Moses, Nathan
Nachname: | Moses |
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Vorname: | Nathan |
Geburtsdatum: | 7. Juni 1886 |
Geburtsort: | Kirchen/Lörrach (Deutschland) |
Familienstand: | verheiratet |
Familie: | Ehemann von Betty M.; Vater von Hanna Karoline und Susanne Mina |
1926-1927: Raiherwiesenstr. (Reiherwiesenstr.) ,
bis 1932: Vorholzstr. 12,
1932-1935: Ritterstr. 8,
1934-1936: Akademiestr. 28,
ab 1936: Karlstr. 48
später nach Récébédou (Frankreich),
später nach Nexon (Frankreich),
später nach Masseube (Frankreich),
später nach Reillanne (Frankreich)
Biographie
Nathan und Betty Moses
Dieser Bericht gilt Leben und Schicksal der jüdischen Familie Moses aus Karlsruhe und ist exemplarisch für die ungezählten Juden aus Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Südbadischen stammend, kam Nathan Moses in die Landesmetropole Karlsruhe, um hier eine hoffnungsvolle Karriere als Rechtsanwalt zu starten. Er heiratete die aus dem gleichen Dorf stammende Betty Dreifuß, zwei gesunde, hübsche Töchter, Hanna und Susanne, machten das Glück der Familie vollkommen. Die Machtübernahme Hitlers 1933 machte diesem Glück jedoch ein Ende. Es folgten soziale Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung, Ausplünderung und schließlich Ermordung. Den Töchtern Hanna und Susanne gelang unter schwierigen und konspirativen Umständen und mit viel Glück die Flucht in die Schweiz, sie überleben. Das ist die Ausnahme vom jüdischen Schicksal jener Tage. Doch der Reihe nach.
Nathan Moses - Kindheit und Jugend
Die Geschichte der Familie Moses beginnt in dem Dorf Kirchen, heute Ortsteil von Efringen, im Landkreis Lörrach gelegen, im Süden Badens im Markgräflerland, einem Bauerndorf von damals etwa 1.000 Einwohnern mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 15 %. Hier wurde Nathan Moses am 7. Juni 1886 als einziges Kind der Karoline Moses geboren; sie war - 1851 geboren - das 9. von 10 Kindern (6 Jungen, 4 Mädchen) des aus Fischingen, einem Nachbardorf, stammenden Schusters Samuel Moses (geboren 1800) und der aus Niederemmendingen stammenden Wilhelmine Nelson (geboren 1813). Vormund von Nathan Moses war Marx Braunschweig aus Kirchen, ein Bruder des vermuteten Vaters Israel Braunschweig. Als er 1897 starb, wurde Jakob Moses Vormund, ein Bruder der verstorbenen Mutter. Der Vater von Israel und Marx Braunschweig war Nathan Braunschweig, und von diesem bekam wohl Nathan Moses seinen Namen.
Am 4. November 1892 starb Karoline Moses, 41 Jahre jung; woran ist nicht bekannt. Hanna, die Enkeltochter - aus ihrer fabelhaften Erinnerung wird noch vielmals berichtet - erinnert sich aus ihren Kindertagen noch deutlich an ein großes Gemälde einer wunderschönen Frau im Hause der Pflegeeltern (s.u.) ihres Vaters, das seine Mutter zeigte. Wo lebte Karoline Moses mit dem kleinen Nathan von dessen Geburt an bis zu ihrem frühen Tod? Vermutlich bei einer der Geschwister-Familien, der Vater war schon 1863 gestorben, die Mutter 1888. Und eine dieser Familien wird wohl auch den 6-jährigen Waisen Nathan aufgenommen haben, jedenfalls für einige Zeit, denn Nathan Moses schrieb - viele Jahre später- in seinem Lebenslauf, dass er auch in Kirchen kurzzeitig zur Schule gegangen sei, danach habe er für etwa 1 Jahr bei Verwandten in Lörrach gelebt, das müsste der spätere Vormund Jakob Moses gewesen sein. Nach 1 - 2 Jahren kam er zu den Pflegeeltern Bickard nach Altdorf im Landkreis Lahr. Dorthin hatte Mutters Schwester Hinette, geboren 1848, den Viehhändler Leopold Bickard (geboren 1848), aus einer alteingesessenen Familie aus Altdorf stammend, 1880 geheiratet. Die Bickards hatten 5 Kinder, von denen allerdings 3 wenige Tage nach der Geburt starben, und im Dezember 1893 starb auch das 4. Kind, die 9 Jahre alte Rebekka, übrig blieb nur die jüngste Tochter Julie, geboren 1887. Sie teilten damit das Schicksal von Leopold Bickards Vater Samson, dem auch nur 2 von 8 Kindern erhalten blieben. Das konnte der äußere Anlass für die Bickards gewesen sein, den kleinen Nathan bei sich aufzunehmen, vielleicht auch, dass die Tochter nicht als Einzelkind aufwachsen sollte, zumal sie gleichaltrig mit Nathan war.
Nathan ging dann in Altdorf in die dortige Volksschule, für 2 Jahre oder auch etwas
mehr, bis er 1895 auf das Real-Gymnasium nach Ettenheim kam, der nächst größeren Stadt mit einer solchen schulischen Einrichtung. Altdorf, zu jener Zeit ein Bauerndorf mit ca. 1000 Einwohnern und einem jüdischen Bevölkerungsanteil von fast 25 %, zweitgrößte Judengemeinde im Landkreis Lahr, wurde also die neue Heimat von Nathan Moses, hier wuchs er auf, hier hatte er Freunde. Die Pflegeeltern Bickard zogen ihn wie ihr eigenes Kind auf. Freunde gewann er auch am Gymnasium in Ettenheim, das über viele Jahre hinweg auch zahlreiche jüdische Schüler hatte. Zu diesen Freunden aus der Gymnasialzeit zählte z.B. Leopold Weil, aus dem Nachbardorf Schmieheim stammend, später Gymnasial-Professor am Humboldt-Realgymnasium in Karlsruhe (sein Leben ist beschrieben in der Biografie Moos, weil mit dieser Familie verwandtschaftlich verbunden).
Schon als Pennäler waren Nathan Moses und auch sein Freund Leopold Weil stark an der zionistischen Bewegung interessiert, beide wanderten 1903 zu Fuß von Kirchen nach Basel zum Zionisten-Kongress, an dem - letztmalig - auch Theodor Herzl teilnahm. Zu Fuß stramm marschieren, das war er gewohnt, denn er ging den täglichen Schulweg von Altdorf nach Ettenheim, etwa 4 oder 5 km, zu Fuß.
Der Pflegevater Leopold Bickard starb bereits am 3. März 1916, 68-jährig. Zu dieser Zeit war Nathan im Krieg. Die Pflegemutter Hinette starb am 26. Februar 1922, ebenfalls in Altdorf. Die Tochter Julie, einziges Kind, Nathans Cousine, seit 1917 mit dem aus Gailingen stammenden, 13 Jahre älteren Zigarrenhändler Emil Rothschild verheiratet, lebte mit ihrer Familie - die Tochter Jenny wurde 1920 geboren - im elterlichen Haus.
Am 13. Juli 1904 legte Nathan Moses sein Abitur in Ettenheim ab mit dem Gesamtergebnis „gut“. Er lernte gut und fleißig, und er war ehrgeizig. Am 26.6.1905 legte er noch eine Ergänzungsprüfung in Latein und Griechisch ab, neben seinem bereits begonnenen Studium.
Nathan Moses -- Berufsausbildung, erste berufliche Stationen, Krieg
Nathan Moses wollte Rechtsanwalt werden. Von wem er die „Inspiration“ dazu hatte, ist nicht bekannt. Bereits im Oktober 1904 begann er das Jura-Studium in Freiburg und absolvierte dort auch das gesamte Studium, mit Ausnahme des Sommer-Semesters 1906, das er an der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität verbrachte. Am 4. April 1908 legte er seine Erste juristische Staatsprüfung ab, die er jedoch nicht bestand, erst in der Wiederholungsprüfung am 11. Dezember 1908 bestand er, allerdings nur mit mäßigem Erfolg mit dem Prädikat „genügend“. In der Zeit von Dezember 1908 bis Dezember 1912 absolvierte er sein Referendariat, damals hieß diese Ausbildungszeit Rechtspraktikum, beim Amtsgericht in Ettenheim, beim Bezirksamt in Ettenheim, bei der Staatsanwaltschaft in Freiburg, beim Landgericht in Freiburg und machte auch einige Anwaltsvertretungen bei Anwälten in Karlsruhe und Lahr. Im Dezember 1912 legte er seine Zweite juristische Staatsprüfung ab, am 23. Dezember 1912 wurde er zum Gerichtsassessor ernannt.
Sein erster beruflicher Karriereschritt war die Niederlassung als Anwalt beim Amtsgericht in Offenburg im März 1913, mit Zulassung beim Landgericht in Offenburg.. Dann kam bald der Krieg. Vom 1. Mai 1915 bis zum 26. November 1918 verrichtete er seinen Militärdienst im Krieg gegen Frankreich, die meiste Zeit als Kanonier bei verschiedenen Feldartillerie-Regimentern, zeitweilig auch als Beobachter und Telefonist und Maschinenschreiber beim Stab. Verdun, Reims, Maas, Aisne, Lothringen sind einige seiner Kriegsstationen.
Nach dem Krieg, den er offensichtlich und glücklicherweise ohne Verwundung überstanden hatte, ließ er sich im März 1919 als Anwalt in Ettenheim nieder, mit Zulassung beim Landgericht in Freiburg. Für ihn war das ein beruflicher Start wieder ganz von vorn, denn der Krieg hatte den mühsamen Aufbau einer eigenen Anwaltspraxis in Offenburg abrupt beendet. In der Zeit nach dem Krieg, wann genau und wie lange, ist nicht mehr nachvollziehbar, war er auch Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, der Partei Friedrich Naumanns und des Außenministers Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 von der rechtsextremen Organisation Consul ermordet wurde.
