Kleiner, Sara Laya
Nachname: | Kleiner |
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Vorname: | Sara Laya |
abweichender Vorname: | Sara Lea |
geborene: | Salzmann |
Geburtsdatum: | 8. Juli 1905 |
Geburtsort: | Opatow (Russland, heute Ukraine) |
Familienstand: | verheiratet |
Familie: | Ehefrau von Viktor Moses K.; Mutter von Martha Jenni und Josef Leo |
Winterstr. 23
Biographie
Viktor und Sara-Lea Kleiner wurden bislang unter der Annahme, sie seien bis 1933 in Karlsruhe wohnhaft gewesen, unter die Karlsruher Opfer des Holocaust gezählt. Auch das Gedenkbuch des Bundesarchivs führte sie als in Karlsruhe wohnhaft an. Tatsächlich hat der Autor dieses Beitrags im Karlsruher Gedenkbuches zweifelsfrei den Wegzug der Familie aus Karlsruhe nach Polen bereits 1924 festgestellt. Dort wurden beide Eheleute später zu unterschiedlichen Zeiten Todesopfer des nationalsozialistischen Rassewahns.
Auch wenn sie mit der neuen Erkenntnis formal aus der Karlsruher „Statistik“ herauszurechnen sind, ist es gerechtfertigt, die vom Autor präzis recherchierte Biographie im Karlsruher Gedenkbuch zu veröffentlichen. Viktor und Sara-Lea Kleiner sind auch mit Karlsruhe verbunden und sollen nicht namenlos vergessen werden.
Stadtarchiv Karlsruhe
Viktor Moses Kleiner und Sara-Lea geborene Salzmann
Wigder Mojzesz (Avigdor Moshe), später Viktor, Kleiner wurde am 2. August 1895 in Liski geboren, eine Woche später ist seine Bris Mile (rituelle Beschneidung) in der Geburtsurkunde der nahen Stadt Kolomyja vermerkt. Liski war ein Dorf nahe dem galizischen Städtchen Kolomea in Österreich-Ungarn, heute Lisky im Rajon Kolomyja, Oblast Iwano-Frankiwsk in der Ukraine.
Viktors Mutter hieß Rysia (Rosa Ruchel) Kleiner „false Sperber“. Sie war eine Tochter von Hinde Gitel Kleiner und Abraham Hersz Sperber, die, wie der lateinische Zusatz besagt, rituell durch einen Rabbiner, nicht aber standesamtlich verheiratet waren. Sein Vater wird im Geburtsregister nicht genannt, auch nicht bei Viktors Geschwistern – dort wird ebenfalls jedes Mal auf einen aus Behördensicht „unehelichen“ Familienstand hingewiesen.
Familie Kleiner/Sperber kam um 1913 nach Karlsruhe. 1921 war Mutter Rosa bereits einige Zeit Witwe.1 Im Karlsruher Adressbuch 1922 wird Viktors Vater als früherer Haushaltsvorstand aufgeführt: „Kleiner, David (Rosa) KfmWwe“. Viktors Sohn Leon Arje nannte den verstorbenen Großvater später David Nagler.2 Ein Neffe, Heinrich, nannte ihn in einem Gedenkblatt dagegen David Sperber. 3
Vier Geschwister sind neben Viktor in Karlsruhe belegt, alle gebürtig aus Liski: Salomon Kleiner, geboren am 31. März 1894; Abraham Feibisch (Philipp) Sperber, geboren am 4. April 1897; Chaim (Karl) Sperber, geboren am 11. April 1899 und Perl Heńcia (Paula) Sperber geboren am 24. September 1900, später verheiratete Hackel. Der wechselnde Familienname lässt vermuten, dass die Ämter die Namen im Laufe der Jahre unterschiedlich handhabten – wie es damals öfters vorkam.
