Littmann, Sally
Nachname: | Littmann |
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Vorname: | Sally |
Geburtsdatum: | 4. Oktober 1880 |
Geburtsort: | Briesen/Westpreußen (Deutschland, heute Polen) |
Familienstand: | ledig |
Eltern: | Leopold A. und Jenny, geb. Loewenberg, L. |
Familie: | Bruder von Alfred (1878-?), Gertrud Schachmann (1879-1927), Julian (1883-1944), Max (1884-1884) und Hedwig Finkenstein (1885-1928) |
Schlossplatz 9
4.3.1943 von Drancy nach Sobibor (Polen)
Biographie
Sally Littmann
Im Jahr 1880 war Briesen eine kleine Stadt im westpreußischen Bezirk Marienwerder, Kreis Kulm, nahe der Bahnlinie von Thorn nach Insterburg. Nach Thorn/Toruń im Südwesten waren es etwa 40 km, nach Bromberg/Bydgoszcz im Westen etwa 70 km, nach Graudenz/Grudziądz im Nordwesten etwa 30 km und nach Danzig/Gdańsk im Norden 120 km.
Gelegen im überwiegend flachen Kulmer Land, einer Landschaft am rechten Weichselufer, begrenzt von der Weichsel, der Drewenz und der Ossa, im Kern umgeben von drei Seen (Schloss-See/Jezioro Zamkowe, Sittno-See/Jezioro Sitno und Friedeck-See/Jezioro Frydek), war das Städtchen durch Maschinenbau, Dampfmühlen und Ziegeleien durchaus industrialisiert; daneben gab es aber auch Schweinezucht, eine Molkerei und mehrere Vieh- und Pferdemärkte. Die zur Stadt gehörende Burgruine Friedeck reicht in ihrer Gründung durch Kulmer Bischöfe ins frühe 14. Jahrhundert zurück.
Briesen hatte ein Amtsgericht, eine evangelische und eine katholische Kirche sowie eine 30 Jahre zuvor erbaute Synagoge und zählte (Stand: 1880) 4.498 Einwohner/-innen, davon 1871 evangelisch, 1.958 katholisch und 654 Juden. Ein Drittel der Bevölkerung sahen sich als Polen bzw. sprachen Ppolnisch. Die geographischen Namen der Gegend sind seit Jahrhunderten deutsch und polnisch, so hat der Name Briesen seine polnische Entsprechung in Wąbrzeźno, ausgesprochen „Wombschèschno“, mit weichem -sch-.
Am 4. Oktober des Jahres 1880 kam Sally Littmann in Briesen zur Welt, im Geburts-Haupt-Register Briesen für das Jahr 1880 steht das umgangssprachliche „Sally“, für Salomon. So wird sein hebräischer Name, den er mit der Barmitzwah erhielt, Shlomo gewesen sein. Seine Eltern waren Leopold A Littmann, geboren 1848 in Briesen, und Jenny, geborene Loewenberg, geboren 1856 in Fordon bei Bromberg, heute Stadtteil von Bydgoszcz. Der Vater war Kaufmann, die Mutter Hausfrau.
Gemeinderabbiner in Briesen war in Sallys früher Kindheit der aus Breslau stammende Dr. Leopold Treitel. Treitel wechselte 1884 von Briesen nach Karlsruhe, wo er als stellvertretender Stadtrabbiner amtierte. In Briesen existierte auch eine kleine, der Synagogengemeinde angeschlossene Schule mit zeitweilig drei Klassen. Rabbi Simon Eppenstein, der von 1889 bis 1911 in Briesen amtierte und diese Schule leitete, war ein herausragender Toragelehrter der modernen Orthodoxie der Misrachi-Ausprägung und später Professor am Rabbinerseminar in Berlin.
