer solchen wirken? Und wie hängt dies mit ihren Adressen in Wien zusammen?

Welchen Weg Elisabeth Kühl zwischen Sommer 1940 und Mai 1942 zurücklegte, blieb lange unklar. Der Historiker Maximilian Strnad forschte zu dem Zwangsarbeiterlager Lohhof nahe Unterschleißheim bei München (Flachs für das Reich, Das jüdische Zwangsarbeiterlager „Flachsröste Lohhof“ bei München. München 2013.). Dabei konnte er Elisabeth Kühl als Zwangsarbeiterin dort nachweisen. Flachs war ein wichtiger Rohstoff für die Textilherstellung, doch der bestehende Betrieb Flachsröste Lohhof GmbH konnte den Arbeitskräfte wegen niedriger Löhne immer nur schlecht decken. Seit 1939 wurden ausländische Zwangsarbeitskräfte eingesetzt und seit dem Sommer 1940 jüdische Frauen aus München. Zuständig für die Arbeitskräftezustellung war Elisabeth Moegen vom Arbeitsamt München, die für eigenmächtige Verschärfungen des Arbeitseinsatzes berüchtigt war. Der Historiker Strnad konnte nachweisen, dass Elisabeth Kühl etwa im November 1941 einen Fluchtversuch aus dem Lager übernahm und sich zu Verwandten nach Brannenburg in Oberbayern begab, kurz danach zu Weihnachten 1941 versuchte sie es abermals und scheiterte wieder. Im März 1942 floh sie erneut. Sie hatte einen Brief hinterlassen, in dem sie Suizidabsichten äußerte, vermutlich, um Zeit vor der Verfolgung zu gewinnen (vgl. Strnad, S. 75f). Ihr genauer Fluchtweg ist nicht nachweisbar.

Zuallerletzt finden wir sie zwei Monate später in der kleinen bäuerlichen Tiroler Streu-Gemeinde Tösens (Kreis Landeck) im oberen Inntal, mit damals etwa 500 Einwohnern in 18 Gemeindeteilen, fast 1.000 m hoch gelegen unter den Gipfeln der bis zu mehr als 3.500 m hohen Ötztaler Alpen. Zur Schweiz wie zum Reschenpass nach Italien sind es etwa 15 km. In einem Grenzzonenbereich wie diesem waren Juden nicht mehr geduldet, darüber hinaus waren sämtliche Juden aus dem Reichsgau Tirol-Vorarlberg bereits 1940 nach Wien abgeschoben worden. Wollte Elisabeth Kühl eventuell in das nahe Ausland fliehen? Oder versuchte sie unerkannt in Tösens zu leben und sich zu verstecken? Die kleine Gemeinde verfügt nicht über Meldeunterlagen aus jener Zeit, auch ist Elisabeth Kühl den ältesten Bewohnern nicht bekannt, wie das Gemeindeamt nachfragen ließ. Ihr späterer Sterbeschein führt Tösens als letzte Wohnadresse auf.

Am 6. Mai 1942 wurde „Maria“ (!) Kühl, geboren am 30. November 1895 in Mainz, Krankenschwester - es handelt sich also um einunddieselbe Person -, nach der im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck befindlichen Haftkartei aus Tösens in das Polizeigefängnis Innsbruck eingeliefert. Ganz offensichtlich hatte Elisabeth Kühl versucht, ihre Identität zu verschleiern. Sie gab an, katholisch zu sein und trug noch ihren Reisepass von 1938 ausgestellt in Karlsruhe bei sich. Das Deckblatt und die erste Seite, die sie als Jüdin auswiesen, hatte sie herausgerissen. Die StaPo-Leitstelle Innsbruck fragte aufgrund der Passnummer am 18. Mai 1942 in Karlsruhe an. Damit war der aussichtslose Verschleierungsversuch gescheitert und ihre Identität festgestellt.

Am 5. Juni 1942 erfolgte die Überstellung aus Innsbruck in das Frauen-KZ Ravensbrück. Unterlagen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück weisen ihren Eintrag im Zugangsbuch dort am 12. Juni 1942 nach, Häftlingsnummer 11651, Haftgrund: „politisch“, Zusatzgrund „Volljüdin“. Weiteres aus dem KZ Ravensbrück über sie liegt nicht vor. Auf Anordnung des Reichsicherheitshauptamts, Ravensbrück „judenfrei“ zu machen, wurden am 6. Oktober 1942 über 600 Frauen, darunter 522 Jüdinnen, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Es liegt bislang kein Beleg vor, dass Elisabeth Kühl sich darunter befand. Könnte sie sich vielleicht bereits unter den 25 Frauen von Ravensbrück nach Auschwitz am 20. Juni befunden haben?

Belegt ist, dass Elisabeth Kühl am Ende ihres langen Weges im KZ Auschwitz um ihr Leben gebracht wurde. Es gibt eine offizielle standesamtliche Todesbescheinigung des KZ-Kommandanten. Das heißt, dass Elisabeth Kühl bei Ankunft in Auschwitz nicht unmittelbar in die Gaskammer, sondern zunächst zur Zwangsarbeit selektiert worden war. Hatte sie dies eventuell um die durchschnittliche Lebensdauer für Zwangsarbeiterinnen von wenigen Wochen bis Monaten zunächst überlebt? Im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz ist nichts zu Elisabeth Kühl überliefert, außer dieser Sterbeurkunde.
Der Todeseintrag von Elisabeth Kühl lautet auf den 11. Oktober 1942. Todesursache: „Influenza“.

Dies könnte auf einen möglichen Tod durch Auszehrung und Entkräftung hindeuten, „Vernichtung durch Arbeit“.

Über das Lebensende von Elisabeth Kühl bleibt eine letzte Ungewissheit, wie so viele Teile ihres Lebens nur ansatzweise zu erschließen sind. Als Jüdin hat sie sich die längste Zeit ihres Lebens nicht begriffen, konnte es aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Lebensweise auch nicht, und es bleibt mehr als fraglich ob sie diese nationalsozialistische Zuordnung jemals angenommen hat. Es bleiben mehr Fragen als Antworten, zuletzt auch noch, wie sie unter ihren jüdischen Mit-Häftlingen aufgenommen worden war und wie sie sich selbst ihnen gegenüber verhalten hat?

(Jürgen Schuhladen-Krämer, Oktober 2011, ergänzt Dezember 2014)


Quellen:
Generallandesarchiv Karlsruhe: 330/662;
Verschiedene Standes- und Meldedaten: Stadtarchive Mainz, Wiesbaden, Magdeburg, Ettlingen, Wien, Gemeinde Tösens in Tirol sowie Staatsarchiv Kanton St. Gallen/Schweiz und Standesamt Hofweier;
Landesarchiv Tirol: Angaben zur Haft 1942;
Mitteilung zur Brosche: Hilde-Steppe-Archiv;
Informationen aus der Familie, rudimentär;
Gedenkstätte Ravensbrück;
Archiv Gedenkstätte Auschwitz;
Deutsches Biographisches Archiv – Busemann, Karl;
Universitätsarchiv Freiburg i.Br.: Promotionsakte Busemann B29/787
Maximilian Strnad: Flachs für das Reich, Das jüdische Zwangsarbeitslager „Flachsröste Lohhof“ bei München. München 2013, S. 75;