Neger, Isidor

Nachname: Neger
Vorname: Isidor
Geburtsdatum: 4. März 1910
Geburtsort: Leipzig (Deutschland)
Familienstand: ledig
Eltern: Jakob und Fanny N.
Familie: Bruder von Sophia, Grete, Julius, Sally und Toni
Adresse:
Waldhornstr. 62
Deportation:
Ghetto Warschau (Polen)
Sterbeort:
Warschau (Polen) [?] Widerstandskämpfer beim Warschauer Ghettoaufstand 1943 [?]
Sterbedatum:

Biographie

Jakob, Fanny und Isidor Neger

„Fühle mich nun wenigstens wieder als Mensch“,
schreibt Sally Neger seiner künftigen Frau 1938 aus dem Lager Bentschin im polnischen Niemandsland in die Schweiz.

Jakob und Fanny Neger stammen beide aus Galizien, damals Österreich-Ungarn, heutiges Polen. Jakob war als Jehuda Neger 1880 in Kolomea geboren und 1896 mit seinen Eltern Samuel und Pessia Neger nach Leipzig ausgewandert. Dort heiratete er am 31. Juli 1903 Fanny (Fejaga) Federgrün, 1881 in Lexandrowa geboren. Ihre Eltern Eltern Sally und Chawa Federgrün blieben in Polen.

Nach der Geburt ihrer sechs Kinder zog die Familie 1912 nach Karlsruhe um.
Dort wohnten sie in der Waldhornstraße 62 in Miete bei einem jüdischen Hausbesitzer.
Am Ersten Weltkrieg nahm Jakob Neger als österreichischer Soldat ab Februar 1915 teil. In den Kämpfen an der Karpatenfront wurde er durch einen Streifschuss an der Ferse verwundet, kehrte aber 1919 ohne größere körperliche Gebrechen nach Karlsruhe zurück.
In Karlsruhe ging Jakob seinem kaufmännischen Beruf nach und handelte durch An- und Verkauf von Fellen, auch Kleidern. Auf Märkten, Messen – nach Leipzig ging er immer wieder –, aber auch von Haus zu Haus verkaufte er seine bei Metzgern und Jägern erstandenen Felle. Seine Frau Fanny half ihm bei der Arbeit. Der überwiegende Hausierhandel brachte zwar kein hohes Einkommen, aber doch so viel, dass die Familie ein Leben in bescheidenem Wohlstand führen konnte. Ausdrücklich wurde amtlich bescheinigt, dass die Familie ohne Fürsorgeleistungen lebte und über eine wohl eingerichtete Wohnung verfügte und die Kinder immer „ordentlich“ gekleidet gewesen seien.
Die Kinder sollten eine bessere Ausbildung genießen, sie gingen alle auf die Bürgerschule, eine erweiterte Volksschule, die schulgeldpflichtig war. Jakob war ein strenger, jedoch guter Vater, wie seine Kinder meinten. Sie beherrschten alle die deutsche Sprache perfekt und konnten nach Aussagen nicht von anderen deutschen Kindern in Sprache, Kleidung oder Kultur unterschieden werden.

Jakobs ältester Sohn Toni, am 9.Mai 1905 in Leipzig geboren, ging nach seinem Schulabschluss zu einer Bank. Er hatte so schon früh ein selbständiges Einkommen und galt bei der Arbeit als fleißig und gut gebildet.
Der zweitgeborene Sally (28. Februar 1907 in Leipzig) machte eine kaufmännische Lehre bei der renommierten Futterhandelsfirma N.J. Homburger und galt in seiner Tätigkeit als Buchhalter als gute Kraft. Später war er Reisender für die Textilhandlung Bickart.
Julius, der dritte Sohn der Familie Neger (3. September 1908 in Leipzig) arbeitete nach achtjähriger Schulbildung als Kaufmann in einer Eisenhandlung und nahm dort eine gehobene Stellung ein. Auch er hatte so ein selbständiges Einkommen.
Isidor, (4. März 1910 in Leipzig) der vierte Sohn, arbeitete wie sein Bruder Sally bei der Firma N.J. Homburger.
Die Erstgeborene, Tochter Sophia (geboren am 30. November 1903 in Leipzig), ging nach der Schule nach Stuttgart als Verkäuferin, wo sie bei ihrem Onkel, einem Bruder des Vaters wohnte. Sie heiratete und kam nicht mehr nach Karlsruhe zurück. Auch die Schwester Gretel (geboren am 27. Juli 1911 in Leipzig) heiratete und wohnte vor ihrer Flucht aus Deutschland mit ihrem Ehemann in Frankfurt a.M.