Leopold Littmanns Eltern waren Abraham und Rosalie Littmann. Jennys Eltern waren Salomon und Ernestine Loewenberg. Damit ist Sally ganz traditionell nach einem verstorbenen Großvater benannt. Schon Großvater Abraham Littmann war Kaufmann in Briesen. In der Zeitung Nadwiślanin (d.h. „Der Weichselianer“) vom 14. Januar 1863 inseriert er, hier frei übersetzt aus dem Polnischen:
„Ich empfehle dem geschätzten Publikum gute Getreidesäcke und ich habe auch einen köstlichen Wodka namens Gilka. A. Littmann w Wąbrzeźnie“.
Leopold A. Littmann war Eisenhändler, einige Jahre lang Schriftführer in der Briesener Stadtverordnetenversammlung, Mitglied im Vorstand der Synagogen-Gemeinde zu Briesen und im Lokalkomitee des Hilfsvereins der Deutschen Juden sowie Vorsitzender des örtlichen Zweigs des „Vereins zur Errichtung eines Israelitischen Reichs-Erziehungshauses für arme Waisen und Kinder unbemittelter Eltern“, das einige Jahre später in Diez an der Lahn eröffnet wurde.
Das „A“ in „Leopold A“ stand für „(Sohn des) Abraham“ und unterschied den Vater von einem ebenfalls in Briesen ansässigen Verwandten namens Leopold J „(Sohn des) Itzig“ Littmann, Holzhändler und Besitzer einer Dampfsägemühle – vielleicht waren die beiden Vettern.
Akten der Briesener Synagogen-Gemeinde aus den Jahren 1871 bis 1921, vor dem Krieg archiviert, 1942 in Wilna von Nazis entwendet, aber 1945 von der US Army gerettet und über das Depot Offenbach nach New York gebracht, liegen heute im dortigen YIVO Institute for Jewish Research, an vielen Stellen unterschrieben von Sallys Vater Leopold.
Die 3 km Entfernung zwischen Briesen Stadt und Briesen Bhf an der Preußischen Ostbahn wurden 1898 mit einer eingleisigen elektrischen Stadtbahn verbunden – der ersten ihrer Art weit und breit. Die Stadt hatte inzwischen ein Elektrizitäts- und ein Wasserwerk. Technischer Fortschritt und rasant wachsende Mobilität waren in aller Munde. Leopold A Littmanns Sortiment wird diesem Bedarf entgegengekommen sein. Eine in dem New Yorker Aktenkonvolut erhaltene Rechnung aus dem Jahr 1900 zählt auf:
„Stab- und Eisenkurzwaarenhandlung: Magazin für Haus- und Küchengeräte. Lager von Stabeisen, Stahl-, Eisen- und Messingwaren, Gusswaren, Drahtstifte, Ackergeräthe, Baumaterialien, Baubeschläge etc. Lager von Jagd-Artikel, Wagenfett, Firniss und Farben. Destillation, Rum- und Liquer-Fabrik.“
Sally hatte einen älteren Bruder, Alfred, geboren 1878 und eine ältere Schwester, Gertrud, geboren 1879. 1883 folgte ihm ein Bruder, Julian, 1884 ein weiterer, Max, der im Alter von einem ¾ Jahr verstarb, und 1885 die Jüngste, Hedwig. So wuchs Sally mit vier Geschwistern auf und schloss in Briesen die Schule mit der Obersekunda, d.h. 11. Klasse ab.
Im Jahr 1900 starb 86-jährig Sallys Großmutter väterlicherseits, Rosalie Littmann geborene Meyer, in Briesen.
1901 heiratete Sallys Schwester Gertrud den Kaufmann Georg (Gerson) Schachmann und zog zu ihm in das ostpreußische Braunsberg. Sallys Bruder Alfred in Hamburg heiratete ebenfalls in diesen Jahren.
Im September 1909 verlobte sich Sallys Schwester Hedwig mit dem 1874 in Hohenstein in Ostpreußen geborenen, in Karlsruhe tätigen Salomon (Salman) Finkenstein. Das Paar heiratete im Folgejahr und Hedwig übersiedelte im März 1910 nach Karlsruhe. Ihr Mann war Geschäftsführer bei Warenhaus Knopf, das Ehepaar wohnte in der Sophienstraße 60. Am 23. Januar 1911 kam ihr erstes Kind Werner Günther (Ze'ev) zur Welt.
