Okuniewski, Berta

Nachname: Okuniewski
Vorname: Berta
geborene: Gonschoch
Geburtsdatum: 15. Mai 1863
Geburtsort: Ostrolenka (Russland, heute Polen)
Familienstand: verwitwet
Familie: Witwe von Israel O. (?-29.12.1915; Mutter von Anna Meyer, geb. O.
Adresse:
Brunnenstr./Am Künstlerhaus (Durlacher Str.; Durlachertorstraße) 50,
Schwanenstr. [ehemalige Straße im "Dörfle", nicht mehr existent] 13,
1928: Kaiserstr. 29,
Zirkel 13,
Augartenstr. 25,
1939: Kaiserstr. 164
Beruf:
Kauffrau Händlerin
Deportation:
4.6.1942 von München nach Theresienstadt (Protektorat Böhmen-Mähren, heute Tschechien)
Sterbeort:
Theresienstadt (Protektorat Böhmen-Mähren, heute Tschechien)
Sterbedatum:
23. Juni 1942

Biographie

Fischel und Anna Okuniewski, Berta Okuniewski

Für die Familie Okuniewski liegt eine Aktenüberlieferung mit Bildern und einem Brief aus dem Lager Gurs nach Palästina vor, es sind sogar – in der Nachkriegszeit – Erinnerungen der Tochter des Ehepaars Okuniewski im Druck erschienen (Stephany Torrance, Go first, my child, New York 1969). Auch eine Urenkelin in den USA hat sich bemüht, Zusammenhänge zu finden. Auch wenn, wie bei manchen Juden in Nazi-Deutschland, die Kinder in den späten 1930ern noch fliehen konnten, so sind von der Familiengeschichte durch Krieg und Verfolgung nur Fragmente geblieben. Fest steht, dass die Eltern und die Großmutter väterlicherseits im Krieg dem antijüdischen Rassenwahn zum Opfer fielen.

Die Okuniewskis müssen um 1905/06 aus dem damals russisch verwalteten, nordöstlichen Polen nach Karlsruhe gekommen sein: der aus Stawiski gebürtige Handelsmann Israel, Sohn des Fischel (senior) und der Zlata, seine aus Ostrolenka stammende Frau Berta Bejle („Behla“) geborene Gonschoch, ihre etwa 6-jährige Tochter Anna (Hanna1, geboren 7. Mai 1900), ihr Sohn Fischel (Efraim) etwa im Barmizwa-Alter (13 Jahre), ihre etwa 16-jährige Tochter Lotte2 und weitere Angehörige.

Die Namensform „Gonschoch“ ist gänzlich unüblich, im Gegensatz zu „Gonschor“ (Gonszior). Daher ist fast von einem Hörfehler eines sprachunkundigen Beamten auszugehen, der die Papiere verfertigte. Solche später zu ändern, wäre schwierig gewesen und unterblieb offenbar. Der Name geht auf polnisch „gąsior“ zurück, deutsch: Gänserich. Aufzucht und Handel von Geflügel war ein nicht selten von Juden ausgeübter Beruf.
„Israel“, der Vorname des Vaters, auf der zweiten Silbe, dem -a- betont, bezieht sich auf den Beinamen des biblischen Patriarchen Jakob.

1906 wohnten die Okuniewskis in der Karlsruher Altstadt, dem „Dörfle“, Durlacher Straße 50, 3. Stock, im Jahr darauf in der Durlacher Straße 55 Hofgebäude 1. Stock, um 1910 bis 1912 in der Schwanenstraße 13 parterre, um 1913/14 in der Durlacher Straße 1, 4. Stock – offensichtlich durchweg in einfachen, befristeten Mietunterkünften.

In den frühen 1910er Jahren hat Fischel die ebenfalls aus Russisch Polen stammende Anna (Chana) geb. Borkowski, Tochter des Itzhak, geheiratet, die mit Mutter und Geschwistern nach Karlsruhe gekommen war, unter ihnen Berta und Frieda. Insgesamt waren sie 16 Kinder.3 Anna Borkowska, wie sie sich ursprünglich schrieb, war am 5. (oder 18.) September 18864 in der Industriestadt Kalisz geboren und kam aus einer musikalischen Familie. Sie hatte bereits in Polen auf der Opernbühne gesungen und trat auch in Karlsruhe gelegentlich auf.5 Im Alltag arbeitete sie im Geschäft ihres Mannes und war Hausfrau. Ihr Mann Fischel handelte als Vertreter mit Stoffen, Bettwäsche, Kurzwaren auf Abzahlung, er hatte in Polen die Volksschule besucht.

