Rabinowitz, Flora
Nachname: | Rabinowitz |
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Vorname: | Flora |
abweichender Name: | Neuberger, verh. |
Geburtsdatum: | 20. Mai 1914 |
Geburtsort: | Odenheim/Bruchsal (Deutschland) |
Familienstand: | verheiratet |
Eltern: | Isaak und Jenny R. |
Familie: | Ehefrau von Markus Neuberger; Mutter von Uri; Schwester von Lilly |
Kriegsstr. 132
Biographie
Im Andenken an Flora Neuberger-Rabinowitz, Markus und Uri Neuberger, eine Religionslehrerfamilie der orthodoxen jüdischen Gemeinde
Karlsruhe im Jahr 1927: Die dreizehnjährige Flora und ihre sechzehnjährige Schwester Lilly wohnen mit dem Vater, Religionslehrer Isaak Rabinowitz und der Mutter Jenny geborene Guggenheim in der Karl-Friedrich-Straße 16 nahe Rathaus und Pyramide. Neben ihrer Wohnung im 1. Obergeschoss (dem badischen „2. Stock“) ist die vom Vater betriebene, kleine „Hebräische Buchhandlung“, wo es auch Gebetsriemen und -mäntel oder z.B. Chanukkah-Kreisel zu kaufen gibt, auf dem selben Stock der erst kürzlich eröffnete, Israelitische Kindergarten. Ein Stock höher wohnen Rabbiner Dr. Michalski und seine Frau Bella, geb. Hirschmann, unten im Parterre ist eine kleine Polizeiwache. Auf der Straßenseite gegenüber steht das schmucke, etwas versteckte Landesgewerbeamt, über den Hof ragt die hohe, farbig gebänderte Ostseite der Synagoge, in der der Vater oft den Minjan leitet oder den Wochenabschnitt liest. Am Giebel über dem Fenster, das der Gemeinde den Schabbatbeginn anzeigt, steht eine Inschrift:
בית הכנסת עדת ישורון נבנה לכבוד אלקינו ... זה השער ליי צדיקים יבאו בו
Das heißt: „Die Synagoge Adass Jeschurun wurde zu Gottes Ehre erbaut. 'Das ist das Tor Gottes, in welches die Gerechten eintreten' [Psalm 118, 20]“.
Was war dies für ein Ort, von dem heute fast keine Spur mehr zu sehen ist?
Nach jahrzehntelangen Debatten um Reformen in Liturgie und Gemeindeorganen hatten sich die liberalen und die orthodoxen Juden in Karlsruhe im 3. Viertel des 19. Jahrhunderts im Streit über die Orgel entzweit, die in der Synagoge Kronenstraße eingebaut werden sollte. Die Fraktion um Baruch Hayum Wormser (1809-1872) lehnte den liberalen Gebetsritus mit Orgelbegleitung und andere Neuerungen als unvereinbar mit dem Religionsgesetz ab, erklärte 1869 ihren Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde und gründete nach dem Vorbild der Frankfurter Orthodoxie um Rabbiner Samson Raphael Hirsch die Israelitische Religionsgesellschaft (Adass Jeschurun).1 Im Gegensatz zur „Gemeindeorthodoxie“ in anderen Städten, die die Trennung von der altehrwürdigen Kehilla scheute, gab es dadurch nun bei den Karlsruher Juden eine der ersten, ganz eigenständigen Separatgemeinden.2
Ein Grundsatz der Neoorthodoxie ist gemäß Sprüche der Väter 2:2, die Gesetze der Tora mit den Erfordernissen der Zeit zu verbinden. Das heißt, den Glauben der Väter mit akademischen Studien, gesellschaftlichem Engagement und Offenheit für die nichtjüdische Umwelt zu vereinbaren. Darin unterscheiden sich die „Austrittler“ ebenso deutlich von den Altorthodoxen, deren Schulen die weltlichen Fächer nicht unterrichten, wie von den Liberalen, deren Liturgie z.B. teilweise in die Landessprache übersetzt ist. Charakteristisch für die Neuorthodoxen ist auch – neben dem in der traditionellen Raummitte angeordneten Pult für die Toralesung (genannt Almemor oder Bimah) – dass Gebete und Lesung nicht durch Gespräche oder lautes Kommen und Gehen gestört werden dürfen, dass die Trauungszeremonie nicht im Freien, sondern in der Synagoge stattfindet und dass verheiratete Frauen Perücke tragen (genannt „Scheitel“). Diese auf S.R. Hirsch zurückgehenden Traditionen leben heute z.B. in Basel, Zürich und in Washington Heights (New York) fort. –
Zunächst hatten die Karlsruher „Israeliten“ (wie man sie nannte) Gebetsräume im Hause Ettlinger, Ritterstraße 2. 1881 ließ die Religionsgesellschaft in der Karl-Friedrich-Straße 16 eine eigene Synagoge im damals sehr aktuellen Neorenaissance-Stil mit schätzungsweise 200 Plätzen errichten, entworfen von dem Privatarchitekten Gustav Ziegler (1847-1908). Das ebenfalls von der Gemeinde erworbene Vorderhaus stammte aus klassizistischer Zeit, gut 75 Jahre früher.