Auch Sallys Bruder Julian verließ Briesen. Er hat 1911 in Berlin Gertrud, geborene Wolfstein geheiratet und war Uhrmacher. (Das Ehepaar hatte mindestens vier Kinder.)
Sally blieb als einziger unter den Geschwistern ledig und arbeitete wohl im väterlichen Geschäft. Die Littmanns gehörten der oberen Mittelschicht an. Mutter „Jenny Littmann, Kaufmannsgattin, Briesen“ findet sich in der „Karlsbader Curliste“ im Mai 1910 und im Juni 1911 im dortigen „Kaiser Josef, Parkstraße“. Die Steuereinzugsliste der Briesener Synagogen-Gemeinde gibt Leopold A Littmanns Kultussteuer für 1908/09 mit 176 Reichsmark an, damit gehörte er zu den Wohlhabenden. Einer kleinen Zahl stärkerer Steuerpflichtiger wie Kaufmann Moses (368), Viehhändler Moses (336), Holzhändler und Sägemühlenbesitzer Littmann (309) oder Kaufmann Meyer (234) und einigen mittleren wie Apotheker David (138), Arzt Dr. Wolff und Uhrmacher Callmann (je 122) bzw. Gerichtssekretär Danziger (104) standen viele Kaufleute und kleine Gewerbetreibende mit zweistelligen Steuerbeträgen pro Jahr gegenüber, z.B. Maschinenbauer Moses (58), Fleischer Zwick (28), Klempnermeister Jacobsohn (16), Commis Seligmann und Gastwirtin Gurtatowski (je 8), Directrice Eppstein, Klavierlehrerin Rotstein und Glaser Simon (je 5,30), Händler Galinski (3,20) sowie Rentier Silberberg (1,60 RM). Die zehnfache Zahl in Euro ist ein ungefährer Anhaltspunkt.
1904 schrieb die Briesener Synagogen-Gemeinde im Israelitischen Familienblatt eine „Kantor- und Schächterstelle“ aus, Jahresgehalt 1.800 RM plus Nebeneinkünfte. Dieser müsse zugleich „Balkore“ und „Baltokea“ sein. Daraus wird deutlich, dass in der kleinen Gemeinde zu wenige den Wochenabschnitt vortragen und am Neujahrstag den Schofar blasen konnten – traditionell hoch respektable Ehrenämter. Seit der Jahrhundertwende verließen viele Juden die ländlichen Orte in Ost- und Westpreußen sowie Posen, um sich in Großstädten weiter westlich, vor allem in Berlin niederzulassen.
Sally war offensichtlich ein engagierter und sportlicher junger Mann. Die Thorner Presse vom 30. Juli 1911 meldet unter Provinzialnachrichten von 28. Juli aus Briesen: „Der Kaufmann Eitel Wieczorka aus Danzig rettete heute in Gemeinschaft mit dem Kaufmann Sally Littmann von hier den 13jährigen Arbeitersohn Robert Heymann vom Ertrinken im Schloßsee. Der Junge schwamm seinem in der Nähe des Schloßberges in den See getriebenen Hute nach und ging hierbei wiederholt unter; mit eigener Lebensgefahr brachten die beiden Retter ihn ans Ufer.“
Die gleiche Zeitung vom 5. August 1913 schreibt unter Provinzialnachrichten vom 3. August aus Briesen: „Der hiesige Radfahrerverein veranstaltete heute ein Zehnkilometer-Rennen auf der Sittnoer Chaussee. Sieger wurde [sic] Kaufmann Georg Götz, Buchhalter Curt Kurowsky und Kaufmann Sally Littmann.“
Am 28. November 1913 starb Leopold Littmann in Briesen im Alter von 65 Jahren. Sally meldete beim Standesamt den Tod des Vaters, „Sohn des Kaufmanns Abraham Littmann und Rosalie geb. unbekannt, beide in Briesen verstorben“, wie das Briesener Sterberegister im Staatsarchiv Torun festhält. Damit vertrat Sally die mindestens dritte Generation in seiner Heimatstadt.