Ab 19146 – nur wenige Monate vor Kriegsausbruch – verzeichnet das Adressbuch Fischel Okuniewski als Handelsmann mit eigenem Hausstand in der Fasanenstraße 31 parterre, die Eltern wohnten nun um die Ecke in der Kaiserstraße 29, Hofgebäude 2. Stock, nahe der Technischen Hochschule.

Am 9. Februar 1915 kam das erste Kind von Fischel und Anna in Karlsruhe zur Welt, Isaak (Itzhak), genannt Isi.
Am 20. Dezember 1915 freuten sich auch Nathan Albert und Lotte, geborene Okuniewski, Fischels Schwester aus der Durlacher Straße 14 über Nachwuchs, ihren Sohn Julius.7

Wenige Tage später, am 29. Dezember 1915 starb Vater Israel im Alter von etwa 75 Jahren.8 Er ist auf dem Jüdischen Friedhof (Liberaler Teil) an der Haid-und-Neu-Straße begraben.9 Er hinterließ die wesentlich jüngere Witwe Berta Bejle. Sie war am 15. Mai 1863 geboren, also damals erst 51 Jahre alt.

Fischel, der die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, wurde im 1. Weltkrieg zum Militärdienst eingezogen, zweimal verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz.10 Sein Geburtsdatum und -ort sind uneinheitlich überliefert, vermutlich 7. November 189211 oder 7. Januar 1893, in Ostrolenka oder Stawiski, beide Orte lagen im Gouvernement Lomza, Bezirk Bialystok in Russisch Polen.

Laut den Adressbüchern 1918/19 ist die Familie in die damalige Brunnenstraße 1 umgezogen. Das einfache, alte Häuschen gehörte dem Schneider Jakob Silbermann.

Am 9. Dezember 1919 kam das zweite Kind von Fischel und Anna zur Welt, Fanni. Beide Kinder gingen in Karlsruhe zur Schule und erhielten sicherlich auch Religionsunterricht von den Rabbinern und Lehrern der Israelitischen Kultusgemeinde, deren Synagoge in der Kronenstraße 15 stand.

Am 3. Oktober 1920 wurde Rosa („Rosa Borkowska“) in Karlsruhe geboren, eine Tochter von Anna Okuniewskis Schwester Frieda (Frejda), die Dienstmädchen bei einer Familie in der Zähringer Straße 25 war. Dort im 3. Stock wohnte die Familie des Schuhmachers Samuel Jablonka. Dessen Frau Berta, geborene Borkowski, war ebenfalls eine von Annas Schwestern. Berta war von Kindheit an „verkrüppelt“ und auf einen Stock angewiesen.

Fischel und Anna Okuniewski hatten ein Auskommen, in den mittleren Jahren der Weimarer Republik wohl sogar einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Fanni beschrieb später den Vater als sehr fleißig, dabei gütig und freigebig gegenüber Bedürftigen, die er nicht selten mit nach Hause brachte und unterstützte. Die Mutter habe ihn manchmal ermahnt, nicht zu viel des Guten zu tun.

In den Jahren um 1920-27 wohnten die Okuniewskis noch in ihrem angestammten Viertel, nunmehr in der Brunnenstraße 4. Die verwitwete Mutter Berta, unweit davon in der Kaiserstraße 29 ansässig, war auch als Händlerin in Textilien unterwegs, vielleicht in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn.

1929 trat Isaak beim Warenhaus Geschwister Knopf eine Lehre als Dekorateur an. Um diese Zeit zog Familie Okuniewski – reisender Händler, Hausfrau, Lehrling und Schülerin – in die Kaiserstraße 107, 5. Stock, zwischen Kronen- und Adlerstraße um, was einen gewissen wirtschaftlichen Aufstieg nahelegt, auch wenn es wieder nur eine Dachwohnung war. Bereits 1931 und für die folgenden Jahre wohnte die Familie dann in der Steinstraße 11 im 1. Stock. Eine Nachbarin im Haus war Rosa Kramer, die Witwe des Stiftsrabbiners und Lehrers der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft, Dr. Jacob Kramer.