Im November 1922 ließ er sich als Rechtsanwalt in Durlach nieder, war hier beim Amtsgericht Durlach akkreditiert und zugelassen beim Landgericht Karlsruhe und deren Kammer für Handelssachen (Außenstelle) in Pforzheim
Er wohnte zuerst in der Sofienstraße 5 (heute Karl-Weysser-Straße), danach in der Ettlinger Straße 49 (heute Badener Straße) und hatte ein Büro in der Leopoldstraße 6 (heute Karlsburgstraße). In der Sofienstraße war er nicht gemeldet, aber sein Name war im Adressbuch unter dieser Anschrift. Während seiner Durlacher Anwalts-Zeit hatte Nathan Moses zu einem erheblichen Anteil Landkundschaft, d.h. Bauern und kleine Gewerbetreibende aus Durlach und umliegenden Dörfern als Klientel. Mit dieser Klientel ‚konnte er gut’, diese Menschen waren ihm aus seinem Heimatort vertraut. Nicht selten entlohnten sie ihn statt in Geld in Naturalien für seine Dienste; für Freiberufler war das damals keineswegs ungewöhnlich. Seine Durlacher Anwaltspraxis florierte recht gut, so der ehemalige Karlsruher Anwaltskollege Dr. Alfred Kahn, den das Schicksal in einer Odyssee über Marokko, Jamaika und Mexiko 1945 nach New York brachte, in einer Stellungnahme im Wiedergutmachungsverfahren in den 50er Jahren nach dem Kriege.
Betty Dreifuß, Heirat, Geburt der Kinder, Übersiedelung nach Karlsruhe
Am 17. April 1925 heiratete Nathan Moses in Altdorf die von hier stammende Betty Dreifuß, geboren am 19. November 1889, ältestes von 3 Kindern des Viehhändlers David Dreifuß aus Altdorf (geboren 1855) und seiner aus Kuppenheim stammenden Frau Bertha geboren Kahn (geboren 1868). Von den Geschwistern Betty Moses’, Gustav (geboren 1890) und Hermine (geboren 1893), wird noch berichtet. Der Vater David Dreifuß hatte 11 Geschwister, wovon 9 das Erwachsenen-Alter erreichten. Betty war also mit Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen reichlich ,gesegnet’. Bettys Vater David war aufgrund seiner Körpergröße („Gardemaß“) während seiner Militärdienstzeit von 1876 - 1879 beim 1. Badischen Leib-Grenadier-Regiment No. 109 zeitweilig der Schlosswache des Großherzogs Friedrich. in Karlsruhe zugeteilt.
Die Vorfahren von David Dreifuß und Bertha Kahn lebten in Altdorf bzw. Kuppenheim schon seit - nachweisbar - Mitte des 18. Jahrhunderts.
Betty Moses wuchs behütet in ihrer Familie auf. Sie besuchte die Volksschule am Ort. Eine Berufsausbildung im heutigen Verständnis hatte sie nicht. Damals war das Erziehungsziel der Eltern für ihre Töchter, bei Juden wie bei Christen, die Vorbereitung auf eine spätere Heirat und die Rolle als Mutter. So stand Hauswirtschaft wie selbstverständlich im Mittelpunkt. Alles was Betty konnte, hatte sie von der Mutter. Zusätzlich lernte sie jedoch noch die Reform- und Diätküche, was für ihre spätere Ehe sehr nützlich war.
Nathan und Betty kannten sich aus Kindertagen, die Elternhäuser befanden sich in Altdorf in der Schmieheimer Straße, nur ein paar Häuser auseinander. Verbürgt ist, dass sie ihre Hochzeitsreise in den Schwarzwald nach Freudenstadt machten. Dem Schwarzwald blieben sie - und später auch ihre Kinder - durch zahlreiche Ausflüge sehr verbunden.
Unmittelbar nach der Hochzeit zogen sie nach Durlach und wohnten in dem schon erwähnten Haus Ettlinger Straße 49, zogen aber im Folgejahr in die Raiherwiesenstraße 20 und ein 3/4 Jahr später, im Juli 1927, 12 Wochen vor der Geburt der Tochter Hanna am 30. September 1927, in die Rittnertstraße 12, damals das letzte Haus in dieser Straße. Möglicherweise war die vorherige Wohnung im Hinblick auf den erwarteten Familienzuwachs zu klein. Am 11. April 1929 wurde die Tochter Susanne geboren, wie schon ihre Schwester in der Landesfrauen-Klinik in Karlsruhe. In Durlach lebte die Familie bis 1931. Im gleichen Haus wohnten auch die Eigentümer, ein älteres Ehepaar mit Namen Pfeiffer, ihnen gehörte ein schwarz-weißer Jagdhund mit dem Namen „Treff“, mit dem die Kinder nur zu gern spielten. Hier hatten die Kinder bis zum Umzug nach Karlsruhe ihr „Paradies“ – der bewaldete Turmberg vor der Haustür mit dem „Bähnle“ zum Turmberg hinauf, die Eltern machten viele, viele Spaziergänge mit den Kindern in dieser idyllischen Umgebung, und die Kinder konnten sich ,austoben’. Eine Hausangestellte, eine Kinderfrau, „Deta“ genannt, aus Grafenhausen stammend, und eine Näherin, die zeitweise kam, halfen Betty Moses. Im Februar 1929 beantragte Nathan Moses die Zulassung beim Amtsgericht Karlsruhe (anstelle Durlach). Da er seinen Wohnsitz in Durlach jedoch beibehalten wollte, wurde ihm dies aufgrund der so genannten Residenzpflicht-Regelung mit der Auflage genehmigt, dass er in Karlsruhe ein Büro unterhalten müsse. So mietete er im Hause Kaiserstraße 34 ein Büro an. Das Haus gehörte der Jüdischen Gemeinde. Ein Eintrag im Adressbuch ließ sich nicht nachweisen. 1931 zog die Familie dann doch nach Karlsruhe um, in die Vorholzstraße 24. Dieses Domizil war jedoch nicht von Dauer, aus welchen Gründen auch immer, denn schon 1932 zog die Familie um in die Ritterstraße 8 in Karlsruhe. Das Büro befand sich nunmehr in der Wohnung.
Familie Moses in Karlsruhe
Warum verlegte Nathan Moses seinen Dienstsitz nach Karlsruhe? Und warum zog die Familie nach Karlsruhe um? Viele Mutmaßungen, viele mögliche Antworten. Die Kinder könnten der Grund für den Ortswechsel gewesen sein.
Die Familie Moses gehörte zwar zur Jüdischen Gemeinde mit der Synagoge in der Kronenstraße, besuchte aber hauptsächlich die Synagoge in der Karl-Friedrich-Straße, vermutlich weil näher zur Wohnung gelegen.
Anfang der 30er Jahre, so weiß Hanna Meyer-Moses zu berichten, hatte der Vater gesundheitliche Probleme. Jetzt kamen der Mutter die Kenntnisse aus der Diät- und Reformküche zu statten, sie sorgte für eine vollständige Umstellung der Ernährung für die ganze Familie, auch mit Orientierung an der Lehre des Schweizer Arztes Dr. Bircher-Benner. Von nun an gab es Rohkost aus allem, was sich zum Rohverzehr eignete. Obst und Gemüse wurde nur noch auf dem Markt von einem Bauern gekauft, von dem bekannt war, dass er nicht mit Jauche düngte, und vielerlei Lebensmittel im Reformhaus.
Im Haus Ritterstraße 8, in das die Familie 1932 umzog, befand sich im Erdgeschoss die jüdische Möbelhandlung „Daniel Reiss“, betrieben von Max Bloch, dem Hauseigentümer. Diese musste er im Frühjahr 1934 aufgeben. Die Moses‘ bewohnten das 2. Obergeschoss, zogen aber bereits 1934/35 in die Akademiestraße 28. [In der Fassung 2007 war eine Angabe über die „Arisierung“ des Hauses enthalten, die sich nach Überprüfung als nicht richtig erwies und gestrichen wurde. Februar 2024]
Der bereits erwähnte Anwaltskollege Dr. Alfred Kahn berichtete, dass schon bald nach der Machtübernahme Hitlers die Anwaltspraxis von Nathan Moses schlagartig zusammenbrach, die ländliche Klientel, in Sonderheit die Bauern, wagte nicht mehr, einen jüdischen Rechtsanwalt mit ihren Angelegenheiten zu betrauen, die Familie musste hauptsächlich von Ersparnissen leben, und das war nach nur 10-jähriger Anwaltstätigkeit, von Null beginnend, nicht viel. Nathan Moses beschäftigte zu dieser Zeit noch ein Lehrmädchen namens Anna Rummel, das er aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr bezahlen konnte. Unter dem 31. März 1933 richtete er deshalb ein Gesuch um Unterstützung an das Justizministerium. Der Karlsruher Anwaltsverein bewilligte ihm für 6 Monate eine monatliche Unterstützung von 30 RM. Mit diesem Geld konnte Anna Rummel weiter beschäftigt werden. Ob ihr das geholfen hat? Eines Tages blieb sie jedenfalls weg, angeblich hatte sie ein Bein gebrochen.
Betty Moses versuchte in dieser sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage etwas zum Auskommen der Familie beizutragen, so die Tochter Hanna, und stellte mittels einer Saftpresse verschiedene Säfte her, die von irgend jemand irgendwie verkauft wurden, aber auch Kefir und Quark („Bibbeleskäs“). Eine ältere Frau mit dem Habitus einer Beamtenwitwe lieferte die Bakterienkulturen, bis sie eines Tages wegblieb, weil sie mit Juden nichts mehr zu tun haben wollte. Und wie Hanna Meyer-Moses weiter berichtet, war ihre Mutter sehr geschickt im Nähen und anderen Handarbeiten. Diese Fähigkeit half dem Familien-Budget viel für die Bekleidungserfordernisse und -wünsche zweier heranwachsender Mädchen.
Als am Samstag, dem 1. April 1933 reichsweit eine Boykott-Aktion gegen jüdische Geschäfte, Arzt- und Anwaltspraxen durch SA-Männer erfolgte, z.T. mit massiven Verwüstungen der Geschäfte und Praxen, sogar von Wohnungen, blieb die Praxis von Nathan Moses glücklicherweise verschont.