Als Viktor im Juli 1921 einen Antrag auf Befreiung von der Beibringung von Ausweispapieren für das geplante Eheaufgebot stellte, gab er an, nach dem Tod des Vaters seit zwei Jahren selbständig ein Rohproduktengeschäft zu führen – heute wäre von einem Recyclingunternehmen die Rede. Viktors Braut Sura-Laya (Sara-Lea) Salzmann war aus Opatow, Russisch Polen (jiddisch „Apt“) gebürtig. Da ihr genaues Geburtsdatum mangels Geburtsurkunde unklar war – nur das Geburtsjahr 1905 – und sie damit erst Ende 1922 mit Sicherheit als volljährig galt, musste dieser Termin abgewartet werden. Sara muss mit der Karlsruher Familie Samuel und Sara Salzmann (Zalcman) verwandt gewesen sein – genau wie, bleibt offen. In einer späteren Wählerliste aus dem polnischen Cieszyn ist Sara mit dem Geburtsdatum 8. Juli und der offensichtlich vertippten Jahreszahl „900“ genannt.4 Leider fehlen verlässliche Angaben über sie. Das Gedenkbuch des Bundesarchivs verzeichnet Sara Kleiner leider nicht.
Ab etwa 1919/1920 führte Viktor also den Altmetall-, Lumpen- und Altpapierhandel „Kleiner&Stechler, Inhaber Viktor Kleiner“. Der Kompagnon war höchstwahrscheinlich der aus Wiśnicz bei Bochnia stammende Joseph Stechler oder sein Sohn Leo. Das Karlsruher Tagblatt vom 11. Januar 1922 brachte eine Annonce, die die Arbeitsweise der Firma illustriert: „Komplettes Fuhrwerk, 1 Pferd (Rapp mittl. Größe), fromm und zuverlässig, sowie Federnpritschenwagen (30 Zentner Tragkraft) zu verkaufen. Kleiner & Stechler, Rüppurrer Straße 92, Telephon 4146.“
Viktor warb zum Beispiel in der Zeitung „Badisches Handwerk“ vom 2. Dezember 1922: „Altmetalle: Kupfer, Messing, Zink, Blei usw., Altpapier, Bücher, Makulatur, Lumpen, Alteisen sowie sämtliche Rohprodukte kaufen laufend zu höchsten Preisen: Kleiner & Stechler, Rüppurrer Str. 92, Tel. 4146.“
Die Wohnung war in der Augartenstraße 56.4, wo auch Mutter Rosa und zeitweilig Bruder Salomon zu Hause waren. Laut Adressbuch 1925 befand sich Fa. Kleiner & Stechler, Rohprodukte und Metalle, nunmehr in der Waldhornstraße 25.
Auch wenn das Geschäft in der beginnenden Inflationszeit sicher nicht florierte, engagierte sich Viktor Kleiner für seine Mitbürger/-innen und gab 1.000 RM für die Initiative „Spenden für die Karlsruher Winternot“ 1922/23.5
Am 9. Januar 1923 wurde Sohn Josef Leo (Arye) in Karlsruhe geboren. Die kleine Familie wohnte zur Zeit seiner Geburt in der Winterstraße 23, wo auch Viktors Bruder Philipp zu Hause war.
Die Wirtschaftslage war für Viktor offenbar katastrophal, denn im April 1923 fand er sich vor Gericht wieder. In vier Fällen hatte er Zinn- und Kupferteile, die der Verkäufer teils aus Eisenbahnwerkstätten gestohlen hatte, weit unter Marktwert angekauft und wurde nun wegen Hehlerei zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, wovon er schon vier Monate Untersuchungshaft verbüßt hatte.6
Am 5. Januar 1924 kam das zweite Kind der Kleiners in Karlsruhe zur Welt, Martha Jenni. Bei ihrer Geburt wohnten die Eltern in der Augartenstraße 56, wie Viktors Mutter.
Ein letztes Mal ist Viktor im Karlsruher Adressbuch 1925 (Stand Dezember 1924) aufgeführt, bevor er mit Frau Sara-Lea und Kindern Leon und Jenni Karlsruhe verließ.