Fischels Mutter Berta Okuniewski wohnte inzwischen im Haus der Geschwister Kahn am Zirkel 13, bald darauf in der Augartenstraße 25. Die häufigen Umzüge selbst bei der älteren Generation deuten darauf hin, dass günstige, befristete oder renovierungsbedürftige Wohnungen gemietet wurden, weil schwankende Einnahmen nichts anderes zuließen.

Die Firma Knopf war so zufrieden mit Isaaks Leistungen, dass er ab Mitte 1932 als Dekorateur fest angestellt wurde; im Sommer 1933 verlor er aber als „Nicht-Arier“ diese Stelle und verließ Deutschland. (Nach dem 2. Weltkrieg wurde aus Knopf, „arisiert“ zu Hölscher, schließlich das Kaufhaus Karstadt).

Fanni besuchte kurze Zeit die Gewerbeschule Karlsruhe und machte eine Lehre als Putzmacherin mit dem Ziel, Directrice zu werden. 1935 musste sie die Schule als „Nicht-Arierin“ verlassen und arbeitete weiter im Putzmacher-Geschäft Geschwister Gutmann in der Kaiserstraße 122, das der Familie Maaß gehörte. Mit deren Auswanderung 1937 endete ihre Lehre vorzeitig. Im April 1937 konnte sie noch mit Erfolg einen Reisepass12 zum Besuch der Weltausstellung in Paris und ihrer dortigen Verwandten beantragen. Offenbar wollte sich Fanni dort auch beruflich weiterbilden.

Isaak war 1934-36 auf „Berufsumschichtung“ (Hachshara) in Südfrankreich, in seinen eigenen Worten als „landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter“, auf Vermittlung der zionistischen Hechaloutz-Organisation in Paris. 1936 machte er Aliyah und schloss sich dem Kibbutz Na'an bei Rechovot an.

Die Eltern, Fischel und Anna, waren seit 1933 immer größeren Schwierigkeiten und Schikanen ausgesetzt. Eine Nachbarin im Haus, Emilie B., sagte nach dem Krieg bei einer behördlichen Befragung in Bezug auf die Judenverfolgung13, ein Mieter (von Beruf Sattler und Tapezierer) habe nach 1933 die im Haus wohnenden Juden bei jeder Gelegenheit schikaniert, „besonders hatte er es auf Familie Okoniewski abgesehen“. Emilie B. selbst beteuerte, jeden Donnerstag bei den Okuniewskis putzen gegangen zu sein und immer ein gutes Verhältnis zu Juden gehabt zu haben. Von einer Nachbarin unten im Haus berichtete Fanni später, sie habe aus Verachtung immer so die Tür vor ihnen zugeknallt, dass eines Tages das Fenster darin zerbrach, worüber sie als Jugendliche bei aller Empörung lachen musste.14

Nach dem Pogrom (zeitgenössisch auch „Kristallnacht“), bei dem organisierte Banden die Bethäuser, Geschäfte und auch manche jüdischen Haushalte verwüsteten, wurde Fischel Okuniewski am 10. November 1938 verhaftet. Zum Entsetzen seiner Frau wurde er – gerade halbfertig rasiert, ohne Gepäck und Proviant – überfallartig abgeholt. Wie insgesamt über 10.000 Männer lieferte man ihn am 11. November als „Schutzhäftling“ in das KZ Dachau bei München ein. Er bekam die Häftlingsnummer 21675 verpasst.15 Kahlscheren, stundenlanges Appellstehen und Gewalttätigkeiten durch das Wachpersonal waren dort üblich, wie etliche Zeitzeugen berichtet haben.

Am 13. Dezember wurde Fischel wieder entlassen, nach der Erinnerung seiner Tochter durch deren Intervention bei der Karlsruher Gestapo, vielleicht aber auch, nachdem er unterschrieben hatte, in kürzester Frist das Land zu verlassen. Es ist belegt, dass Fischel und seine Frau sich im Januar 1939 um Papiere für die Auswanderung nach Palästina bemühten. Die dazu benötigten, ein Jahr gültigen, mit einem „J“ gekennzeichneten Reisepässe wurden den beiden Deutschen zwar zunächst bewilligt, die Anträge aber „zurückgestellt“, angeblich weil es Rückfragen im Zusammenhang mit dem Passantrag von Fischels Mutter Berta gab. Die Pässe liegen den erhaltenen Akten bei und wurden offenbar nie ausgegeben. Bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 sind Eltern und Tochter noch in der Steinstraße 11 erfasst worden. Auf „Ergänzungskarten“ wurden überall die Daten jüdischer Bürger/-innen detailliert eingetragen. Diese Maßnahme diente zweifellos der weiteren Verfolgung. (Bei Anna Okuniewski ist dort als Geburtsname „Rogowski“ angegeben, vielleicht ein Lesefehler aus jüngerer Zeit, oder der Geburtsname ihrer Mutter, Genaueres war nicht zu festzustellen).