An der zionistischen Bewegung nahm Nathan Moses mehr denn je Anteil, denn aus dem ursprünglichen jüdischen Heimstatt-Ideal in „Erez Israel“ war jetzt nach der Machtergreifung der Nazis ein Fluchtzielland geworden, freilich noch nicht vor dem Hintergrund der massiven Bedrohung von Leib und Leben. Im August 1933 wurde auf dem Prager Zionistenkongress die „Zentralstelle für die Auswanderung deutscher Juden nach Palästina“ mit Sitz in Berlin gegründet. Nathan Moses übernahm die Leitung des Karlsruher Büros dieses so genannten Palästina-¬Büros für das Land Baden. Es galt, den auswanderungswilligen Juden in jeder Art und Weise zu helfen und ihre Bemühungen zu unterstützen. Dazu gehörte auch, für entspr. Ausbildungen in landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen zu sorgen, auf die ein künftiges Leben im Auswanderungsland, also Palästina, gestützt werden konnte. Für den handwerklichen Bereich verwies Nathan Moses „als deutscher Zionist und Vertrauensmann der Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ in einem Memorandum vom 18. Dezember 1933 an die „Reichsstatthalterei Baden“, also die Regierung, auf die Weigerung der Handwerksbetriebe, jüdische Lehrlinge aufzunehmen und bat um Unterstützung des Anliegens, jungen Juden die Möglichkeit zur Ausbildung zu geben. Der Vorstoß ging ins Leere, denn das mit der Beantwortung beauftragte Badische Finanz- und Wirtschaftsministerium verwies lediglich auf ein Rundschreiben des Handwerks- und Gewerbekammertages, dass ein Verbot der Einstellung jüdischer Lehrlinge nicht ausgesprochen werde, von einer Zusage, die Handwerksbetriebe zur Einstellung zu ermuntern, war jedoch keine Rede.
Nach dem Umzug in die Akademiestraße 28 gründete Nathan Moses ein Reisebüro unter dem Namen seiner Frau Betty, so stand es auch auf dem Schild am Hauseingang „Reisebüro Betty Moses 1. Etage“, es war ein Teil der Wohnung. Aber dieses Reisebüro vermittelte keine Urlaubsreisen, wie wir sie heute kennen, vielmehr war der Zweck ausschließlich auf die Beschaffung von Auswanderungsmöglichkeiten und Hilfe bei der Besorgung der vielen Bewilligungen und Papiere für die auswanderungswilligen Juden ausgerichtet. Im gleichen Jahr 1935 nahm Nathan Moses in seiner Eigenschaft als Leiter der Zweigstelle des Palästina-Amtes für das Land Baden am 19. Zionistenkongress in Luzern teil. In Karlsruhe gab es auch eine zionistische Ortsgruppe, in der Nathan Moses mit vielen bekannten jüdischen Persönlichkeiten tätig war. Anfang 1939 wurden allerdings alle zionistischen Organisationen auf Anordnung Himmlers aufgelöst.
Prägende Kindheitserinnerungen
Als die Familie in der Vorholzstraße wohnte, besuchte Hanna Moses den Montessori¬-Kindergarten in der Klosestraße Dort konnte sie viele nützliche Dinge erlernen, an die sie sich noch heute, nach 75 Jahren, erinnert. Nach dem Umzug in die Ritterstraße besuchte sie einen Kindergarten im „Dörfle“.
1934 kam Hanna Moses in die Schule, es war eine reine Mädchenklasse in der Seminarschule beim - damals noch unbebauten - Engländerplatz; ein Jahr später kam auch Susanne Moses in diese Schule. Zu Schulbeginn sowie vor und nach den Ferien mussten alle Schüler im Hof zum Fahnenappell antreten, wie es damals an allen Schulen im Lande üblich war, und mit erhobenem rechten Arm (Hitlergruß) das Deutschland-Lied und das Horst-Wessel-Lied singen, auch die jüdischen Schüler. 1934, nach den Sommerferien, wurde jedoch den jüdischen Schülern die Teilnahme an diesem Zeremoniell verboten, sie mussten auf Anordnung des Rektors Kindervater, immer parteibeflissen in SA-Uniform, im Klassenzimmer bis Unterrichtsbeginn verbleiben und werden darüber sicherlich nicht traurig gewesen sein; ein generelles Teilnahmeverbot von jüdischen Schülern an derartigen Ritualen wurde erst mit Anweisung des Badischen Ministeriums für Kultus u. Unterricht vom 23. Juni 1938 erlassen. Eine Schultüte zur Einschulung - wie sonst allgemein üblich - bekam Hanna Moses jedoch wegen der Ernährungs-Prinzipien der Mutter nicht, diese war strikt gegen Süßigkeiten. Aus dem gleichen Grund war die Mutter auch gegen jede Kindereinladung, denn sie hatte beobachtet, dass die Kinder oftmals mit Süßigkeiten überfüttert wurden und sich danach erbrachen.
Im Frühjahr 1935 kam Hanna Moses zusammen mit einigen Mitschülerinnen in die Leopoldschule, ebenfalls in eine reine Mädchenklasse.
Die Familie Moses hatte immer enge Kontakte zu ihren Verwandten in Kirchen und Kuppenheim, vor allem aber zu den Verwandten in Altdorf, wo Nathan und Betty Moses aufgewachsen waren. Alle Ferien sowie die jüdischen Feiertage, so berichtet Hanna Meyer-Moses, verbrachten sie bei den Großeltern in Altdorf, wo sie und ihre Schwester mit den Nachbarskindern der Umgebung auf der Straße spielten, auf der noch richtiges ländliches Leben herrschte: die Kühe wurden am Dorfbrunnen getränkt, die Gänse flogen in dichten Scharen die Dorfstraße entlang, die Pferde wurden in der dem großelterlichen Haus gegenüber liegenden Schmiede beschlagen. Und der Sohn des Dorfschmiedes, gleichaltrig wie Hanna Moses, sagte ihr einmal im Alter von 4 Jahren: „gell Hanne, wir heiraten einander.“ An Ostern durften die Kinder im Garten des benachbarten Bauern bunte Ostereier suchen und oft gab die Bäuerin ihnen dick mit Butter und Honig beschmierte Brote. Die Kinder spielten mit den Dorfkindern Räuber und Gendarm. Wenn es regnete, saßen die Kinder auf der Treppe des großelterlichen Hauses und beobachteten die Schwalben, die unter dem vorkragenden Dach nisteten und ihre Jungen fütterten. In Altdorf lernte Hanna Meyer-Moses auch Fahrrad fahren, mit dem Rad der Großcousine Jenny Rothschild. In Altdorf besuchte die Familie auch, so oft es ging, die dortige Synagoge.
So wie die Moses’ immer wieder zu ihren Eltern und Großeltern auf’s Dorf zurückkehrten, taten dies auch andere jüdische Familien, die ebenfalls in umliegende Städte verzogen waren, um dort ein besseres Auskommen zu finden.
Hanna Meyer-Moses: „Nach 1933 änderte sich das Klima im Dorf. Die Nachbarn grüßten schon bald nicht mehr, die Dorfbewohner kauften nicht mehr in den jüdischen Geschäften ein, und einige Kinder begannen, uns Steine nachzuwerfen, wenn wir Kinder allein auf der Straße erschienen. Sie hielten uns auch die Faust unter die Nase und sagten: „Ihr habt den Heiland gekreuzigt!“ - Von wem wohl mögen diese Kinder diesen Unsinn eingebläut bekommen haben?! Da sich die Situation von Jahr zu Jahr immer mehr zuspitzte, ließen die Eltern die Kinder 1936 zum letzten Mal nach Altdorf in die Ferien reisen. Da Altdorf als Ferienziel nicht mehr in Betracht kam, hatte die Mutter irgendwie von einem Projekt, Jüdische Kinder ‚auf’s Land’ erfahren und so kam Hanna für die Sommerferien 1937 nach Weinheim zu einer Familie Hamburger, mit eigenem Haus, Auto und einem - damals noch - großbürgerlichen Lebensstil. Dort verbrachte sie eine wunderschöne Zeit, die noch heute, nach 70 Jahren, in vielen Details bei ihr in lebhafter Erinnerung ist. Sie wurde dermaßen verwöhnt, dass die Mutter nach Rückkehr zu Hause sie wieder auf den Boden zurückholen musste.
Mit Beginn des Schuljahres 1936/37 war es den jüdischen Kindern nicht mehr erlaubt, ihre angestammte Schule zu besuchen, sie mussten vielmehr in die Jüdische Schule gehen, die in einem Stockwerk der Lidellschule in der Markgrafenstraße eingerichtet wurde. Die Lidellschule war eine Art Sonderschule für lernschwache Kinder, im Volksmund „Holzboden-¬Gymnasium“ genannt. Die Trennung zwischen arischen und jüdischen Kindern setzte sich auch auf dem Schulhof fort. Hier lernte Hanna auch Esther Hirsch kennen, Tochter des bekannten Fußballspielers Julius Hirsch und Schwester des legendären Heinold Hirsch, der nach dem Kriege das weit über die Region hinaus bekannte Reiseunternehmen Hirsch gründete und aufbaute. Esther Hirsch wurde die beste Freundin von Hanna und diese besuchte sie in der Folge auch oft zu Hause in der Murgstraße in Karlsruhe¬-Weiherfeld, wo die Familie Hirsch damals wohnte.
Die Familie Moses war inzwischen von der Akademiestraße in die Karlstraße 48 umgezogen, sie bewohnten hier eine große 6-Zimmer-Wohnung im 1. Stock des dem Bäckermeister Emil Wachter gehörenden Hauses, in der Nathan Moses auch seine noch immer bestehende Anwaltspraxis unterhielt; auch das Reisebüro wurde hierher verlegt.
Wenn der immer freundliche und zu Späßen aufgelegte Postbote den von der Schule nach Hause springenden Moses-Kindern begegnete, fragte er sie allemal: Hasch Dei Supp scho gesse?’, und so wurde er heimlich der „Suppenbriefträger“ genannt. Aber eines Tages sagte der Briefträger zu den Mädchen kein Wort mehr, wenn er ihnen begegnete, schaute auf die andere Straßenseite und nahm nicht einmal ihren Gruß zur Kenntnis. Die kleinen Mädchen konnten sich keinen Reim darauf machen.