Zur Religionsgesellschaft gehörten – neben der Religionsschule, an der Isaak Rabinowitz unterrichtete 3, 4– der Israelitische Krankenpflege- und Begräbnisverein Chevra Kadischa (Gmilut Chassadim), der Jugend-Lernverein Chinuch Neorim, der Wohltätigkeits- und Lernverein Chewra Dower Tow sowie ab 1926 der Israelitische Kindergartenverein (Dr. Sinai Schiffer-Stiftung). Fast von Anfang an – seit 1872 – stand auch ein erworbener eigener Friedhof am Rintheimer Feld zur Verfügung.
Der Zeitzeuge Leon Meyer erinnerte sich an die „Karl-Friedrich-Straße“ seiner Jugend (Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Karlsruhe 1990, S. 596):
„Links war ein Treppenaufgang zur Galerie für Frauen, rechts der Eingang für Männer. Im Innern, neben dem Vorbeterpult, zu beiden Seiten, führten einige Treppen [d.h. Stufen, Anm. CK] zum Aron HaKodesch, der in der Wand eingebaut war. In der Mitte war die Bimah (Estrade) mit dem Pult für die Vorlesung der Wochen-Sidra. [...] Im Vorderhaus wohnte unser Kantor und Religionslehrer Herr Rabinowitz s.A. Ein Teil seiner Wohnung diente dem jüdischen Kindergarten. Im 3. Stock wohnte der Rabbiner Dr. Michalski s.A. Im Hof war ein Raum für Geflügel-Schechitah speziell eingerichtet. Unser Schochet war Herr Wolf Gerst. […] Außerdem waren noch einige Räume für das rituelle Bad, die Mikwe, das jeden Abend für Frauen geöffnet war, freitags nur für Männer.“5
Ebenfalls im Hof gab es noch die „Winterschul“, hauptsächlich wohl für die Wintermonate, damit die große Synagoge am Werktag nicht beheizt werden musste.6 Der traditionelle Name „Winterschul“ steht für einen kleinen Wochentags-Betsaal,7 nicht zu verwechseln mit der Religionsschule, die intern den Namen „Talmud Thora“ führte. Weiter Leon Meyer:
„Jeden Nachmittag ab 16 Uhr fand Religionsunterricht statt. Die Kinder waren in Klassen dem Alter gemäß eingeteilt […] Der Direktor unserer Talmud-Thora war Dr. Michalski sel. A. Am Ende des Schuljahres fand eine Prüfung über den gesamten Lehrstoff unter Vorsitz des Rabbiners und der Vorstände der Gemeinde [statt], und in Anwesenheit der Eltern der Kinder […] Die guten Schüler und Schülerinnen, die gut antworteten, erhielten eine Belobigung und [einen] Preis. […] Die Durchschnittsnote von jedem wurde namentlich den Volks- und Realschulen übermittelt [...].“8
Hier war Isaak Rabinowitz' Arbeitsfeld als staatlich geprüfter israelitischer Religionslehrer. Diese gemeindeeigene Schule war schulgeldfrei und aus Spenden finanziert.
Werdegang des Vaters von Flora Neuberger-Rabinowitz bis 1923
Isaak (Itzhak) Rabinowitz wurde am 25. November 1882 in einem europäisch geprägten Umfeld in der damals zum Osmanischen Reich gehörenden Stadt Jerusalem geboren und wuchs in der Stadt der drei Weltreligionen auf. Seine Eltern waren beide ebenfalls von dort gebürtig. Vater Shmaryahu (Schmerl) Rabinowitz, Jahrgang 1855, dessen Vorfahren aus Litauen stammten, war Weinhändler. Mutter Pessel (Peppi), geborene Zwebner, Jahrgang 1858, stammte aus einer Gelehrtenfamilie in Galgóc (damals Ungarn, heute Hlohovec/Slowakei); ihr Großvater war der bekannte Rabbiner Abraham Zwebner (genannt Sha'ag, 1801-76), ihr Bruder oder Cousin Jecheskel Zwebner war ebenfalls Rabbiner.
Isaak, der Zweitälteste, hatte sechs Geschwister: Abraham, Jakob, Baruch, Leo, Jossi und Chava.