Fischel hatte in dieser Zeit, nach Aussage seiner Tochter, zwangsweise für Pfennigbeträge auf Baustellen zu schuften.16 Bald mussten die Okuniewskis in eine kleinere Wohnung im Hinterhaus umziehen, zu viert in zwei Zimmer. Anna pflegte den von der Haft schwer mitgenommenen Ehemann, und neben Fanni war deren Bericht zufolge auch die fast 90-jährige, verwirrte Großmutter mit in der Wohnung. Sie sei noch 1939 friedlich im Altersheim verstorben.17 Hiermit muss Annas Mutter, Frau Borkowski gemeint sein, deren Vorname nicht herauszufinden war. --

Fanni hatte inzwischen kein Visum mehr für Reisen nach Frankreich bekommen und bemühte sich ab Januar 1939 – wie ihre beste Freundin Esther Vogel, Tochter des Uhrenhändlers David Vogel aus der Augartenstraße 418, bei der „Auswanderer-Beratungsstelle“ intensiv um ein Aufnahmeland. Diese Beratungsstelle war der von Karl Eisemann geleiteten Bezirksstelle der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ angegliedert und arbeitete unter den Augen der Nazibehörden, denen es vorrangig darum ging, die Ausreisewilligen bzw. ihre Angehörigen finanziell auszupressen. Die Möglichkeiten, den Menschen zu helfen, waren da sehr begrenzt.

Zunächst war Fannis Ziel Palästina. Sie arbeitete noch kurze Zeit im Haushalt der Familie Karl Falk, emigrierte dann aber im August 1939 nach England, wo sie mit Hilfe ihres Vaters gerade noch rechtzeitig – als Bedingung für das Visum! – eine Stelle als Hausangestellte in London bekommen hatte. Erste Anlaufstelle dort war Bloomsbury House, wo sie auch andere Flüchtlinge aus Karlsruhe traf.19

Fischels Mutter Berta wohnte 1939 in der Kaiserstraße 164 (nahe Hauptpost/Douglasstraße) und beantragte im Frühjahr 1939 einen Reisepass20, um nach Paris zu einer ihrer Töchter zu ziehen. Der Pass wurde nicht erteilt. Auf dem zugehörigen Passfoto ist zu erkennen, dass Berta eine Perücke („Schejtl“) trug, entsprechend den Anforderungen der (Alt-)Orthodoxie.

Anfang September 1939 zog die sehbehinderte alte Dame nach München, wo sie – auf Vermittlung des Wohnungsamts der Israelitischen Kultusgemeinde – bei einer Familie Steinheimer in der Rumfordstraße 29/II angemeldet wurde21 und gleich in das Krankenheim der Israelitischen Kultusgemeinde in der Hermann-Schmid-Straße 7 kam22. Ein wahrscheinlicher Grund ihres Umzugs nach München ist, dass es in Karlsruhe wegen der zunehmenden Auswanderung keine adäquate klinische Behandlung mehr gab. Im Münchner Israelitischen Krankenheim war dagegen z.B. noch der sehr engagierte Chefarzt Dr. Julius Spanier (1880-1959) tätig.

Fischel Okuniewski fühlte sich – so meinte später seine Tochter – als Weltkriegsveteran und Deutscher trotz aller Widrigkeiten in Deutschland sicher. Am 22. Oktober 1940 wurde das Ehepaar aber mit über 900 anderen Karlsruher Jüdinnen und Juden in das von der Vichy-Regierung verwaltete Lager Gurs am Rande der Pyrenäen verschleppt. Dies geschah ohne Vorankündigung. Selbst während der über drei Tage dauernden Fahrt in einfachen Personenzügen war den meisten Menschen unbekannt, was sie erwartete.