Von Zeit zu Zeit kam eine so genannte Weißnäherin, eine Frau Wittlinger, ins Haus, um für die Kinder Kleider und Schlafanzüge zu nähen, eine rotbackige, freundliche Frau. Eines Tages erklärte sie der Mutter der Kinder, dass sie nicht mehr zum Nähen kommen könne, weil ihr Sohn Karl jetzt in der Hitlerjugend sei. Im Unterschied zum Briefträger hatte sie wenigstens einen Grund für ihr Wegbleiben genannt. Dieser Sohn wurde nach dem Krieg ein bekannter Schriftsteller und Bühnenautor.
Die Kinderjahre von Hanna und Susanne Moses waren natürlich nicht nur durch solche Erlebnisse bestimmt. Die Eltern gaben ihnen ihre ganze Liebe, Fürsorge und Aufmerksamkeit: viele gemeinsame Spaziergänge sowie Ausflüge in den geliebten nahen Schwarzwald wurden unternommen. Die Nähe ihrer Wohnung zum Schloss machte es den Kindern auch möglich, im Schlossgarten zu spielen, allerdings selten zusammen, altersbedingt waren die Gemeinsamkeiten der Kinder eher spärlich. Der Kreis der Freundinnen war - bedingt durch die zahlreichen Umzüge - klein, umso mehr stand das Familienleben im Mittelpunkt.
Mit zunehmendem Alter der Kinder spielte die Schule eine stärkere Rolle in ihrem täglichen Leben, andere Aktivitäten wie z.B. Sport (Turnen) kamen hinzu. Hanna, die ältere der beiden Kinder, wurde Mitglied im - jüdischen - Sportclub TCK. Sportlehrer war anfangs Erich Simon, nach seiner Auswanderung nach Südamerika die bei allen so beliebte Annerose Wolf. Anfang 1938 kam dann noch Klavierunterricht dazu, den Hanna ihrer Mutter „abgetrotzt“ hatte; die Mutter hatte vergeblich versucht, der Tochter das Ansinnen auszureden, zumal die Familie kein Klavier hatte. Klavierlehrerin war Rosi Schweizer, damals wohnhaft Beethovenstraße 11. Das notwendige Klavierspiel-Üben erfolgte bei der Familie des Reichsbahn-Oberinspektors a.D. Max Kahn, Ritterstraße 6, einem entfernten Verwandten der Mutter, und bei der Familie Kopilowitz, Inhaber der Chem. Dentalfabrik Dr. Acker & Co, wohnhaft Hirschstraße 101, Freunde der Eltern. Mit den November-Pogromen des gleichen Jahres war dann die „Klimperei“ zu Ende, wie Hanna berichtet.
Die letzten Jahre in Karlsruhe
Nathan Moses hatte mit seinem Palästina-Amt und der damit verbundenen intensiven Beratung derjenigen, die nach Palästina auswandern wollten, alle Hände voll zu tun. Für diejenigen, die als Auswanderungszielland die USA oder andere Länder im Visier hatten, brachte er eine gewisse Geringschätzung zum Ausdruck; er war als überzeugter Zionist der Meinung, Juden gehörten nach Palästina. Die vom Palästina-Amt in Berlin ausgestellten Einwanderungs-Zertifikate ermöglichten aber nicht nur Einzelpersonen die Einreise, sondern auch Ehepaaren. Nicht selten wurden daher diese Zertifikate dazu genutzt, um „Zweck“¬(„Schein“-) Ehen zu arrangieren, um so einer weiteren Person die Ausreise zu ermöglichen. Nathan Moses war Realisator dieser Art Ehevermittlung. Manchmal hielten solche Ehen, meist jedoch nicht. Nathan Moses fungierte oftmals bei derartigen Trauungen als Trauzeuge und berichtete danach zu Hause mit Befriedigung: „Jetzt habe ich wieder zwei zusammengebracht“.
Natürlich hoffte Nathan Moses auch, für sich und seine Familie derartige Einwanderungs¬-Zertifikate zu erhalten, die Auswanderung nach Palästina war mehr denn je sein Ziel, obwohl ihm schon seit Jahren klar war, dass die beruflichen Möglichkeiten, vor allem für Intellektuelle und Rechtsanwälte im besonderen, in Palästina extrem schwierig waren. Im Hinblick auf sein Ziel erlernte er sogar als Autodidakt die hebräische Sprache. Das befähigte ihn auch, Auswanderungswilligen Sprachkurse zu erteilen, die im Jüdischen Gemeindehaus in der Kronenstraße stattfanden. Anfangs durften auch die beiden Töchter daran teilnehmen. Sie waren allerdings, wie Hanna Meyer-Moses berichtet, nicht sehr lernwillig und störten vermutlich öfters den Unterricht, so dass der Vater sie aus dem Unterricht entfernte.
Mit Schreiben vom 26. Oktober 1938 teilte der Oberlandesgerichtspräsident im Auftrage des Reichsjustizministers Nathan Moses mit, dass seine Zulassung als Rechtsanwalt - die er als Teilnehmer des Weltkrieges noch immer hatte - mit Wirkung zum 30. November 1938 zurückgenommen werde. Vier Monate später, am 20. Februar 1939, beantragte Nathan Moses beim Oberlandesgerichtspräsidenten die Zulassung als „Konsulent“(für die ausschließliche Betreuung jüdischer Klientel). Sein Antrag wurde bereits eine Woche danach als verspätet zurückgewiesen.
In der Zwischenzeit hatte sich jedoch vieles ereignet: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen im ganzen Land, unzählige Geschäfte und Wohnungen von Juden wurden verwüstet und auch geplündert. Hanna Meyer-Moses: „Am Morgen des 10.11.1938 gingen meine Schwester und ich wie gewohnt nach halb 8 Uhr aus dem Haus, um in die Schule am Lidellplatz zu gelangen. Wir wollten eine Kameradin abholen, die am Anfang der Beiertheimer Allee wohnte. Auf unser Läuten erschien ihre Mutter an einem Fenster und sagte, dass wir nicht in die Schule gehen können, die Synagoge in der Kronenstraße brenne. Wir sollten sofort wieder nach Hause zurückkehren und dies unserem Vater ausrichten. Wir taten dies, doch unser Vater wollte diese Nachricht nicht glauben und machte sich auf den Weg, um sie zu überprüfen. Mein Vater ging also zur Kronenstraße und sah den Brand, er sah aber auch, wie gerade unser Lehrer Herbert Sax, von 2 Schutzmännern flankiert, abgeführt wurde. Er kam nach Hause zurück und berichtete, was er gesehen hatte, worauf meine Mutter ihn eindringlich bat, sich für heute „ins Murgtal“ zu begeben und nicht zu Hause abzuwarten, bis auch ihn jemand abhole. Er tat dies, fuhr mit der Bahn irgendwohin ins Murgtal und kam abends wieder zurück. „Es war niemand bei uns erschienen, um nach ihm zu fahnden oder etwas zu zerstören“. In Karlsruhe wurden nahezu alle männlichen Juden von 16 bis 60 Jahren an diesem Tage verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Nathan Moses wurde entweder wegen seiner Funktion als Leiter des ,Palästina-Amtes’ von dieser Maßnahme verschont, denn den Nazis lag damals noch sehr daran, dass möglichst viele Juden baldigst auswanderten, oder er wurde schlicht und einfach vergessen - auch das gab es.
In Altdorf hingegen, dem Heimatort von Nathan und Betty Moses, wütete der angebliche „Volkszorn“ besonders aggressiv: Gustav Dreifuß, der Bruder von Betty Moses, Viehhändler wie der Vater David, Schächter, Vorbeter und Schofarbläser in der Synagoge, wurde mit allen anderen jüdischen Männern aus Altdorf und umliegenden Dörfern und Städten zusammengetrieben und nach einem langen Fußmarsch ins übernächste Dorf verfrachtet. Ein SA-Mann, dem er nicht schnell genug lief, versetzte ihm noch einen Tritt, so dass er hinfiel. Seine vielen Orden, die er sich als Feldwebel im Weltkrieg für seinen Einsatz fürs Vaterland verdient hatte, konnten ihn vor solchen Boshaftigkeiten nicht bewahren. Die SA - Horden drangen mit Äxten in das Haus ein und zerschlugen das Mobiliar vor den Augen von Hermine Dreifuß, die mit ihrem Bruder Gustav im elterlichen Haus nach dem Tod der Eltern wohnte, bis sie plötzlich mit lauter Stimme sagte: „jetzt ischs aber gnug“, worauf die SA-Männer tatsächlich aufhörten und abzogen - belegt durch Bericht einer Augenzeugin aus der Nachbarschaft. Gustav Dreifuß kam am 11. November 1938 nach Dachau und erhielt dort die Häftlings-Nr. 20752. Nach seiner Entlassung aus Dachau im Dezember 1938 konnte er seinen Beruf als Viehhändler nicht mehr ausüben. Er verkaufte - gezwungenermaßen - das Haus in Altdorf an einen Schuhmacher namens Schwab, Vater von 7 Kindern, ehemaliger Mitschüler von Nathan Moses in Altdorf, zu einem Spottpreis von 3.200 RM. Sein Schwager Nathan Moses bemühte sich erfolgreich darum, dass das Haus nicht an eine lokale Nazi-Parteigröße namens Obert, der ein begehrliches Auge darauf geworfen hatte, verkauft werden musste. Nicht unerwähnt soll auch bleiben, dass die Familie Schwab nach dem Krieg ohne Scham die mittellosen und gutmütigen Moses-Kinder zu einem Verzicht auf Nachforderungen auf den Verkaufspreis des Hauses „beschwatzte“ (gemäß Kontrollratsgesetz stand ihnen als Erben dieses Recht zu). Im Februar 1939 zog Gustav Dreifuß nach Frankfurt a.M., um an der dortigen ORT-Schule, einer jüdischen Fortbildungs- u. Umschulungseinrichtung für handwerkliche und landwirtschaftliche Berufe, eine Ausbildung als Schlosser und anschließend eine Ausbildung als Schweißer zu absolvieren, im Hinblick auf eine offenbar ins Auge gefasste Auswanderung. Ab Mitte 1940 war er in Frankfurt in einer Kohlenhandlung beschäftigt. In Frankfurt lernte er auch Paula Seligmann geboren Kahn und deren Tochter Hilde, geboren 1928, kennen. Ihr Mann Sally Seligmann war am 28. August 1938 verstorben, so heiratete er sie am 28. November 1940. Hermine Dreifuß ging 1939 nach Stuttgart und arbeitete als Hausangestellte bei einer jüdischen Familie namens Kauffmann in der Arminstraße 15. Dessen nicht genug, am 12. November 1938 wurde Juden reichsweit auch verboten, Konzerte, Theater, Kinos und ähnliche Veranstaltungen bzw. Einrichtungen zu besuchen.