Der junge Isaak besuchte in seiner Heimatstadt die vom aschkenasischen Oberrabbiner Samuel Salant geleitete Talmud-Thora-Schule und Jeschiwa „Etz Chajim“, die heute noch besteht. Die Familie gehörte zum „Alten Jischuw“, der vielleicht 20.000 Seelen zählenden frühen, vorzionistischen Besiedlung in Palästina, meist orthodoxen Juden, die in den Städten Safed, Tiberias, Hebron und Jerusalem lebten. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 und während der Zeit des Exils hat es in Erez Israel immer Juden gegeben. Im Laufe der Zeit kamen weitere, zumeist aus Europa, hinzu; sie lebten eher bescheiden von der Chalukka, den Spenden der Diasporagemeinden für die Brüder im Heiligen Land.
Im Elternhaus Rabinowitz wurde Hochdeutsch gesprochen und auch Hebräisch in sefardischer Aussprache. Als Alltagssprache war das in Isaaks Jugend im Alten Jischuw bereits durchaus verbreitet, schon vor der Renaissance des „Ivrit“ durch Elieser ben Jehuda und in klarer Unterscheidung zur Sprache des Kultus.9 Der junge Mann lernte es offenbar so perfekt, dass er – so berichten die Enkel – später frei auf Hebräisch gelehrte Vorträge hielt. Als geschulter Vorbeter konnte er auch eine Vielzahl synagogaler Gesänge mit schöner Stimme darbieten.
Die Enkel betonen auch, dass der Großvater mit besonderer Verehrung über Elijah, den Gaon von Wilna (1720-1797) sprach. Dieser hatte den Standpunkt der fundierten Halacha vertreten und sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Fragen befasst. „Gebrauche deine eigenen Augen und sieh nicht durch die Brille anderer“, empfahl er und verstand gute Kenntnisse in profanen Fächern als Grundlage für das Studium des Gesetzes. Seine Position stand im scharfen Widerspruch zu dem dialektisch denkenden, mehr mystischen und volkstümlichen Chassidismus, wo sich alles am „Tisch“ des Rebben orientierte. Die Anhänger des Wilnaer Gaon bauten ein weitverzweigtes Schulwesen auf, vor allem in Polen und Litauen.
Um die Jahrhundertwende verließ Familie Rabinowitz Palästina; Vater Schmerl vertrug das Klima nicht. So kam der junge Isaak im Jahr 1900 nach Frankfurt am Main, wo sein Vater ein Importgeschäft mit koscheren „Palästina-Weinen“ und „feinen alten Cognacs“ betrieb. Um 1903 wohnten die Eltern eine Zeit lang in Merchingen (heute Ravenstein im Neckar-Odenwald-Kreis).
In den ersten Jahren in Deutschland wird Isaak noch an einer Israelitischen Lehrerbildungsanstalt gewesen sein, vielleicht in Würzburg. Ab 1903, mit 21 Jahren, trat er seine erste Stelle als Religionslehrer im hohenlohischen Krautheim an; eine Notiz der dortigen Gemeinde im Frankfurter Israelitischen Familienblatt von April 1907 besagt:
„Am 1. April ist Herr Lehrer J. Rabinowitz nach vierjähriger segensreicher Tätigkeit von hier geschieden, um sich in seinen Studien weiter auszubilden“.
Von Juni bis Ende 1907 arbeitete er in Strümpfelbrunn, heute zu Waldbrunn (Odenwald), zwischen Januar 1908 und Dezember 1909 in Hainstadt bei Walldürn. Wegen seiner dortigen Nachfolge inserierte der Synagogenrat Hainstadt im Israelit (21.10.1909):
"Vakanz. Die mit Religionsschule, Vorbeter und Schächterdienst verbundene Lehrerstelle in Hainstadt in Baden ist per 1. Dezember dieses Jahres zu besetzen. Das Fixumgehalt beträgt Mark 900 - Filialgemeinde Walldürn Mark 100, außerdem entfallen für Nebenverdienste Mark 5-600. [...]."10
Im Dezember 1909 trat Isaak Rabinowitz eine Stelle in Odenheim, Amt Bruchsal an. Der kleine Kraichgauort gehört heute zu Östringen. Die meisten jüdischen Einwohner/innen – 1905 gab es etwa 50 – waren in Handel, Gastronomie und Tabakindustrie tätig. Sie hatten im Oberdorf eine Synagoge und im Schulhaus einen eigenen Raum für den Religionsunterricht. Im Geschäft eines nicht-jüdischen Metzgers wurde unter rabbinischer Aufsicht rituell geschlachtet.11
Am 26. September 1910 heirateten Isaak Rabinowitz und die aus Tiengen, Amt Waldshut stammende Jenny geb. Guggenheim, geboren am 14. Mai 1883, Tochter des Geflügelhändlers Hermann Guggenheim und der Rosa (Rösle) geb. Stern. Jenny hatte zwei Geschwister, Heinrich und Sophie.