Im Camp de Gurs standen zahllose Baracken mit Lüftungsklappen, aber ohne richtige Fenster. Anfangs gab es keine Betten, unbefestigte Wege, eine Latrine für jeweils Hunderte von Menschen, kaum Heizmaterial und kaum Medikamente. Es herrschte Mangelernährung, Verzweiflung und Gereiztheit, da niemand wusste, wie es weiter gehen würde. Im früh einsetzenden Winter starben jeden Tag Menschen, vor allem Ältere. (Die Gräber des heutigen Deportiertenfriedhofs in Gurs markieren nicht die genauen Bestattungsorte, da die Toten damals in Massengräbern beigesetzt werden mussten).

Erst im Frühjahr 1941 besserten sich die Lebensbedingungen etwas, als Hilfsorganisationen aus mehreren Ländern eingreifen konnten. Der folgende, im Generallandesarchiv überlieferte Brief stammt aus dieser Phase:

To Mr. Isi Okuniewski, Kibbutz Naan, P.O.B. 51, Rehovot, Palestine.
Camp de Gurs, 25. Juli 1941
Lieber Sohn!
Deine l[iebe] Karte von 26.1. und Deinen l. Brief vom 20.2.41 habe ich heute erhalten und freue mich herzlich, dass ich von Dir ein Lebenszeichen habe. Der l. Mutter geht es in Bezug auf Gesundheit nicht zum Besten und ich bin schwach. Wir sind schon fast 7 Monate ohne Mittel u. bitte ich Deine Bemühungen fortzusetzen um uns eine Hilfe zukommen zu lassen. Von Deiner Schwester Fanni haben wir noch keine Nachricht erhalten, sie ist nicht mehr auf der alten Stelle u. wissen wir nicht wie die jetzige Adresse ist. Onkel Samuel [Jablonka, Anm. CK] ist bereits 22 Monate interniert, Tante Bertha [dessen Frau, Anm. CK] ist in Paris u. erhalte ich von ihr Post. Sei so gut und tue was Dir möglich ist für uns. Beste Grüße und Küsse von Deinen Eltern.
Fischel Okuniewski, Camp de Gurs B.P., Ilot E, Baraque 10
23

Die letzte Nachricht von ihren Eltern erhielt Fanni in England offenbar im August 1941 aus Gurs24 und vermutete fortan, sie seien dort gestorben.25

Fischel und Anna wurden jedoch im Juli 1942 in das Camp de Rivesaltes bei Perpignan verlegt. Von dort sind sie am 11. August 1942 in die besetzte Zone nach Drancy bei Paris deportiert worden.26 Drancy war ein bedrückendes, überfülltes Sammellager. In einen unfertigen Häuserblock für etwa 700 Einwohner pferchten französische Polizeikräfte unter deutscher Regie etwa zehnmal so viele Häftlinge.

Am 14. August verließen Anna und Fischel das Durchgangslager Drancy mit dem 19. RSHA-Transport, der mit 991 Personen nach qualvoller zweitägiger Fahrt in Viehwaggons am 16. August in Auschwitz-Birkenau eintraf. Die erhaltene Deportationsliste führt „Annia“ und „Seschel“ Okuniewski auf. (Vermutlich war die Schreibkraft ein Häftling anderer Nationalität und eigene Papiere bereits verloren gegangen.)

Nur 115 „arbeitsfähige“ jüngere Männer aus dem Transport gelangten ins Lager, alle anderen wurden sofort vergast. Damit muss der 16. August 1942 als Anna und Fischel Okuniewskis Todestag gelten. –

Fischels Mutter Berta wurde am 4. Juni 1942 zusammen mit weiteren Alten und Pflegebedürftigen und Dr. Spanier aus dem Israelitischen Krankenheim zum Münchner Südbahnhof gefahren und in einem Personenzug in das „Protektorat Böhmen und Mähren“ deportiert. Sie erhielt die Transportnummer II/2-75, die Deportationsliste mit 50 Namen ist erhalten. Angelangt nach etwa 36 Stunden, mussten alle Gehfähigen mit ihrem Gepäck die letzten drei Kilometer vom Ankunftsbahnhof Bauschowitz in das „Altersghetto“ Theresienstadt (Terezin) zu Fuß gehen. In der „Schleuse“ wurde üblicherweise alles Gepäck durchsucht. Viel Wertvolles oder Nützliches verschwand dann. Da Berta zumindest teilweise erblindet und zuvor in ärztlicher Obhut gewesen war, kam sie vermutlich nun in ein „Siechenheim“ im Ghetto, wo es ohne Zweifel ärztliche und pflegerische Hilfe gab, aber Mangel an allem anderen. 27