Das Geschäft ging nun allerdings in Konkurs. Wie im Berliner Tagblatt und Handels-Zeitung vom 11. Dezember zu lesen, folgte die Zwangsversteigerung. Die Weihnachtsausgabe der katholischen Gazeta Torunska nimmt dazu Stellung [frei übers. CK]:
„Der Konkurs des verstorbenen Kaufmanns und ehemaligen Besitzers des Eisenlagers Littmann setzte viele ortsansässige deutsche Kolonisten durch die leichtsinnige Unterzeichnung von Schuldscheinen und von ihnen gegebenen Darlehen schweren Verlusten aus. Mehr als einer wird wahrscheinlich [...] seine Koffer packen und aus diesem Kolonialparadies „Vaterland“ fliehen müssen. Arme Apostel der preußischen Kultur.“
Um 1914/15 sind Mutter Jenny und Sohn Sally nach Karlsruhe umgezogen. Laut Korrespondenz von März 1917 und von 1918/19 in den Akten der Synagogen-Gemeinde Briesen wohnte Witwe Jenny Littmann zur Miete in der Geranienstraße 4.2, einem erst um 1914 erbauten Mehrfamilienhaus in der Weststadt.
Die beiden waren in Karlsruhe, als Sallys 40-jähriger Schwager Salomon Finkenstein am 28. Dezember 1915 plötzlich und unerwartet „nach kurzer Krankheit“ verstarb. Er wurde auf dem liberalen Jüdischen Friedhof an der Haid-und-Neu-Straße bestattet. Am nächsten Tag, dem 29. Dezember kam seine Tochter Lotte zur Welt, vielleicht als Frühgeburt aufgrund der durchgemachten Ereignisse.
Offenbar hatte inzwischen die ganze Familie Briesen verlassen; von Sallys Bruder Alfred (Hamburg) findet sich in den Akten der Synagogengemeinde Briesen ein Zahlungsbeleg (März 1917) für das Grab des Vaters in Briesen. Jüdische Gräber, für die niemand aufkommt, werden keinesfalls aufgehoben – sie wachsen zu. Folglich diente dieses Geld der Pflege.
Auf dem Belegabschnitt einer Postanweisung von 26. Februar 1918 – ebenfalls für die Pflege der Familiengräber in Briesen – nennt Sally seinen Namen mit dem Zusatz: „Kanonier beim Reserve-Feldartillerie-Regiment Nr. 28, Stab der II. Abteilung“. Das Regiment gehörte zum XIV. Armee-Korps, dessen Generalkommando in Karlsruhe stationiert war. Es wurde erst 1916 aufgestellt und war im Ersten Weltkrieg in Frankreich und Flandern im Einsatz.
Nach Ende seines Militärdienstes ist Sally auch in der genannten Wohnung Geranienstraße 4.2 (1. OG) nachgewiesen. Laut Badischem Staatsanzeiger von 22. März 1920 wurde er nun im Handelsregister eingetragen als „Einzelkaufmann, Handlung mit Haushaltungsmaschinen, Heiz- und Kochapparaten en gros“. Das En-gros-Geschäft unter der Adresse der Wohnung wird ein Vertrieb an Einzelhändler gewesen sein, denen die Ware auf Wunsch in ihrem Laden vorgeführt wurde; Sally selbst brauchte also kein Ladengeschäft. Im Bericht von einer Gewerbemesse mit dem Titel „Reinlichkeit und Sittlichkeit“ in Karlsruhe erwähnt die Badische Presse am 22. April 1926: „Firma S. Littmann, Karlsruhe demonstrierte […] einen „Orion“-Staubsauger“.