Nathan Moses hatte in der Folge noch mehr zu tun. Er musste für die in Dachau Inhaftierten, deren Angehörige zu ihm kamen, nach Auswanderungsmöglichkeiten forschen und nach Wegen suchen, diese zu realisieren. Zunächst wurden auf Anordnung Himmlers vom 14. November 1938 nur solche Häftlinge entlassen, die eine kurzfristige Auswanderungsmöglichkeit glaubhaft machen konnten (oder für die Aufrechterhaltung ihres Betriebes unentbehrlich waren). Nathan Moses hatte seinen Reisepass am 21. Oktober 1938 beim Polizeipräsidium Karlsruhe aufgrund der Verordnung des Reichsinnenministeriums, dass alle Pässe, deren Inhaber Juden waren, abzuliefern seien, abgegeben. Mit Schreiben vom 14. November 1938, also wenige Tage nach den Pogromen, beantragte er für sich, und nur für sich, einen Reisepass für eine Auswanderung nach Frankreich, er möchte sich dort als Landwirt oder Landarbeiter in Südfrankreich niederlassen; er habe auf ein Zertifikat für Palästina gewartet, die Erteilung sei jedoch unsicher. Und: er höre auf, Anwalt zu sein. Die zuständigen Behörden hatten keine Einwände, sein Antrag wurde bewilligt. Der Pass wurde jetzt mit einem großen „J“ für Jude versehen, wie es in der Folge mit allen Pässen für Juden geschah. Ob ihm der Pass ausgehändigt wurde, ist unklar. Das „J“ für Jude hatten die deutschen Juden, nach Kriegsbeginn auch die Juden in den besetzten Gebieten, dem Schweizer Polizei-Chef Dr. Rothmund zu „verdanken“, der dies zur Kennzeichnung der Juden den Deutschen vorgeschlagen hatte.
Im Januar 1939 beantragte Betty Moses einen Pass für eine Auswanderung ebenfalls nach Frankreich. Und im Februar 1939 beantragte Nathan Moses Kinderausweise für eine Auswanderung der Kinder nach Frankreich oder in die Schweiz. Erst im August 1939, kurz vor Ausbruch des Krieges beantragte er Pässe - diese wurden seinerzeit immer nur mit Gültigkeit für 6 Monate ausgestellt - für eine Ausreise nach Palästina; offenbar war ihm und seiner Familie ein entsprechendes Zertifikat in Aussicht gestellt. Auch hierfür wurde die Genehmigung erteilt, aber der Krieg machte - so die Tochter Hanna - die Auswanderung zunichte.
Nach diesen November-Pogromen wurde der Schulbetrieb für die jüdischen Kinder in der Lidellschule auf ministerielle Anordnung eingestellt. Die Jüdische Gemeinde richtete daraufhin im gemeindeeigenen Gebäude in der Kronenstraße, neben der ausgebrannten Synagoge einen Notbetrieb für den Schulunterricht ein. Anfänglich wurden die Kinder nur von Lehrerinnen unterrichtet, die Lehrer waren noch in Dachau. Erst nach und nach wurden sie entlassen und standen nun mit kahlgeschorenen Köpfen vor ihrer Klasse. Dem Mitschüler Walter Falk wurde der Vater, Max Falk, in Dachau von der SS bei Schießübungen als lebendige Zielscheibe erschossen, einfach so. Aber das wussten die Mitschüler damals nicht, auch Hanna Meyer-Moses hat es erst 50 Jahre danach erfahren Die Klassen in der Schule wurden durch Auswanderungen der Familien kleiner, die Lehrer weniger, dafür kamen vermehrt jüdische Kinder von auswärts dazu. Der Schulbetrieb in diesem Domizil war mit vielerlei Erschwernissen verbunden, so dass der Unterricht trotz bester Absichten und großer Anstrengungen der Verantwortlichen eher mühselig war. Und so schleppte sich dieser Behelf noch fast 2 Jahre hin, bis die Massendeportationen der badischen Juden am 22. Oktober 1940 dem Schulbetrieb ein jähes Ende setzten.
Aufgrund der 2. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938 waren die Juden in Deutschland verpflichtet, zu ihrem Vornamen den zusätzlichen sie als Juden stigmatisierenden Vornamen Israel bzw. Sara zu führen, es sei denn, der Vorname war bereits eindeutig jüdisch, wie bei Nathan Moses; Betty und die beiden Kinder bekamen also den Zusatznamen ,Sara’.
Anfang 1939 heiratete die jüngere Tochter des Hauseigentümers der Karlstraße 48, Bäckermeister Emil Wachter, und da Wohnraum in der Stadt knapp war, wurden von der Moses’schen Wohnung 2 Zimmer für das junge Paar abgetrennt, es blieb ihnen jedoch eine 4-Zimmer-Wohnung.
Der Gottesdienst, der nun nicht mehr in der zerstörten Synagoge stattfinden konnte, wurde in das jüdische Hotel „Nassauer Hof“ an der Kriegsstraße verlegt. Ein enger Freund der Eltern, der Sänger Paul Mayer, wie Nathan Moses ein überzeugter und engagierter Zionist, lediger Sohn des Geh. Oberregierungsrates David Mayer und seiner Frau Marie, die 1912 das „Friedrich¬-Luisen-Hospiz für israelitische Kinder“ in Bad Dürrheim gegründet hatten, in dem die Moses-Kinder Anfang der 30er Jahre auch zweimal zur Kur waren, versuchte, mit den noch verbliebenen Kindern einen Chor zu bilden. Er lehrte die Kinder, ihm vom Mund abzusingen, denn Notenblätter gab es nicht; meist waren es von ihm selbst komponierte Melodien. Bald mussten auch diese Aktivität und der Gottesdienst eingestellt werden.
Am 1. September 1939 überfällt Hitler-Deutschland Polen, am 3. September 1939 erklären Frankreich und England Deutschland den Krieg. Da Karlsruhe im Schussbereich der französischen Artillerie lag und offenbar damit gerechnet wurde, dass die Stadt von der französischen Grenze aus beschossen würde, wurden von der Stadt Karlsruhe nichtjüdische Kinder unter 12 Jahren, Kranke und Menschen über 60 Jahre ab 2. September 1939 evakuiert und in so genannte ,Bergungsgauen’, also in weit im Landesinneren liegenden Regionen untergebracht. Den Juden stand es frei, die Stadt gleichfalls zu verlassen oder zu bleiben. Die Jüdische Gemeinde organisierte die Evakuierung für diejenigen, die nicht in Karlsruhe bleiben wollten. Nathan und Betty Moses fuhren mit den beiden Töchtern in der ersten September-Hälfte, das genaue Datum ist nicht mehr zu ermitteln, nach Stuttgart, wo Mutter und Töchter bei einer Witwe ein möbliertes Zimmer bewohnten, der Vater musste an anderer Stelle unterkommen und fuhr deshalb schon bald wieder nach Karlsruhe zurück. Nach ca. 2 Monaten folgte auch Betty Moses mit den beiden Kindern in die Karlsruher Wohnung.
Im gleichen Monat September 1939 wurde Juden der Besitz von Rundfunkapparaten verboten, ihre Geräte mussten sie entschädigungslos abliefern. Die Juden wurden allesamt als potentielle Spione angesehen, die Feindsender abhören könnten oder würden. Auch Familie Moses musste ihr Gerät abliefern. Und ab Dezember 1939 bekamen Juden auch keine Kleiderkarten mehr, so war es nicht mehr möglich, irgendwelche Bekleidung oder Schuhe zu kaufen. Am 25. September 1939 wurde durch die Gestapo auch verfügt, dass Juden nach 20:00 Uhr ihre Wohnung nicht mehr verlassen durften. Und per 30. September 1940 durften Juden auch keinen Telefonanschluss mehr haben.
Am 19. November 1939, dem 50. Geburtstag von Betty Moses, fand in der Wohnung Karlstraße letztmalig ein Familientreffen statt: Bettys Bruder Gustav aus Frankfurt a.M. mit seiner künftigen Frau und deren Tochter, die die Moses hier erstmalig kennen lernten, und Bettys Schwester Hermine aus Stuttgart. Die Zukunft für alle sah mehr als düster aus, was wird werden, war das Thema.
Im Sommer 1940, der Krieg war schon fast ein Jahr im Gang und die Maßnahmen gegen die Juden häuften sich von Woche zu Woche, hatten die Moses - Mädchen das große Glück, als einzige aus Karlsruhe, durch Verbindungen des Vaters, in Stuttgart an der „Sommerkolonie“ für Kinder der dortigen Jüdischen Gemeinde teilnehmen zu können. Dass es so etwas zu jener Zeit überhaupt noch gab, grenzt an ein Wunder. Sie wurden bei einer jüdischen Familie in einem Zimmer eingemietet, sie bekamen dort Frühstück und Abendessen, Familienanschluss bestand nicht. Die Kinder verbrachten den ganzen Tag mit Sport und Spiel unter Aufsicht, auch Wanderungen wurden unternommen, mit den Stuttgarter jüdischen Kindern auf dem Sportplatz Stuttgart-Feuerbach, wo sie auch verpflegt wurden. Den Abschluss bildete eine so genannte Olympiade, bei Wettkämpfen wurden die Besten in ihrer jeweiligen Disziplin ermittelt und ausgezeichnet. Hanna gewann im Weitsprung, Susanne im 100-m-Lauf den 1. Preis.