Das Sterberegister von Kolomea belegt für den 13. August 1924 den Tod der kleinen Marta Jenni, der 7 Monate alten Tochter von Wigdor Moses und Sara Kleiner. Die Familie war demnach zurück nach Galizien gezogen und gemeldet in der ulica Mnichówka 53 in Kolomea. 7
Ein paar Jahre später zogen die Kleiners dann nach Cieszyn („Polnisch Teschen“) an der Grenze zur Tschechoslowakei. Die kulturell deutsch-polnisch geprägte Stadt hatte weniger als 10% jüdischen Bevölkerungsanteil, darunter nur wenige Orthodoxe, dafür recht aktive zionistische Gruppen.
Eine Wählerliste für die Wahlen zum polnischen Sejm 19388 weist „Kleiner, Wiktor, Händler und Kleiner, Sara, Privatiere“ in der ul Stawowa 16 in Cieszyn nach, dort wohnhaft seit 1928. Im Haus nebenan, ul Stawowa 18, wohnten laut Wählerliste ab 1934 auch Viktors Bruder Salomon und Schwägerin Karola. 9
In der „Teschner Zeitung“, Nr 17, 1929 inserierte Viktor Kleiner auf Polnisch und Deutsch „Einkauf von Alteisen und anderes Metall, Säcke, Papier usw. Zahle die höchsten Preise dafür“. 10 Das Geschäft befand sich „Stawowa 12, im Hof“. Auch im Oberschlesischen Adressbuch 1931 findet sich „Kleiner Wiktor Handlarz, Stawowa 16, Cieszyn“. 11
Leon Kleiner irrte sich zweifellos bzw. war sehr ungenau mit seinen Angaben im Wiedergutmachungsverfahren um 1960, 12 seine Eltern Viktor und Sara Kleiner seien zuletzt in der Augartenstraße 21 in Karlsruhe gemeldet gewesen und Anfang 1933 nach Polen ausgewiesen worden, wo sie in Teschen/Cieszyn, Oberschlesien, Stawowa 18 gelebt hätten. Da er beim Verlassen der Geburtsstadt Karlsruhe keine sechs Jahre alt war und nach 30 Jahren offensichtlich ohne irgendwelche Dokumente, die er hätte vorlegen können, ist dies vielleicht nachvollziehbar.
Der Sekretär der Jüdischen Gemeinde Karlsruhe, Heinrich Freund, teilte 1960 mit, es lägen keine Unterlagen zu Viktor und Sara Kleiner vor. 13 Auch in der Hinsicht ist die Quellenlage spärlich.
In der Teschener „Dziennik Polski“ vom 17. Mai 1939 lesen wir ein letztes Mal von Viktor Kleiner (übers. aus dem Polnischen):
ALTE ÖSTERREICHISCHE MÜNZEN GESTOHLEN
Dieser Tage brachen unbekannte Täter nachts ein, indem sie die Tür zum Büro des Eisenlagers von Wiktor Kleiner in Teschen an der ul. Kolejowa aufbrachen, wo sie dann 1 kg alte österreichische Nickel- und Kupfermünzen stahlen. Sie zerlegten auch das Fahrrad und nahmen die Einzelteile mit. Der Gesamtschaden beträgt 50 Zloty. Die polizeilichen Ermittlungen dauern an.14
Die Schilderung wirft ein Licht auf die Armut, die sogar schon vor dem Krieg dort geherrscht haben muss.
Leon Kleiner, Beruf „Schmied“, findet sich später, nach seiner Rückkehr „aus Russland“, auf einer Überlebendenliste der Jüdischen Gemeinde Bielsko-Biala 1945-51.15 Daraus folgt, dass der etwa 18-jährige nach dem deutschen Einmarsch auf das Gebiet der Sowjetunion, also in die Ukraine oder Belarus geflüchtet und die Eltern zurückgeblieben waren.