Am 7. Januar 1920 beantragte Jakob Neger das erste Mal die deutsche Staatsangehörigkeit für sich und seine Familie. Er hatte lange Zeit in Deutschland gelebt und die Grenzverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg machten den bis dahin als österreichisch-ungarischen Staatsbürger Geltenden zunächst zum Ukrainer, später zum Polen. Der Schritt lag ihm auch wegen der Zukunft seiner Kinder sehr am Herzen. Sein Antrag wurde aber abgelehnt. Der genannte Grund war der zu kurze Aufenthalt in Karlsruhe. Jedoch dürfte der tiefere Grund in den geringen finanziellen Mitteln der Familie gelegen haben und vor allem in der osteuropäisch-jüdischen Herkunft, die bei den Behörden der jungen demokratischen Republik nicht gerne gesehen wurde. Doch Jakob Neger gab nicht auf, er fühlte sich zu deutsch um Pole zu sein, den zweiten Antrag stellte er am 17. Juni 1921. Dieser wurde jedoch von der Polizei circa eineinhalb Monate später ohne irgendeine Begründung abgelehnt. Jedoch gab Jakob Neger nicht auf und startete erneut einen Versuch, was seine Beharrlichkeit und den dringenden Wunsch zur deutschen Staatsbürgerschaft nachdrücklich zeigt. Diesmal wurde sein Antrag vom 27. Dezember 1925 wegen einer geringfügigen Vorstrafe seiner Frau, die sie wegen unerlaubten Hausierens erhalten hatte, abgelehnt. Auch Jakob Negers letzter Versuch vom 15. Dezember 1926 blieb erfolglos.

Nachdem es der Familienvater sechs Jahre lang vergeblich versucht hatte, stellten die mittlerweile erwachsenen Söhne Sally und Julius für sich den Antrag auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Beide am selben Tag, am 22. Januar 1930, mit der Begründung, dass sie schon immer in Deutschland gelebt hätten und keinerlei Beziehungen zu Polen hätten, sie könnten weder die Sprache schreiben noch verstehen. Julius erhielt als erster die Ablehnung am 16. Oktober 1930 mit der Begründung, er sei „kein wertvoller Bürger“, wie schon sein Vater keiner gewesen sei. Die Familie wurde wider Willen zu polnischen Staatsangehörigen gemacht.
Sally erhielt erst im März 1931 seine Ablehnung, ohne jegliche Begründung.

Über das Schicksal der Familie während der NS-Verfolgung
Über den weiteren Weg und die Verfolgungen nach 1933 bleiben einige derzeit nicht schließbare Lücken. Anzunehmen ist, dass der Lebensstandard der in Karlsruhe nach dem Wegzug der Töchter kleiner gewordenen Familie infolge des nationalsozialistischen Judenboykotts gesunken sein muss, wenn auch die Söhne vorerst noch über ein Einkommen für den Familienunterhalt verfügten. 1935 konnte Jakob Neger sein Geschäft nicht mehr ausüben, da der NS-Staat jüdischen Handelsvertretern und Hausierern den Gewerbewanderschein versagte.
Die bei den Behörden und NS-Stellen als polnisch geltende Familie geriet 1938 unter die „Polenaktion“, d.h. männliche Juden mit Zuordnung als Polen wurden zum 28. Oktober 1938 ausgewiesen und mit der Eisenbahn an die polnische Grenze verfrachtet, wo sie monatelang im Lager Zbaszyn ( Bentschin) ausharren mussten. Das Deutsche Reich schob sie ab, weil es eine Gelegenheit sah, diese verfemte Gruppe loszuwerden, der polnische Staat verweigerte vorerst die Einreise, und die internationale Gemeinschaft reagierte mit monatelangen Verhandlungen. Am Ende stand im Frühjahr/Frühsommer 1939 die Einreise nach Polen, teilweise mit der Möglichkeit, für jeweils wenige Wochen nach Deutschland zurück zu kehren, um letzte Dinge zu regeln.
Dieses Schicksal erlitten Jakob Neger und seine Söhne Sally und Julius. Sie mussten monatelang im Lager bei Bentschin bleiben, eine ehemalige Kaserne, ohne diesen Ort verlassen zu können. Sally musste dort vom 29.Oktober 1938 bis zum 31. Mai 1939 ausharren. Er berichtet in Briefen von den schlechten Bedingungen des Lagers, unter anderem, dass er auf Stroh schlafen musste. Auch geht aus einem Brief hervor, dass sein Vater Jakob sich bei ihm befand, jedoch in sehr schlechtem gesundheitlichem Zustand. Eine Frau aus Bentschin, die die Lagerinsassen unterstützte berichtet in einem Brief vom 5. Juli 1939 an Sally, dass der Vater am kommenden Tag nach Warschau gehen würde.