Am 5. November 1910 legte der 27-jährige Isaak Rabinowitz die vom badischen Oberrat der Israeliten verlangte 2. Dienstprüfung als israelitischer Religionslehrer ab, die er mit „sehr gut“ bestand.
In Odenheim kamen die beiden Töchter zur Welt: Lilly Irma wurde am 23. September 1911 geboren; Flora, die Hauptperson dieses Berichts, am 20. Mai 1914.
Der Großvater der beiden Mädchen, Schmerl, starb 1915 in Frankfurt. Sein Grab ist auf dem dortigen Friedhof Rat-Beil-Straße.
Ab 1916 lebte die junge Lehrersfamilie in Flehingen, heute Teil von Oberderdingen im Kraichgau. Als Nachfolger des verstorbenen Kollegen Schweizer hatte Isaak Rabinowitz die dortige Stelle inne. Von der Einberufung in den türkischen Militärdienst wurde er auf Antrag des Karlsruher Oberrats befreit und hatte in den Kriegsjahren etliche kleinere Gemeinden aufzusuchen, denen er regelmäßig diente, u.a. Menzingen und Münzesheim.12 Seit der Jahrhundertwende gab es in Flehingen ein Gemeinde- und Schulhaus in der Gochsheimer Straße, wo sich vermutlich auch die Lehrerwohnung befand (Das Haus wurde in den 1970er Jahren abgebrochen).13
Im Frankfurter Israelitischen Familienblatt vom 15. September 1916 findet sich eine Notiz zum Tod eines Flehinger Gemeindemitglieds:
„[...] Im Trauerhause hielt dann Lehrer Rabinowitz einen ergreifenden Hesped, in welchem er an der Hand der Worte Ateres tiferes sevo, bederech zedoko timoze den Lebenslauf des Dahingeschiedenen schilderte.“
Dieses Zitat aus Sprüche Salomos 16,31 besagt etwa: „Das graue Haar ist eine Krone, die auf dem Wege der Gerechtigkeit erlangt wird“. – Am 24. Oktober 1918 berichtete der Israelit von der Trauerfeier für den Grötzinger Lehrer Abraham Liberles:
„Kollege Rabinowitz, Flehingen, sang in ergreifender Weise die Psalmen „Mo enosch“ [Psalm 8,5].“
Ein Artikel im Frankfurter Israelitischen Familienblatt vom 6. Dezember 1918 deutet auf sein Engagement in der Frauenbildung hin:
"Aus der 'Agudas Jisroel'-Bewegung. Flehingen. Heute wurde hier eine Agudas-Jisroel-Frauen- und Mädchengruppe ins Leben gerufen. Lehrer Rabinowitz wusste trefflich die Ziele und Zwecke der Agudo klarzulegen. Er begründete die unbedingte Notwendigkeit eines religiösen Vereins durch die Darstellung der jetzigen jüdischen Verhältnisse im Gegensatz zu den früheren Zeiten. Ferner brachte er zum Ausdruck, dass die Agudo den Zweck hat, das Judentum in einen Bund zu vereinigen, um sich so mit der Thora zu beschäftigen und das große Feld des jüdischen Gebiets zu bearbeiten. Das erfreuliche Resultat dieses Vortrags war der Abschluss sämtlicher Damen als Mitglieder. Frl. Nanny Barth, welche in Karlsruhe bereits aktiv in der Agudo tätig war, wurde als Schriftführerin ernannt. Vorgesehen ist die Durchnahme von Dinim, sowie der laufenden Wochenabschnitte. Ferner sollen Vorträge über jüdische Geschichte und Literatur sowie über aktuelle jüdische Fragen gehalten werden."
Nachdem ihre Schwester bereits ein paar Jahre die Schule besuchte, wurde Flora um 1920/21 eingeschult. Über ihre erste Schulzeit ist nichts bekannt. Im November 1922 erhielt ihr Vater als Religionslehrer in Flehingen vom badischen Oberrat der Israeliten den mit 10.000 RM dotierten Fanny und Michel Weilschen Tugendpreis, im August 1923 erneut (in bereits stark abgewerteter Währung 400.000 RM).
Die Karlsruher Zeit
Am 1. November 1923 übernahm Isaak Rabinowitz die Stelle als Religionslehrer und Vorbeter bei der Israelitischen Religionsgesellschaft in der Karl-Friedrich-Straße 16, da der seit 1906 amtierende Lehrer Moritz Karlsberg verstorben war.14 Amtsantritt und Einzug fielen in eine Zeit des Umbruchs: Es war die Phase höchster Inflation, Waschkörbe voll Papiergeld reichten kaum für ein Brot, eine Briefmarke kostete Anfang November schon Hunderte Millionen Mark. Nach langen Jahren als Aktiengesellschaft war die Karlsruher Religionsgesellschaft seit 1922 auf Basis der Gesetze der Weimarer Republik als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und damit anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt.15 Wenige Tage zuvor war der aus Ungarn stammende Rabbiner Dr. Sinai Schiffer tödlich verunglückt, wenige Wochen später übernahm Dr. Abraham Julius (Jechiel) Michalski aus Berlin das Rabbineramt.