Bereits im November 1939 wurde eine „Umsiedlung“ der Juden aus Cieszyn angeordnet, die aber zunächst nur teilweise stattfand. Viktor war damals Mitte 40, seine Frau Sara-Lea Mitte 30. Es ist anzunehmen, dass die beiden zunächst in Cieszyn oder in der Nähe Zwangsarbeit leisten mussten. Laut Encyclopedia of Jewish Life bestand das Ghetto Cieszyn von Anfang 1940 bis Juli 1942; Viele Juden wurden von dort nach dem Gebiet Zaglebie gebracht, dem sogenannten Kohlebecken mit den Städten Bedzin und Sosnowiec und von dort nach Auschwitz.
Leon Arje gab in Anfragen an den Internationalen Suchdienst (ITS Arolsen) im Jahr 1960 an,16 sein Vater sei von Teschen aus um 1941 in Arbeitslager gekommen, wo er vermutlich zu Tode kam. Seine Mutter sei etwa 1942 aus Teschen nach Auschwitz deportiert worden, wo sie umkam. Auch wenn andere Angaben von Leon Arje ungenau oder nicht haltbar sind – etwa die Ausweisung 1933 aus Karlsruhe – sind diese Aussagen zum Schicksal der Eltern absolut plausibel.
Es ist damit anzunehmen, dass Viktor Kleiner 1941 oder später im Generalgouvernement dem „Tod durch Arbeit“ zum Opfer fiel und Sara-Lea Kleiner 1942 in das nur 60 km von Teschen entfernte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde.
1949 wanderte Leon über Italien nach Israel ein. 1958 war er Traktorist in Mishmar Ayalon. mit Ehefrau und vier kleinen Kindern. Leon (in Israel: Arye) ist 2012 im hohen Alter verstorben und auf dem Yarkon Cemetery in Petach Tikva bestattet.
(Christoph Kalisch, September 2024)
Anmerkungen:
1) Angaben von Viktor Kleiner 1921, Beilage zum Heiratsregister, Stadtarchiv Karlsruhe;
2) Arolsen Archives, ITS-Akten, 06030302.0.796.966, Anfrage von Leon Arje Kleiner zu seinen Eltern, 1960;
3) YadvaShem Page of Testimony von Henry Sperber für seinen Vater Filip Faibish Sperber, Denver 1992;
4) https:sbc.org.pl/en/publication/154634 (S. 63);
5) https:digital.blb-karlsruhe.de/blbz/periodical/zoom/2532574?query=%22Viktor%20Kleiner%22 ;
6) Karlsruher Tagblatt, 8. April 1923;
7) http:agadd2.home.net.pl/metrykalia/300_new/album/3446/index.html#img=1_300_0_0_3446_0027.jpg ;
8) Wybory do Sejmu RP 1938 r. – spis wyborców z miejscowości Cieszyn. Obwód głosowania nr 68, https:sbc.org.pl/en/publication/154634 (S. 63), ähnlich bereits 1935 vgl. https:sbc.org.pl/publication/138168 (S. 64) ;
9) https:sbc.org.pl/en/publication/154634 (S. 64)
10) https:sbc.org.pl/publication/84630 S. 5;
11) Ogólna księga adresowa i przewodnik miasta Cieszyna. Według autentycznych danych zestawiono i wydano przez nakładcę (1931), S. 111, vgl. https:www.sbc.org.pl/publication/738646 ;
12) Angaben in GLA 480/29217 und in Anfrage an ITS Arolsen 1960;
13) Landesarchiv Baden-Württemberg – Generallandesarchiv GLA 480/29217;
14) https:*www.sbc.org.pl/publication/20760 (S. 102 von 609);
15) vgl. JRI-Poland nach Kopie in USHMM Survivors Registry Collection: Document File EE3448;
16) Arolsen Archives, Anfragen bei ITS Arolsen (1960), Vorgangsnrr. 06030302.0.796.966 und 06030302.0.796.967.