Im selben Juli 1939 mussten Fanny Neger und Isidor Karlsruhe verlassen und nach Polen folgen. So blieb die Restfamilie in Warschau vereint. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen wurde in Warschau endgültig im November 1940 ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung eingerichtet. Unter unsäglichen Bedingungen mussten weit über 100.000 Menschen auf gerade einmal 2,4 Quadratkilometer hinter Mauern und Stacheldraht leben, teilweise sechs bis sieben Menschen in einem Zimmer. Die Nahrungsmittelversorgung war so mangelhaft, dass jeden Monat mehrere tausend Menschen verhungerten. Jakob, Fanny und Isidor lebten unter diesen Verhältnissen. Ein Brief aus Warschau vom 16. Februar 1942 nach Lissabon an Julius bleibt ihr letztes Lebenszeichen. Jakob Neger bat um weitere Sendungen von Päckchen, um Lebensmittel, vor allem Ölsardinen und Trockenfrüchte, eine persönliche Mitteilung befand sich nicht darin, unterlag die Post doch der Zensur.
Ab dem Mai 1942 bis September 1942 erfolgte die Leerung des Warschauer Ghettos durch die SS und die Züge fuhren zu den Vernichtungslagern. Ab Januar 1943 sollten die allerletzten Juden aus dem Ghetto in den Vernichtungslagern ermordet werden, was zum Warschauer Ghettoaufstand führte. Ob Jakob, Fanny und Isidor diesen noch miterlebten ist unsicher. Julius Neger benannte 1971 die Todesumstände seines Bruders als „fighting“. So könnte Isidor als aktiver jüdischer Widerstandskämpfer an den mutigen Kämpfen beteiligt gewesen sein, genau lässt sich das aber nicht mehr feststellen. Ebenso wahrscheinlich ist, dass alle drei bereits 1942 den Tod erlitten.

Julius Neger überlebte. Wie sein Weg genau war, bleibt lückenhaft. Im Februar 1942 befand er sich in Portugal in Lissabon, offensichtlich beim Warten auf die Emigration in die USA. Lissabon blieb nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 eines der letzten Schlupflöcher in Europa, um den Machtbereich der faschistischen Achsenmächte zu verlassen.
Auch Sally überlebte. Sein Weg lässt sich exakter verfolgen: Er gehörte zu denen, die nach dem Lager Bentschin ihre Angelegenheiten „regeln“ durften. Dies nutzte er, um um den 8. Juni 1939 zu seiner Verlobten Mathilde Rosenblatt in die Schweiz zu fahren. Dort besuchte er das Hotel seiner zukünftigen Schwiegermutter, „Hotel Rosenblatt“, in Luzern, musste die Schweiz jedoch nach zwei Wochen auf behördliche Anordnung wieder verlassen. Von dort aus reiste er am 14. Juli 1939 nach Italien und von dort aus zur Eheschließung zurück in die Schweiz. Die Hochzeit erfolgte am 4. März 1940, beide wanderten am 21. März desselben Jahres in die USA aus. Am 1. April 1940 kamen sie in New York an. Offiziell wurden sie im Oktober 1945 US-Staatsbürger.
Sally Neger änderte seinen Namen in Stanley Nager und begann ein neues Leben. Das Ehepaar musste hart arbeiten, um sich das tägliche Brot zu verdienen. Von Juni bis September 1940 arbeitete Sally als „Salatmann“ und seine Frau Mathilde als Zimmermädchen. Im Oktober 1940 erlangte Sally einen Job als Fabrikarbeiter. Am 21. Dezember 1940 erblickte ihre Tochter Bernice das Licht der Erde, drei Jahre später am 8. November 1943 folgte Sohn Barry.
Schon am 17. September 1947 starb Sally Neger nach einem Herzanfall. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Malden, Massachusetts begraben.
Die verheirateten Geschwister Sophie, Grete, Toni und Julius lebten alle mit ihren Familien in den USA, relativ nahe beieinander in und um New York.

(Anne-Kathrin Bohrer, Schülerin der 12. Klasse Lessing-Gymnasium, August 2006)