Ein Kollege von Lehrer Rabinowitz an der Religionsschule war Ekiba Leib Meyer (1859-1930), der auch Rabbinatsassessor war; Direktor der Schule war Dr. Michalski.16 Ebenfalls Unterricht gab Kantor Israel Kwiatkowsky, genannt Israel Baruch (1863-1932), der offenbar für das Nachmittagsgebet (Mincha) und die Feiertagsgottesdienste zuständig war. Als Lehrer angestellt zu sein bedeutete, Kultusbeamter mit staatlich anerkannter Ausbildung zu sein. Die ehrenhafte Aufgabe des Vorbeters übernahmen auch kundige Mitglieder, genau wie das Lesen des Wochenabschnitts (Sidra oder Parascha) und der Propheten (Haftarot).
Zunächst wohnte Familie Rabinowitz im Vorderhaus Karl-Friedrich-Straße 16 in der ehemaligen Wohnung des Amtsvorgängers Karlsberg. Isaak Rabinowitz leitete regelmäßig das Morgengebet (Shacharit) und das Abendgebet (Maariw), so lesen wir in einer im Familienbesitz befindlichen Urkunde zu seinem 50. Geburtstag.17 Neben diesen und den Lehrerpflichten nahm er weitere Aufgaben wahr, so hielt er regelmäßig am Schabbat im Wohltätigkeitsverein (Chewra Kaddischa) Vorträge, von denen ihm die Vorstandskollegen Leopold Schwarz und D. Diefenbronner später bescheinigten: „Er wusste uns den Inhalt der heiligen Schriften lebendig zu veranschaulichen und die Begeisterung für ihre Weisheit und Ethik zu wecken“.18 Im Verein Chewra Dower Tow war er in ähnlicher Weise stellvertretend tätig, so bescheinigte ihm später deren Vorstand Jakob Wertheimer.19 Laut seinen Enkeln war er ein hochbegabter, an der klassischen Rhetorik geschulter Redner. 20
Vater Rabinowitz stellte 1925 für sich und die Kinder einen Einbürgerungsantrag in die badische Staatsbürgerschaft.21 Seine Ehefrau war von Geburt bereits Deutsche, er und die Töchter aber bislang türkische Staatsangehörige, da Jerusalem in seiner Kindheit ja zum Osmanischen Reich gehört hatte. Im April 1926 wurde die Einbürgerung der drei ohne Einwände bewilligt. Mit knapp 12 Jahren konnte sich Flora also wirklich heimisch fühlen.
Lilly und Flora besuchten die Karlsruher Fichteschule (Mädchenrealschule mit Oberrealschule), eine „Höhere Mädchenschule“, in der Sophienstraße. Zumindest die Schuljahresberichte 1926/27 und 1927/28 führen Flora namentlich auf.
Um 1925 lebte die verwitwete Großmutter väterlicherseits noch in Frankfurt/Main.22 Pessel Rabinowitz ist bald darauf verstorben und wurde am Ölberg in Jerusalem begraben.23 In den späten 1920er Jahren gab es eine Firma „Rabinowitz, Zwebner & Frenkel, Exchangers“, mit Sitz in Jerusalem, Mea Shearim Street – offenbar Verwandte.24
Von 1. April 1929 bis 1. Oktober 1931 absolvierte Lilly eine Lehre bei der Ellern-Bank in Karlsruhe.25 Ignaz Ellern gehörte als engagierter religiöser Zionist zur Austrittsgemeinde. (Diese Bank hatte später erheblichen Anteil am wirtschaftlichen Aufbau in Palästina/Israel).