Am 9. Juni 1920 stellte Sally einen Antrag auf die badische Staatsbürgerschaft und damit wieder auf einen deutschen Pass, denn: „Mein Geburtsort wurde lt. Friedensvertrag [von Versailles] ohne Abstimmung zu Polen geschlagen“. Sallys Antrag wurde kurz darauf bewilligt, wie zuvor auch der Antrag seiner Schwester Hedwig.
Seit dem Tod ihres Mannes lebte Hedwig mit den beiden Kindern in der zehn Gehminuten von der Geranienstraße entfernten Liebigstraße 9. Werner besuchte die Goetheschule (Realgymnasium) und ging dann in die Lehre bei Bankhaus Straus & Co. Seine Schwester Lotte war auf der Gutenbergschule und Mitglied im Sportverein HaKoah.
1927 starb Sallys Schwester Gertrud Schachmann in Braunsberg. Sie hinterließ Ehemann und fünf Kinder.
Mit nur 42 Jahren starb auch Sallys Schwester Hedwig Finkenstein am 30. März 1928 in Karlsruhe. Auf dem liberalem Friedhof Haid-und-Neu-Straße wurde sie bestattet. Das 12-jährige Waisenkind Lotte war nun Mündel ihres Onkels Sally und kam zur Tante Hertha Finkenstein nach Berlin-Schmargendorf. Für Unterhalt und Schulgeld in Berlin kam ihr Vormund Sally Littmann auf. Aber „infolge Rückgang seines Einkommens durch die Wirtschaftskrise drang er darauf, daß ich im Jahre 1932 meinen Schulbesuch abbreche und anfänge, einen kaufmännischen Beruf zu erlernen, um mich später selbst ernähren zu können“, so schrieb Lotte in den 1950er Jahren in ihrem Wiedergutmachungsantrag. Die inzwischen 16- oder 17-jährige kam daher nach Karlsruhe zurück, wo sie bei Sally und Großmutter Jenny in der Geranienstraße 4 wohnen konnte, und machte eine Lehre bei Warenhaus Knopf. Nach ihrem Abschluss übernahm Knopf sie als kaufmännische Angestellte.
Schon vor 1933 waren jüdische Menschen Ziel nazistischer Angriffe. In einem Artikel im NS-Blatt Der Führer von 19. November 1931 prangerte ein Mensch namens „Rimpf“ Sally Littmann als angeblichen Dieb an. Er habe einem ungenannten „Nationalsozialisten“ wiederholt die besagte Zeitung aus dem Briefkasten genommen. Das folgende Gerichtsverfahren war, sehr zum Unbehagen des Schreibers, wegen Geringfügigkeit eingestellt worden. „Den Littmann aber, den Sally aus der Sofienstraße 161 – den wollen wir uns merken“, so die Drohung am Schluss. Auch wenn die Adresse verwechselt sein muss und die Geschichte nicht ganz plausibel klingt – das Propagandablatt („Kauft nie bei Juden“) konnte so, neben dem Anstacheln zum Rassenhass, durch negative Berichte über jüdische Geschäftsleute auch die „braune“ Wirtschaft fördern, wie ja der reichsweite Boykott am 1. April 1933 und die spätere antijüdische Gesetzgebung vielfach gezeigt haben. –
Am 28. September 1934 starb in Karlsruhe die Mutter Jenny Littmann, geborene Loewenberg, mit 78 Jahren. Sie wurde ebenfalls auf dem liberalen Jüdischen Friedhof Haid-und-Neu-Straße bestattet.
Werner Finkenstein, als einziger seiner Familie begeistertes Mitglied bei den Jüdischen Wanderbünden „Blau-Weiß“ und im Hechaluz, machte 1934 – nach einer landwirtschaftlichen Vorbereitungszeit am Bodensee – Alija und schloss sich dem Kibbuz Aschdot Ja'akov Me'uchad an. Einer seiner Freunde aus Karlsruhe, zu Hause im Kibbutz Giv'at Brenner, war Chaim Seeligmann. (1948 änderte Werner seinen Familiennamen in Yahalom, hebräisch für „Diamant“, worin der volkssprachliche Ursprung von Finkenstein, „Funkelstein“ anklingt.) Nach antisemitischen Anfeindungen aus dem Kollegenkreis trat seine Schwester Lotte 1935 bei Knopf aus und ging – bislang nicht zionistisch engagiert – Anfang 1936 ebenfalls nach Palästina. (Beide heirateten und gründeten dort Familien. Nachkommen leben in Israel.)