Ab Mai 1940 wurde Karlsruhe auch durch sich häufende Luftalarme bedroht, ab August auch durch Bombenangriffe. Die Bevölkerung wurde gezwungen, in die Luftschutzkeller zu gehen, Juden war es jedoch verboten, sich in einem Raum mit den nichtjüdischen Menschen aufzuhalten, es wurde sogar von der Gestapo verfügt, dass Juden sich selbst geeignete Schutzräume zu bauen hätten. Die Familie Moses wäre verpflichtet gewesen, in ihrem ungeschützten, dunklen Kohlenkeller allein zu sitzen. Doch jedes Mal kam der schon erwähnte Bäckermeister Wachter, der Hauseigentümer, und winkte die Familie - so berichtet Hanna Meyer-Moses - schnell in seine Backstube, wo sie in der Wärme und bei Licht seinen Backkünsten zusehen konnten - ein zur damaligen Zeit sehr selten gewordenes Zeichen von Menschlichkeit.
22. Oktober 1940: Deportation
Dieser Tag war der Schicksalstag der badischen und saarpfälzischen Juden: in einer Aktion auf Initiative der Gauleiter Wagner und Bürckel, die ihre Gaue „judenrein“ haben wollten, wurden die Juden, 6.550 an der Zahl, darunter 905 von Karlsruhe (inkl. Grötzingen), weitere 40 kamen einige Wochen später noch dazu, nach Gurs in Südfrankreich deportiert, aber das Ziel dieser Abschiebung, wie diese Aktion offiziell genannt wurde, kannten die Menschen nicht, noch nicht. Hanna Meyer¬-Moses: „Am Morgen des 22.Oktober, einem Dienstag, wegen des jüdischen Feiertages Laubhüttenfest hatten die Kinder schulfrei, läutete es um 8:00 Uhr an der Wohnungstür; als die Mutter öffnete, standen zwei Gestapo-Männer vor der Tür, zeigten ihre Ausweise und teilten mit, dass von nun an niemand von der Familie das Haus verlassen dürfe. Wir sollten uns reisefertig machen, Koffer packen, nur soviel, wie wir tragen konnten, 100 RM pro Person zum Mitnehmen seien erlaubt, sie kämen in einer Stunde wieder. Auf die Frage, wohin die Reise gehe, gaben sie keine Auskunft. Meine Mutter weckte uns beide Mädchen, hieß uns, etwas Wärmeres anzuziehen und fing an zu packen. Mein Vater war an einer Fußwurzelentzündung erkrankt und hatte einen Gipsverband am Bein. Die Gestapo-Männer kamen um 9:00 Uhr wieder, brachten noch einen älteren Schutzmann mit, der meiner Mutter beim Packen half, und stellten meinem Vater wegen seiner Behinderung frei, in Karlsruhe zu bleiben, allerdings nicht in unserer Wohnung, sondern im Städtischen Krankenhaus, wir müssten aber mit auf die Reise. Er entschloss sich daraufhin mitzugehen. Noch während des Packens schickte mich einer der Gestapo-Männer mit allen noch verbliebenen Rationierungsmarken zum Milchhändler, er solle mir dafür Butter und Käse bis zum Monatsende geben, ein Gestapobeamter habe es befohlen, wie ich ausrichten musste. Vor dem Weggehen brachte meine Mutter dem Hausbesitzer einen irdenen Topf mit eingemachten Gurken, sie befürchtete, diese würden bis zu unserer Rückkehr gären. Dass es eine Rückkehr nicht mehr geben würde, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens. Der Bäckermeister Wachter gab uns dafür 2 oder 3 große frische Brote, über die wir auf der Reise sehr froh waren. Gegen 11.00 Uhr kam ein schwarzes Partei-Auto, das meinen Vater und unser Gepäck zum Bahnhof fuhr. Meine Mutter und wir beide Schwestern mussten in Begleitung des Polizisten mit der Straßenbahn zum Bahnhof fahren. Wir durften nicht im Wageninneren sitzen, sondern mussten auf der Plattform stehen. Am Bahnhof angekommen erblickten wir schon viele Schulkameraden, Lehrer und Bekannte, die zumeist auf ihren Koffern saßen und warteten“. Sammelpunkt war der normalerweise nicht benutzte Osteingang des Bahnhofs, der so genannte Fürstenbahnhof und der geräumige Vorplatz. „Am späteren Nachmittag erging der Befehl, auf den Bahnsteig zu gehen und in die schon bereit stehenden Eisenbahnwagen einzusteigen. Wir wurden von SS und SA bewacht, es waren auch einige Rotkreuz¬-Schwestern da, die später von Zeit zu Zeit ein wenig Verpflegung verteilten. Als der Zug sich in Bewegung setzte, ging die Fahrt nach Süden, von einigen Erwachsenen mit Erleichterung empfunden. Ein ‚Wagenchef’ musste ernannt werden, das war der schon erwähnte Rechtsanwalt Dr. Alfred Kahn. Dieser musste überwachen, dass alle nur die erlaubten 100 RM bei sich hatten. Am Abend kam der Zug in Mülhausen an. Ein Lautsprecher gellte über alles hinweg: ‚Wer den Zug verlässt, wird erschossen’. Der Zug setzte sich nach einer Weile wieder in Bewegung, wir fuhren in französisches Gebiet. Anderntags, nach langer Fahrt, hielt der Zug auf freiem Feld. Die Bewacher waren kurz zuvor durch die Abteile gekommen und hatten den Befehl erteilt, die Fenster zu schließen, nicht aus den Fenstern zu schauen, die Rollos an den Fenstern herunter zu lassen, und uns ruhig zu verhalten. Als der Zug wieder losfuhr, bemerkten wir nach und nach, dass die Bewacher samt Rotkreuz-Schwestern verschwunden waren. Der Zug fuhr, machte in Lyon halt, fuhr weiter, machte halt in Toulouse und fuhr weiter. Am Nachmittag des 25. Oktober kamen wir in dem Provinz-Bahnhof Oloron-Ste. Marie an und wurden auf ein Seitengleis manövriert. Das war das Ende unserer Zugreise. Es kamen Lastwagen, die im Pendelverkehr die vielen Menschen und das Gepäck in ein von allen Seiten mit Stacheldraht umzäuntes Lager, 18 km entfernt, einlieferten, unter Bewachung der franz. Miliz der Vichy-Regierung. Das Lager lag nahe beim Dorf Gurs, weshalb es den Namen dieser Ortschaft bekam. Der Vater kam in Gurs sofort wegen seines Gipsverbandes in die Krankenbaracke, während wir im Ilot K, Baracke 26, landeten (ein Ilot war eine größere Anzahl von mit Stacheldraht eingezäunten Baracken, jedes Ilot hatte 25 - 27 Baracken). In unserer Baracke wurde Frau Elisabeth Kapp, eine kinderlose Bekannte meiner Eltern aus Karlsruhe, Ehefrau des ebenfalls deportierten Ingenieurs Siegmund Kapp, zur Baracken-¬Chefin gewählt.“ Die französischen Behörden waren über die Ankunft dieser großen Zahl von Juden überhaupt nicht informiert worden, mithin gab es keinerlei Vorbereitungen für die Unterbringung der Menschen. Hanna Meyer-Moses: „Die Baracken waren komplett leer, kein Licht, kein Stroh, keine Decken, nichts war vorhanden, und so mussten wir die erste Nacht auf dem Fußboden verbringen.“ Nach einiger Zeit wurde im Ilot K eine Kinderbaracke eingerichtet, wo auch die Moses-Kinder von der Mutter untergebracht wurden. Auch Julie Rothschild, Nathan Moses’ Cousine, und ihr Ehemann Emil sowie die inzwischen mit dem aus Köslin stammenden Simon Scheibe verheiratete Tochter Jenny wurden - von Altdorf aus - nach Gurs deportiert. Jenny war zu diesem Zeitpunkt schwanger und gebar in Gurs am 15. Juli 1941 eine Tochter mit dem Namen Helga, die jedoch am 8.8 August 1941 dort starb. Emil Rothschild starb am 29. Dezember 1941 in Gurs.
Über das Leben in diesem Lager, über die miserablen Lebensbedingungen, über die unsäglichen hygienischen Verhältnisse, über den Hunger ohne Ende, über das Sterben hunderter, insbes. älterer Menschen an Erschöpfung, ist an anderer Stelle von zahlreichen Autoren, auch von Hanna Meyer-Moses, in ausführlichen Erlebnisberichten geschrieben worden, das soll hier nicht wiederholt werden.
Nach Gurs: die Lager und das Ende für Nathan und Betty Moses. Kinderheime, Flucht und Rettung für Hanna und Susanne Moses
Das jüdische Kinderhilfswerk OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) begann schon bald, die Kinder aus dem Lager Gurs herauszuholen und sie besser zu platzieren. Als dies bekannt wurde, meldete Betty Moses ihre beiden Kinder sofort für eine Verlegung an und war auch äußerst hartnäckig, diese schnellstens zu erreichen, denn es lag ihr sehr am Herzen, die Kinder besser ernährt und untergebracht zu wissen, auch wenn dies eine Trennung, eine vorübergehende, wie sie glaubte, bedeutete. Die Schwestern Moses waren daher bei einem der ersten Transporte, die Gurs am 21. Februar 1941 verließen, und kamen unter Begleitung von Dr. Cohn, einem Arzt, selbst Häftling in Gurs, und seiner Frau, ins „Maison des Pupilles de la Nation“, ein Waisenhaus, nach Aspet bei St. Gaudens (Dept. Hte. Garonne). Es war eine Gruppe von 50 Kindern, die sich auf der Lagerstraße von ihren Eltern verabschieden konnten, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen würden. Die Kinder wurden in einem Lastwagen zum Bahnhof Oloron-Ste. Marie gefahren, von dort kamen sie, nach mehrmaligem Umsteigen, nach St. Gaudens, vom dortigen Bahnhof mit einem Autobus in das Waisenhaus. Trotz Ankunft am späten Abend mussten alle Kinder vor dem Schlafengehen noch duschen, denn der Direktor Henri Couvot wollte unter keinen Umständen, dass in sein sauberes Heim Läuse eingeschleppt werden. Der möglichen Läuse wegen mussten auch alle die ersten 4 Wochen in Quarantäne verbringen, abgesondert vom normalen Heimbetrieb. Die Eheleute Cohn fuhren nach 14 Tagen wieder nach Gurs zurück. In diesem Heim waren auch viele französische Kinder, Waisen und andere Bedürftige untergebracht, die die deutschen Kinder anfänglich als „sales boches“ beschimpften. Die Kinder erhielten in Aspet Französisch¬-Unterricht und arbeiteten im Haus. Die Verpflegung war zwar auch eher recht dürftig, aber es gab keine Wachen, keinen Stacheldraht, die Kinder konnten in Begleitung der im Haus arbeitenden Erzieherinnen/Aufseherinnen Wanderungen unternehmen.