Um 1928/29 zog Familie Rabinowitz mitsamt der Hebräischen Buchhandlung in die (heute noch erhaltene) Wohnung Kriegsstraße 132 um.26 Seitdem beherbergte seine bisherige Dienstwohnung in der Karl-Friedrich-Straße 1627 den wachsenden Israelitischen Kindergarten, der auch einen Hort unterhielt und damit warb, nach Fröbel und Montessori zu erziehen. Leiterin zuletzt war Margarete Steeg. „Kindergärtnerinnen“ waren dort u.a. Hilde Billigheimer, Ruth Oppenheimer, und Clara Stern.28
Die Familie pflegte viele Kontakte in und außerhalb der Religionsgesellschaft. So waren sie mit Siegfried Hammelburger und Familie befreundet.29
Religionslehrer und Kantoren der Bezirke Bruchsal, Bretten, Bühl, Offenburg und Karlsruhe veranstalteten 1931 eine Fortbildungskonferenz. Im Israelitischen Gemeindeblatt Ausgabe B hieß es dazu:
„Rabinowitz (Karlsruhe): Homiletisch-exegetische Behandlung der Psalmen I und II […] In meisterhafter Weise verstand es der Referent […], aus dem reichen Schatze seines talmudischen Wissens interessante Kommentare zu den beiden Psalmen darzubieten, und so die Teilnehmer zu fesseln. Der einstimmige Wunsch, auch bei den ferneren Zusammenkünften wiederum solch Divre Thora von Herrn Rabinowitz vernehmen zu dürfen, war die schönste Anerkennung für das Dargebotene“.30
Am ersten Tag von Chanukka im Dezember 1932 verlieh ihm das Rabbinat der Israelitischen Religionsgesellschaft zum 50. Geburtstag für den Aufruf zur Toralesung den Titel „He-Chaver“, ein traditioneller Ehrenname für einen Gelehrten.31
Anfang Juni 1933, während der Feiertage Schawuot, verlobten sich Lilly und Gaston Nordmann, Sohn von Charles Nordmann, in Basel. Am 9. Juli des Jahres heirateten sie dort.
Im März 1934 wurde für Flora und ihre Eltern im Zuge der sich verschärfenden Nazipolitik die Einbürgerung widerrufen; sie wurden staatenlos. Lilly war dagegen inzwischen Schweizer Bürgerin und konnte nicht belangt werden.
Einmal, im Dezember 1934, taucht auch Floras und Lilly Mutter in der Zeitung Der Israelit als Akteurin auf, und zwar zu einem Chanukkah-Gemeindeabend:
„Ganz besonderes Interesse weckte eine dramatische Darstellung der ersten beiden Kapitel aus dem Buch Hiob durch die Damen Freund, Gelmann, Huttner und Rabinowitz in klassischem Hebräisch“.32
Im Oktober 1935 lesen wir im Israelitischen Gemeindeblatt Ausgabe B:
„Der Wohlfahrtsbund dankt herzlich für die ihm zur Ablösung von Einzeldanksagungen überwiesenen Spenden von […] Herrn J. Rabinowitz und Frau, Kriegsstraße 132, anläßlich ihrer Silber-Hochzeit“.33
Im Mai 1936 fand in Karlsruhe eine Bezirkstagung der Aguda statt, über die der Israelit einen Bericht brachte.
„Herr Lehrer Rabinowitz-Karlsruhe zeigt die Leistungsfähigkeit und Unterstützungsbedürftigkeit des jüdischen Schulwerks in Erez Jisroel auf, die er mit persönlichen Erfahrungen belegt.“34
Dasselbe Blatt berichtete im März 1937 von einer Jugendgruppe, zu der, wie ihre Schwester, auch die 22-jährige Flora gehört hat:35
„Am Schabbat Hagadol hat die hiesige Gruppe der „Esra – Pirche Agudas Jisroel“ die von ihr in den Räumen der Israelitischen Religionsgesellschaft neu hergerichteten Vereinszimmer eingeweiht. Die Namen, die die Jugend diesen Räumen gegeben, lassen den Ernst ihres Strebens erkennen. Das Hauptzimmer nannten sie „Rabb. Dr. Sinai-Schiffer-Zimmer“, in pietätvoller Erinnerung an den früheren langjährigen Rabbiner […] Ein weiteres erhielt den Namen „Chofez Chajim-Zimmer“ als Zeichen der inneren Verbundenheit mit diesem Großen – das Gedenken dieses Gerechten sei zum Segen – in dem seinen Namen tragenden Kibbuz der Agudas Jisroel. Ein weiteres verewigt in seinem Namen das Andenken an die Gründer der Beth Jakow-Bewegung „Leo Deutschländer und Sara Schenirer-Zimmer“. Das vierte nannten sie „Erez Israel-Zimmer“. Nach eigenen Entwürfen hat die Jugend diese mit Zeichnungen und Bildern geschmückt. Besonders eindrucksvoll sind zwei Wandbänder. Sie tragen die Inschriften:
איש את רעהו יעזרו ולאחיו יאמר חזק
[„Einer hilft dem anderen und spricht zu seinem Bruder: Sei mutig!“ (Yeshaya 41:6)] und
ארץ ישראל בלא תורה היא כגוף בלא נשמה
[„Erez Israel ohne Tora ist wie ein Körper ohne Seele“].