Warum hat Sally nach dem Tod der Mutter nicht ebenfalls Deutschland verlassen? Ein Mitfünfziger brauchte dafür – anders als Jugendliche – einiges an finanziellen Mitteln. Dann gab es Bürokratie, je nach Zielland waren Visa, Affidavits oder Zertifikate fällig. In Palästina musste er dem heißen Klima standhalten, mühsam Hebräisch lernen, beruflich umschulen oder fachfremd und schwer arbeiten. Dazu gab es bewaffnete Konflikte mit Arabern und manchen Ärger mit der britischen Mandatsmacht. Selbst den Entschlossenen ist die Alija manches Mal nicht gelungen, sie kehrten nach Europa zurück oder wandten sich nach Übersee.
Im Adressbuch Stand November 1937 findet sich Sally Littmann noch in der Geranienstraße, aber nur noch mit dem Zusatz „Vertretungen“; im Juni 1938 listet die Badische Wirtschafts-Zeitung seine Firma als „gelöscht“. Spätestens nach dem Novemberpogrom 1938 musste er auch die Wohnung in der Weststadt aufgeben. Die Volkszählung am 17. Mai 1939 mit ihren Ergänzungskarten für jüdische Bürger/-innen erfasste Sally Littmann in der Vorholzstraße 22.II. Dort wohnte unter anderen Ehepaar Leopold und Lina Hirsch, vielleicht war Sally kurze Zeit bei ihnen zur Untermiete.
Auf der Karteikarte von August 1939 zur damals ausgegebenen „Kennkarte für Juden“, „nur von Reichsangehörigen, nicht von Ausländern auszufüllen“, gibt Sally handschriftlich ein wenig Auskunft über sich selbst: „Familienstand: ledig, Geburtsort: Briesen, Kreis dto, Korridor, jetzt polnisch.“ „Jetziger Beruf: – [leer], erlernter Beruf: Eisenhändler.“ „Sind Sie dauernd körperlich behindert? Nein“. „Sprechen Sie fremde Sprachen? Z.Teil englische Spr., z.Teil polnische Spr.“; „Besitzen Sie auf einem Sondergebiet besondere Kenntnisse u. Erfahrungen (z.B. in einem Spezialzweig der Industrie, der Landwirtschaft, der Technik oder der Wissenschaft)? – [leer] “
Das klingt nicht nach großem Selbstvertrauen, im Ausland ein neues Leben zu beginnen. Im Adressbuch 1940, Stand Ende Januar, steht „Littmann, Sally Israel“ auf der separaten „Liste jüdischer Einwohner“ mit der Adresse Schlossplatz 9.2. Da das Haus Julius L. Homburgers Erben gehörte, wurden hier nun im Sinne eines „Judenhauses“ jüdische Mieter/-innen eingewiesen. Der mit Zwangsnamen „Israel“ und Kennkarte mit großem, rotem „J“ Gekennzeichnete war nun in einer Art Mikroghetto mitten in der Stadt untergebracht. Eine Emigration war mit Ausbruch des Krieges praktisch unmöglich geworden.
Am 22. Oktober 1940 wurden über 6.500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in einer Willküraktion nach Frankreich abgeschoben. Sally Littmann war einer der über 950 betroffenen Karlsruher/-innen. Er erhielt maximal ein paar Stunden Vorwarnung, seine Sachen zu packen. Nicht mehr als 50 kg Gepäck und 100 RM durften mitgeführt werden. Die betroffenen Wohnungen wurde versiegelt, das Inventar später von den NS-Behörden eingezogen. Angehörige, die Sally begleitet hätten, sind nicht festzustellen; Neffe und Nichte waren ja bereits in Palästina.