Nach drei Wochen Aufenthalt, am 23. Juni, ist die fast 80-jährige Dame in Theresienstadt umgekommen. Im Jüdischen Museum in Prag wird der „Tagesbefehl des Jüdischen Ältestenrates im Ghetto Theresienstadt“ vom 24. Juni verwahrt, in dem ihr Tod gemeldet ist. –

Die in Frankreich lebenden Verwandten erlitten ein ähnliches Schicksal. Frieda Borkowski ist 1942, ihre Tochter Rosa 1944 in Auschwitz ums Leben gekommen, Julius Albert und sein Vater ebenfalls 1942.28 Von Anna Okuniewskis 15 Geschwistern überlebte nach Aussage der Enkelin Fanni nur eine einzige, nämlich Berta Jablonka in Paris (in den 1920er Jahren hatten die Jablonkas – wie erwähnt – in der Karlsruher Zähringerstraße gewohnt). Berta Jablonka lebte bis etwa in die 1960er Jahre in Frankreich und ist in Israel begraben.

Isaak (Isi) blieb im Kibbutz Na'an bis Ende 1941, trat dann in die Armee der britischen Mandatsmacht ein, er heiratete Rivka und das Ehepaar hatte eine Tochter, Yocheved. Nach 1948 diente Isi bei der israelischen Armee und arbeitete später bei einer Bank. Die Familie lebte in Bat Yam. Einer seiner Freunde war Amos Ben-Gurion, der 1920 geborene Sohn des einstigen Premierministers. Itzhak Okoniewski, wie er sich nunmehr schrieb, ist 1998 in Israel gestorben.

Fanny heiratete 1940 in England, 1941 wurde ein Sohn, Michael, geboren. Ihr Ehemann fiel im selben Jahr in Dunkerque (Dünkirchen). 1943 lernte sie den US-Soldaten William Torrance kennen, heiratete ihn und folgte ihm in die USA, wo drei weitere Kinder zur Welt kamen. Stephanny Torrance, wie sie sich in Amerika schrieb, ist 1988 in Kalifornien gestorben.

Nachkommen in Amerika und Israel erhalten das Andenken an Berta, Fischel und Anna Okuniewski lebendig.

(Christoph Kalisch, Mai 2015)



Anmerkungen:
[1] Geboren am. 7. Mai 1900, später vermutlich verh. Meyer.
[2] Geboren am 2. November 1890 Stawiski.
[3] Vgl. Torrance, Stephanny: Go first, my child. New York 1969.
[4] Im Pasnantrag GLA 330/938: 18.9.
[5] Vgl. Torrance, p. 16.
[6] Adressbücher Karlsruhe 1915 und 1916.
[7] Nathan und Lotte haben am 28. August 1919 in Karlsruhe standesamtlich geheiratet. Die Familie wohnte später Markgrafenstr. 15.
[8] Vgl. Mikrofilme Sterberegister Karlsruhe.
[9] http:www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=2-2595692 .
[10] Vgl. Torrance.
[11] Passantrag GLA 330/941.
[12] GLA 330/940.
[13] Stadtarchiv Karlsruhe 1/H-Reg 10979.
[14] Torrance p. 21.
[15] Bestätigt von Gedenkstätte Dachau, Februar 2015.
[16] Vgl. Torrance.
[17] Vgl. Torrance p. 24.
[18] Vgl. Torrance.
[19] Korrespondenz K. Pascu, März 2015.
[20] GLA 330/939.
[21] Mitteilung B. Schmidt, Stadtarchiv München, März 2015.
[22] So Münchner Biographisches Gedenkbuch.
[23] GLA 480/22804.
[24] GLA 480/22804 Fischel O., 22803 Isaak O.
[25] Vgl. Torrance.
[26] Vgl. „Aufbau“ vol. 9, Nr. 4, 22. Jan 1943: „Liste der aus Rivesaltes Deportierten“.
[27] http:
collections.jewishmuseum.cz/index.php/Detail/Object/Show/object_id/135698 .
[28] Vgl. Memorial de la Shoah (Klarsfeld).