Bei der Einweihungsfeier, die von jüdischen Gesängen umrahmt war, wies Herr Rabbiner Dr. Michalski darauf hin, dass diese Wandsprüche, sowie die Namen der Zimmer eine hohe moralische Verpflichtung für die Jugend enthielten. Es sei eine ernste Mahnung, wie sie auch aus den Schlussworten der Sidra über die Einweihungstag des Stiftszeltes zu Israel sprach. Herr Lehrer Rabinowitz knüpfte an diese Ausführungen an. Der Führer, Meier Ettlinger, dankte allen, die sich um die Herrichtung der Räume gemüht hatten. Im Auftrage des Vorstandes […] übergab Herr Schwarz der Jugend das Benutzungsrecht der Räume und verband damit den Wunsch einer würdigen, der Tora und Gottesfurcht geweihten Bestimmung.“36
Wofür stand die Esra? In der Austrittsbewegung gab es verschiedene politische Strömungen. Während die religiösen Zionisten des Misrachi und seiner Jugendbewegung Bne Akiva mit säkularen zionistischen Gruppen kooperierten,37 berief sich die Agudas Jisroel mit ihrer Jugendbewegung Esra dezidiert auf die Tora als Basis ihrer Pläne für Palästina. Die Agudisten hatten damit aber keinen Gottesstaat vor Augen, ja überhaupt keinen jüdischen Staat, denn den kann es in ihrer Sicht erst durch den von Gott gesandten Maschiach als Endpunkt des Exils geben. Vielmehr planten sie kleine gemeinschaftliche Strukturen unter rabbinischer Aufsicht, in einem gegebenen System.
Im März 1938 erwähnte der Israelit nochmals die Erwachsenenbildung:
„[...] Die Agudas-Jisroel-Frauengruppe hat in vergangener Woche ihr Winterprogramm abgeschlossen. Allwöchentlich hat sie einen gemeinsamen Schiur mit anschließender anregender Diskussion gehabt. Herr Rab. Dr. Michalski hat wie im vorigen Jahre Abschnitte aus dem Chaurew [d.i. Samson Raphael Hirsch: Chorew. Ein Versuch über Israels Pflichten] erklärt. Frau Dr. Marta Weil hat die Erklärung der Sprüche der Väter fortgesetzt. Außerdem hielt Herr Lehrer J. Rabinowitz einen lehrreichen Vortrag über den jüdischen Kalender. Frl. Hanna Kaufmann referierte über 'Die Wertschätzung der Bibel in der englischen Literatur'. Den Abschluss des Wintersemesters bildete eine Gedenkstunde, die dem Gedächtnis der jetzt in Marienbad verstorbenen Frau Gertrud Heinemann gewidmet war. Die Vorsitzende der Gruppe, Frau Sofie Ettlinger, hielt einen ergreifenden Nachruf. [...]“38
Im August 1938 nannte der Israelit Isaak Rabinowitz ein letztes Mal, und zwar als Redner bei der Beerdigung des Gemeindemitglieds Isaak Ettlinger:
„Herr Lehrer J. Rabinowitz kleidete den Dank der חברה קדישא [Chevra Kaddisha] in Worte, die ein getreues Bild seines Lebens widergaben.“39
Insgesamt über 35 Jahre, von 1. Juni 1903 bis 10. November 1938, war Isaak Rabinowitz also Lehrer und Vorbeter in Baden, davon die ersten 20 Jahre in den Rabbinatsbezirken Mosbach und Bruchsal, dann bis Ende 1938 in Karlsruhe. Zu seinem durch die Naziherrschaft erzwungenen Ausscheiden aus seinem Amt stellte ihm die Religionsgesellschaft, namentlich Dr. Michalski und die Vorstände Leopold Schwarz und Jakob Altmann, folgendes schönes Zeugnis aus:
„Herr Isaak Rabinowitz […] wusste die Liebe und die Begeisterung für das Judentum in den Herzen der Schüler zu pflanzen & ihr nachhaltige Wirkung zu verleihen. Sein Vortrag der Gebete & der Thoravorlesung zeichnete sich durch besondere Deutlichkeit und Innigkeit aus. […] Seine pädagogischen Fähigkeiten haben bei den ihm zugewiesenen Klassen große Erfolge erzielt […So] war er in jeder Hinsicht der Gemeinde ein Vorbild und hat an den Freuden und den Sorgen der einzelnen Gemeindemitglieder regen Anteil genommen. Die Gemeinde bedauert seinen Weggang außerordentlich, der durch die Ungunst der Zeitverhältnisse hervorgerufen wurde, und begleitet seine Zukunft mit den besten Segenswünschen.“40
Der Buch- und Ritualienhandel des Vaters
Der von Juden geführte Buchhandel in Karlsruhe erscheint in den 1920er und 1930er Jahren recht vielfältig.41 Neben der großen A. Bielefeld'schen Hofbuchhandlung (Liebermann & Cie), Kaiserstraße 141 am Marktplatz, gab es die Druckerei Malsch & Vogel, Adlerstraße 21, die auch Bücher verkaufte, daneben tauchen die Namen Anne Bensinger, Karlstraße 30; Abr. Braude, Nachf. Hanna Goldberg, Zähringerstraße 41a und Otto Tensi, Adlerstraße 16 auf, die vermutlich kleinere Verkaufsstellen für Presse und Bücher betrieben. Dezidiert als „hebräische Buchhandlungen“ genannt werden: Salomon Mansbacher, Waldhornstraße 53 (Kinobetreiber, Zigarren- und Buchhändler); Scheftel Poritzky, Isak Schloß Nachfolger, Waldhornstraße 62 (den „ostjüdischen“ Kreisen angehöriger Buch- und Ritualienhändler) und eben Isaak Rabinowitz, Karl-Friedrich-Straße 16.2 bzw. Kriegsstraße 132.2.