Vom „Fürstenbahnhof“ am Hauptbahnhof fuhren noch am Abend und am nächsten Tag mehrere 3. Klasse-Züge über Avignon und Toulouse nach Oloron-Sainte-Marie am Rande der Pyrenäen. Von dort brachten Lastwagen die Menschen in das französische Internierungslager Gurs. Sie erwartete dort ein Meer fensterloser, unisolierter Baracken in kleinräumig abgezäunten „Ilots“, durch Schlamm fast unpassierbare Wege, miserable hygienische Verhältnisse und Hunger. Viele, vor allem Ältere starben im strengen, ersten Winter; insgesamt sind über 1000 der Deportierten unter diesen Bedingungen in Gurs gestorben. Erst im Frühjahr 1941 brachten Hilfsorganisationen einige Erleichterungen. Nach zweieinhalb entbehrungsreichen Jahren im Camp de Gurs wurde Sally Littmann Anfang März 1943 in das deutsch besetzte Nordfrankreich abtransportiert. Am 4. März 1943 verließ der 62-jährige in Transport Nr. 50 mit etwa 1.000 Personen das überfüllte Durchgangslager Drancy bei Paris. Der bewachte Zug vom Bahnhof Le Bourget-Drancy nach dem Osten bestand aus Viehwaggons. Sally Littmann ist etwa zwei Tage später im Vernichtungslager Sobibor oder bereits auf dem Weg dorthin zu Tode gekommen.
Etliche seiner Verwandten fielen ebenfalls dem Holocaust zum Opfer. Beispielhaft sei Sallys Bruder Julian Littmann genannt. Julian und seine Tochter Margot wurden in Auschwitz, sein Sohn Fritz in Sobibor und sein Sohn Herbert in Schloss Hartheim ermordet.
Auf der Mur des Noms in Paris steht – nach der schwer entzifferbaren französischen Deportationsliste – „Litsmann Sally, Briden“.
Der jüdische Friedhof in Wąbrzeźno mit dem Grab seines Vaters und der Großeltern wurde im Zweiten Weltkrieg verwüstet und ist heute nicht mehr sichtbar. Nach 1945 gab es in Wąbrzeźno keine jüdische Gemeinde mehr. In Karlsruhe sind die Gräber der Mutter, der Schwester Hedwig und des Schwagers Salomon erhalten. Der Gedenkstein am Karlsruher Hauptfriedhof trägt auch Sally Littmanns Namen.
(Christoph Kalisch, im Juli 2022)
Quellen:
- Generallandesarchiv Karlsruhe (Wiedergutmachungsakten):
480/26519 (Sally L) 480/26520 (Lotte Choczner) sowie 48027195 (Zeev Yahalom);
- Stadtarchiv Karlsruhe:
(Einbürgerugnsakten) 6/BZA 8289 (Sally) und 6/BzA 3732 (Hedwig);
Kennkartendoppel 1/AEST 1238;
- Volkszählung 1939:
https:www.mappingthelives.org/bio/1cb638d8-10ed-4f5e-8338-ea5ffee51f5f ;
- Geschäftsbericht ... des Hilfsvereins der Deutschen Juden
https:sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/rpage/11302224?query=littmann%20briesen ;
- Deportation
https:deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=5092623&ind=-1 ;
- Mur de Noms (Paris)
https:ressources.memorialdelashoah.org/ „Sally Litsmann“ ;
- Records of the Briesen Jewish Community Council; RG 15, F48/F119/F122, YIVO Institute for Jewish Research
https:archives.cjh.org/repositories/7/resources/3513 ;
- Standesregister Briesen, Archiwum Państwowe w Toruniu 69/1245/0/
http:westpreussen.de/pages/forschungshilfen/standesamtsregister/quellen.php?ID=48 bzw. https:genealogiawarchiwach.pl/ ;
- Zeitungsartikel und Adressbucheinträge aus https:kpbc.umk.pl , https:www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper , https:www.europeana.eu und https:dlibra.bibliotekaelblaska.pl/