Nathan Moses fiel vom Augenblick der Abfahrt von Karlsruhe, so Hanna Meyer-Moses, in eine tiefe Gemütsdepression, denn er bezichtigte sich der Schuld am Unglück der Familie. Er glaubte an keine gute Nachricht mehr und ließ sich auch nicht durch die Briefe der Kinder, die sie nach Gurs an die Eltern schrieben, überzeugen. Um ihn zu beruhigen und Tatsachen zu berichten, erbat Betty Moses beim Lagerleiter um Erlaubnis, die Kinder für ein paar Tage zu besuchen. Sie bekam die Erlaubnis, und eines Tages im Sommer 1941 kam sie dann ganz plötzlich und unangemeldet nach Aspet. Die Freude des Wiedersehens war natürlich riesengroß. Sie hätte bei dieser Gelegenheit gerne eine Tätigkeit als Landarbeiterin oder als Köchin in einem Heim angenommen, sie wollte jedoch ihren kranken Mann im Lager nicht allein lassen und kehrte dorthin zurück.
Ein Jahr später, am 16. Juli 1942, wurden Hanna und Susanne Moses, zusammen mit einem anderen Mädchen aus dem Waisenhaus in ein Kinderheim der OSE, ins „Chateau du Couret“, La Jonchere, bei Ambazac, nahe Limoges (Dept. Hte. Vienne) verlegt. Die Moses-Kinder erhielten die Erlaubnis, auf der Reise dorthin die Eltern im Lager Récébédou (Dep. Hte. Garonne), in der Nähe von Toulouse, wohin sie von Gurs am 20. März 1941, also nur wenige Wochen nach Abreise der Kinder, verlegt worden waren, zu besuchen. Vorgesehen waren dafür 3 Tage, doch Susanne Moses bekam dort die Grippe, die Reise konnte erst nach ihrer Gesundung am Ende einer Woche erfolgen. Dies war das letzte Mal, dass die Kinder ihre Eltern sehen konnten. Das „Chateau du Couret“ war ein reines Mädchenheim, nur jüdische Kinder waren hier, es wurde von einem sehr frommen, strengen polnischen Akademiker¬-Ehepaar namens Krakovski geleitet. Es war den Kinder verboten, deutsch zu sprechen. Das Heimleiter-Paar gab sich große Mühe, den Kindern jüdisches Leben im Heim zu ermöglichen, sie durch Ge- und Verbote, er durch Geduld, Ruhe und Verständnis. Auch hier wurden die Kinder in Haus und Garten eingesetzt. Und wenn sie bei der Arbeit ob der glühenden Sommerhitze stöhnten, so trösteten sie sich damit, dass dies eine gute Abhärtung für das noch heißere Klima in Palästina sei, wohin sie alle noch immer wollten. Nach und nach sickerten beunruhigende Nachrichten von Razzien und Verschickungen in Arbeitslager nach Deutschland durch. Anfang 1943, so berichtet Hanna Meyer-Moses, erschienen 2 Männer der Vichy-Verwaltung aus Ambazac und erkundigten sich nach einem Mädchen namens Vera Ralsch, das sie mitnehmen müssten. Monsieur Krakovski konnte ihnen guten Gewissens sagen, dass ein solches Mädchen nicht im Heim sei und nie hier gewohnt habe, worauf sie sich wieder entfernten. Das Mädchen existierte, hieß aber in Wirklichkeit Vera Malsch. Nach diesem Vorfall wurde ein Alarm-System entwickelt, das vor allem die bald 16-Jährigen schützen sollte, zu denen auch Hanna Meyer-Moses gehörte, sobald sich Unbekannte dem Haupteingang des Parks näherten. Die betreffenden Kinder schlichen sich in einem solchen Fall in großer Hast durch den Hinterausgang in die umliegenden dichten Wälder und hielten sich dort versteckt, bis über dem Dach ein Fähnchen erschien, das anzeigte, dass die Luft wieder rein war.
Ende 1942 oder Anfang 1943 kam ein OSE-Vorstandsmitglied und fragte, wer Verwandte oder Bekannte in der Schweiz habe, er fahre in Kürze dorthin und könne Grüße bestellen. Die Geschwister Moses konnten eine Adresse einer entfernten Verwandten der Mutter angeben, die sie noch nie gesehen hatten. Was die Kinder nicht wussten und auch nicht wissen durften: das SHEK (Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder) hatte von der Schweizer Regierung die Zusicherung erhalten, dass 1.500 Kinder, jüdische Kinder vorwiegend, in der Schweiz aufgenommen werden. Das bedeutete aber keineswegs, dass die Kinder problemlos in die Schweiz einreisen konnten, im Gegenteil, wie am Beispiel der Moses-Kinder aufgezeigt wird. Wochen oder Monate später, Ende März oder Anfang April, war das Heimleiter-Ehepaar plötzlich Hals über Kopf geflüchtet. An ihrer Stelle übernahm eine Pfadfinder-Führerin Lise Kleemann aus Limoges, von den Kindern „Chef-Capri“ genannt, die Heimleitung. Bald darauf erhielten Hanna und Susanne Moses falsche Identitätskarten, die auf die Namen Annemarie und Susanne Mourer aus Haguenau/Alsace ausgestellt waren. Die Kinder hatten sofort ihre Koffer zu packen und nach Limoges zu fahren, von wo aus sie in die Schweiz reisen sollten. Susanne Moses war aber zu diesem Zeitpunkt gerade in Ferien bei einer Familie Kaufmann in Chatelguyon, einer Freundin der Mutter, aus dem gleichen Dorf stammend. Susanne Moses wurde umgehend von der Heimleiterin zurück beordert. Anderntags reisten die Kinder nach Limoges, wo sie mit anderen Jugendlichen zusammentrafen und unter Führung des OSE-Aktivisten Georges Loinger, damals ein Mitdreißiger, vormaliger Sportlehrer aus dem Elsass, in Richtung Schweiz nach Grenoble abreisten. In Grenoble angekommen, wurde die recht große Gruppe geteilt, die eine Hälfte fuhr noch am gleichen Tag mit Loinger weiter zur Grenze, die andere Gruppe, mit den Schwestern Moses, sollte am nächsten Tag folgen. Daraus wurde jedoch nichts, denn die Schweiz hatte wieder einmal die Grenzen geschlossen. Die Gruppe blieb in Grenoble stecken, es wurde auf eine günstige Gelegenheit zum Grenzübertritt gewartet. Aber diese ergab sich vorerst nicht, und so mussten die Kinder aus Sicherheitsgründen irgendwie untergebracht werden - die größeren Jungen kamen zu Bauern aufs Land, die Mädchen wurden irgendwie ‚versteckt’, Hanna und Susanne Moses kamen durch Vermittlung von Grenobler Klosterschwestern des Ordens von „Notre Dame de Sion“ zu einer Familie mit 5 Kindern auf dem Land. Es war eine sehr vornehme Pariser Familie, die sich wegen des Krieges in ihr Landhaus in Savoyen zurückgezogen hatte. Susanne Moses wurde dort als Zimmermädchen, Hanna Moses als Köchin eingesetzt, die Kinder hatten erwartet, dass sie sich dort zu der Kinderschar hinzugesellen durften. Die Beschreibung des Aufenthaltes würde eine eigene Geschichte füllen. Etwa 3 Monate dauerte der Aufenthalt bei dieser Familie. Ende Juli 1943, so Hanna Meyer-Moses, kam ein Telefonanruf aus Grenoble, sie sollten sich sofort bereit machen, packen und am nächsten Tag mit dem Zug nach Grenoble fahren. Dort wurden sie in aller Eile mit anderen Kindern, meist neuen, nur wenige waren von der gleichen Gruppe wie 3 Monate zuvor, zu einer Gruppe zur Reise in die Schweiz zusammengeführt. Am 28. Juli 1943 frühmorgens fuhr die Gruppe unter der Obhut einer Betreuerin in Richtung Annemasse mit dem Zug ab. Fast das gesamte Gepäck, einschließlich aller persönlichen Dinge wie Fotos, mussten sie zurück lassen, es wurde ihnen gesagt, das Gepäck werde nachgesandt, was aber leider nicht erfolgte, erfolgen konnte, weil die Gestapo bei einer späteren Razzia alles konfisziert hatte. So gingen unwiederbringlich auch viele Fotos verloren. Den Kindern wurde - individuell verschieden - vor der Abreise eine Geschichte eingeschärft, die sie erzählen sollten, wenn sie von der französischen Polizei, von italienischen Alpini oder von der deutschen Gestapo aufgegriffen würden. Zielstation war Machilly, wo sie ohne Zwischenfall ankamen. Von dort wurden sie mit einem Lieferwagen, den die Betreuerin inzwischen besorgt hatte, ins 8 km entfernte übernächste Dorf, nach Douvaine, gefahren, eine große Erleichterung für alle an diesem heißen Julitag, sonst hätten nämlich die großen Kinder die kleinen die lange Strecke tragen müssen. In Douvaine angekommen, wurden sie sofort ins katholische Pfarrhaus gebracht, die Betreuerin nahm ihnen die falschen Identitätskarten ab und gab ihnen die richtigen wieder zurück. Am Abend, es war schon dunkel, kamen 2 unbekannte Männer („Passeure“ - Fluchthelfer), um die Kinder zur Grenze zu führen, die Kleinsten wurden abwechselnd getragen. Nach einer Stunde Weges durch Felder, Hecken und Gehölze konnten sie entfernt den Genfer See und die Lichter der Stadt Genf sehen. Sie passierten einen von den Männern durchtrennten Stacheldrahtzaun. Hier verabschiedeten sich die Männer und schärften den Kindern ein, wie sie sich zu verhalten hätten, wie und wo sie die Grenze zur Schweiz überqueren und was sie tun sollten, wenn sie endlich in Genf angekommen seien. Wegen der Dunkelheit war die Orientierung äußerst schwierig, sie durchquerten ein kleines Flüsschen, irrten einige Zeit mit nassen Füßen umher, aber endlich kamen sie zu dem Dorf Hermance und landeten schließlich bei dem Schweizer Ortsgendarmen, dem sie - einer nach dem anderen - die ihnen aufgetragenen „Zweck-Geschichten“ auf Befragen erzählten. Nach einer weiteren Befragung in einem anderen Lokal,. wohin man die Kinder mit einem Polizei-Transportfahrzeug gebracht hatte, wurden sie, es war mittlerweile Nacht, die Kinder waren todmüde, in ein Auffanglager der Stadt Genf im „Charmille“-Schulhaus gebracht. Hier trafen sie auch das Ehepaar Krakovski aus dem „Le Couret“ wieder. Nach etwa 2 Wochen wurden die Moses-Kinder in das Lager „Camp du Bout du Monde“ im Genfer Stadtteil Champel verlegt und am 1. September 1943 in das Lager „La Rosiaz“, auf einer Anhöhe der Stadt Lausanne gelegen. Am 15. September 1943 gelangten die Kinder durch Vermittlung des SHEK zur weiteren Betreuung in eine christliche Pflegefamilie, die in einer Ortschaft bei Bern eine Gärtnerei betrieb, verblieben jedoch weiter unter Aufsicht des SHEK. Die Kinder waren gerettet, ihr Leben war außer Gefahr.
Nathan und Betty Moses kamen am 4.10.1942, vom Lager Recebedou kommend, ins Lager Nexon (Dept. Hte Vienne) und von dort am 15.3.1943 ins Lager Masseube (Dept. Gers), von hier aus am 13.8.1943 wiederum in ein anderes Lager, nämlich in das „Centre d’accueil“ in Reillanne (Dept. Bass. Alpes), ein vormaliges Kloster, außerhalb des Dorfes gelegen. Warum diese vielen Verlegungen erfolgten, darauf gibt es keine plausiblen Antworten mehr. Ende Mai 1944 erreichte eine Postkarte, geschrieben von Betty Moses am 12.5.1944 in Reillanne, die Kinder in der Gärtnerei, wo sie lebten. Der Text lautet: „Wir fahren weg. Ich weiß nicht, ob wir nochmals schreiben können. Lebet wohl. Innige Küsse. Eure Eltern“. Dies war das letzte Lebenszeichen, das die Kinder von den Eltern erhielten. Natürlich wussten sie nicht, was der Inhalt dieser Karte in letzter Konsequenz bedeutete. Die Karte muss in großer Eile geschrieben worden sein. Der Abtransport kam vermutlich ganz plötzlich. Betty Moses wurde nach Drancy bei Paris transportiert und von dort am 30.5.1944 mit dem Transport Nr. 75 nach Auschwitz. Der Transport umfasste 1.000 Personen, darunter 112 Kinder. Nathan Moses war zu dieser Zeit im Hôpital „Le Dantec“ in Marseille, einem vom französischen Militär bei Kriegsbeginn eingerichteten Krankenhaus in einem vormaligen Altenasyl, unter deutscher Besatzung nur für Arbeiter aus den französischen Indochina-Kolonien, später auch für Juden. Am 24.5.1944 starb Nathan Moses hier, die Todesursache ist unbekannt, das Archiv des Krankenhauses wurde vernichtet, oder es ist nicht mehr auffindbar. Nathan Moses wurde auf dem Friedhof Saint-Pierre in Marseille in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt. Das war das unsäglich traurige Ende von Nathan und Betty Moses, das die überlebenden Töchter bis an ihr Lebensende in ihren Köpfen und Herzen mit sich tragen.
Für Hanna Moses war die offizielle Schulpflicht in der Schweiz bereits beendet, da sie inzwischen das 16. Lebensjahr erreicht hatte, sie konnte jedoch ein Haushaltslehrjahr bei der Gastfamilie absolvieren. Für die Berufsausübung standen ihr nach den damaligen Vorschriften der Fremdenpolizei nur Haushalt oder Krankenpflege offen. Um schnell Geld verdienen zu können, wählte sie Haushalt, das Berner Hilfswerk ermöglichte ihr den Besuch einer renommierten Haushaltungsschule in St. Gallen, wo sie zur Haushaltsleiterin ausgebildet wurde. Danach kehrte sie nach Bern zurück und arbeitet dort 3 Jahre im Haushalt. 1951 besuchte sie - auf eigene Kosten - einen halbjährigen Handelsschulkurs und fand danach eine Sekretärinnenstelle in einem Elektrogroßhandel. Dort blieb sie 7 ½ Jahre. 1959 wechselte sie in das Sekretariat der ärztlichen Direktion der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau bei Bern und war dort 3 ½ Jahre tätig. 1963 heiratete sie Werner Meyer und bekam 3 Kinder, Rolf Nathan, Eva Elisabeth und Caroline Ester. Hanna Meyer-¬Moses lebt mit ihrem Mann in der Schweiz in der Nähe von Zürich.
Susanne Moses konnte noch 1 Jahr die Volksschule in dem Dorf, wo die Kinder lebten, besuchen, danach die Sekundarschule mit Abschluss, daran anschließend für 1 Jahr die Handelsschule. Nach einigen praktischen Berufstätigkeiten und einem einjährigen Sprach- und Arbeitsaufenthalt in England, absolvierte sie in Paris an der Sorbonne für 1 Jahr den Lehrgang „Civilisation Francaise“. 1958 wanderte sie nach Israel aus, lebte dort zunächst für 1 Jahr in einem Kibbuz, um Hebräisch zu lernen. 1960 ging sie zur israelischen Fluggesellschaft El Al als Air-Hostess. Dort arbeitete sie sich bis zur Chef-Hostess hoch. 1982 heiratete sie und lebt zeitweise in der Schweiz, zeitweise in Israel, wo sie sich aktiv in der Friedensarbeit verschiedener Organisationen engagiert. Deutschland - auch das soll angemerkt werden - hat sie für immer den Rücken gekehrt.
Nachzutragen bleibt:
Gustav Dreifuß, Betty Moses’ Bruder, wurde am 11.11.1941 mit seiner Frau Pauline und deren Tochter Hilde von Frankfurt/M aus in das Ghetto nach Minsk in Weißrussland deportiert, wo sie erschossen oder erschlagen wurden oder verhungert sind; der Transport umfasste 1.042 Personen, 9 davon überlebten, nur Männer, keine Frau, kein Kind. Hermine Dreifuß, Betty Moses’ Schwester, wurde von Stuttgart aus zusammen mit 1050 Juden aus Stuttgart und Umland am 1.12.1941 nach Riga deportiert und dort vermutlich gleich nach Ankunft, wie die meisten anderen auch, erschossen.
Simon Scheibe, der Hanna Meyer-Moses’ Großcousine Jenny, Tochter von Julie und Emil Rothschild, am 19.6.1939 geheiratet hatte, kam am 26.8.1942 mit Transport Nr. 24 von Drancy nach Auschwitz; der Transport umfasste 1.002 Personen, darunter 410 Kinder. Julie Rothschild, Nathan Moses’ Cousine aus Altdorf, Tochter seiner Pflegeeltern Bickard, und ihre Tochter Jenny überlebten. Beide arbeiteten schon in Gurs bei den Quäkern mit. Im Sommer 1942, als sie bereits im Deportationszug saßen, wurden sie in Toulouse von der Quäker-Direktorin Helga Holbek persönlich aus dem Zug herausgeholt, sie wurden irgendwo versteckt. Nach Kriegsende hat Jenny Scheibe, nunmehr Witwe, einen spanisch¬republikanischen Bauern namens Francisco Lopez geheiratet und in der Nähe von Lyon, später in Dijon gelebt. Sie bekam 6 Kinder. Julie Rothschild starb 1946 oder 1947, Jenny Lopez starb 1990, ihr Mann Francisco 1992.
Großen Dank schulde ich Hanna Meyer-Moses, der Tochter von Nathan und Betty Moses, die meine vielen, vielen Fragen für diesen biografischen Bericht mit großer Geduld akribisch beantwortete. Viele Details, die sie mitteilte, konnten aus Platzgründen nicht aufgenommen werden. Sie überließ mir auch diverse Vortragsmanuskripte und Dokumentationen über ihr Leben und die Geschichte der Familie Dreifuß, die sie vor Jahren schon erstellt hatte. Seit nunmehr einigen Jahrzehnten hält Hanna Meyer-Moses unermüdlich als Zeitzeugin Vorträge bei Gedenkveranstaltungen und vor allem in Schulen, getragen von der festen Überzeugung, dass die heute lebenden Menschen wissen müssen, was Schlimmes in der dunkelsten Periode deutscher Geschichte geschehen ist, als Mahnung, damit sich so etwas nie wiederholen darf
(Wolfgang Strauß, Februar 2007) [Korrektur: Februar 2024]
Quellen/Literatur:
Mitteilungen Hanna Meyer-Moses;
Hanna Meyer-Moses: Reise in die Vergangenheit, Eine Überlebende des Lager Gurs erinnert sich an die Nazi-Verfolgung, 2009 (Erstauflage);
Hanna Meyer, geb. Moses, in: Edwin M. Landau u. Samuel Schmitt (Hrsg.): Lager in Frankreich. Mannheim 1991, S.154-162;
Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern, Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich, Karlsruhe 1988;
Ortssippenbuch Altdorf, Stadt Ettenheim, 1976;
Ortssippenbuch Efringen-Kirchen, 1959;
Stadtarchiv Karlsruhe: 1/AEST 1238; 8/StS 13/ 316; 8/StS 17/270; 6/StS 17/313; /StS 34/127;
Generallandesarchiv Karlsruhe: 240 Zug. 1997-38/2004; 330/886, 888, ;480/22755, 22758
Bundesarchiv: R 3001/68827;
Genfer Staatsarchiv Justice et Police Ef/2;
Isr. Gemeindeblatt Ausgabe B 17.9.1933, 13.12.1933; 27.3.1935, 10.4.1935, 9.10.1935, 15.7.1936, 13.1.1937, 24.3.1937;