Die Zeitung Der Israelit vom 17. Januar 1924 machte „J. Rabinowitz, Hebr. Buchhandlung“ wohl erstmals über Karlsruhe hinaus bekannt:
„Gebetbücher נוסח אשכנז undנוסח ספרד in einfachen und feinen Ausgaben. Machsorim und Chumoschim mit und ohne Übersetzung in verschiedenen Ausgaben.
Andachtsbücher **
תנ''ך המלבים, יורה דעה, מדרש רבה, קיצור שלחן ערוך, משניות
Schulbücher, Unterhaltungs-Literatur, Geschenk-Werke, Tallis in Seide und Wolle, Arba-Kanfos, Zizis, Tefillin, Mesusoth, Sederschüsseln, Kidduschteller, Kidduschbecher, Hawdolohteller, Hawdolohbecher, Hawdolohkerzen, Besomimbüchsen, Chanukaleuchter, Wandkalender, Jahrzeitstabell., Sargenes, Enthaarungspulver. Billigste Bezugsquelle. Wiederverkäufer erhalten hohen Rabatt.“
Die eingangs genannten Gebetbücher waren demnach zu haben für den aschkenasischen Ritus und den bei chassidischen Juden üblichen Sefarad-Ritus, der trotz seines Namens ebenfalls zum aschkenasischen Sprach- und Kulturraum gehört. Auf hebräisch wurden angeboten: Tanach Malbim, d.i. die hebräische Bibel mit einem speziellen Kommentar; Yore Dea, d.i. Gesetzesliteratur aus dem Schulchan Aruch; Midrasch Rabba, d.i. erzählende Texte der Bibelexegese; Kitzur Schulchan Aruch, d.i. die aschkenasische Kurzfassung des wichtigsten Kompendiums der Gesetzesliteratur; Mischnajot, d.i. Ausgaben der halachischen Teile des Babylonischen Talmud.
In der Stadtbibliothek Nürnberg ist ein Buch aus der Nürnberger Isr. Kultusgemeinde erhalten,42 „Um die Ewigkeit. Jüdische Essays“ von Nathan Birnbaum. Es trägt die Widmung:
„[...] seinem lieben Freunde und Kollegen Herrn Em. [=Emanuel] Wertheimer in Hardheim anläßlich seines siebzigsten Geburtstages mit den besten Glück- und Segenswünschen gewidmet von J. Rabinowitz / Karlsruhe 25. Juni 1924.“
Am 9. Oktober 1924 erschien nochmals ein Inserat im Israelit, „Reichhaltiges Lager an Büchern und Ritualien. Billigste Bezugsquelle“, und wieder am 26. März 1925, vor Pessach:
„Sederschüsseln, Sederplatten, Sederhandtücher, Mazzetaschen, Haggadas, Machsorim, Talessim, Geschenkliteratur in großer Auswahl billig zu haben bei J. Rabinowitz, Hebräische Buchhandlung.“
Das Geschäft, im 1. Obergeschoss gelegen, wird nicht groß gewesen sein. Der Buch- und Ritualienhandel ergab 1925 einen Zuverdienst von etwa 50 RM im Monat, der damalige Büchervorrat wurde mit 7.000 RM beziffert.43 Isaak Rabinowitz besorgte auch den Vertrieb von Schriften aus der eigenen Gemeinde. Z.B. kündigte der Arzt Dr. Salomon Lieben (Prag), Schwiegersohn des verstorbenen Rabbiners Dr. Sinai Schiffer in der Jüdischen Presse vom 8. Juli 1932 dessen in Tyrnau (heute Trnava) gedruckte Responsensammlung an:
„שו''ת סתרי ומגני [Responsa – Mein Schirm und mein Schild] zu beziehen beim Verlage J. Rabinowitz, Karlsruhe, Kriegsstraße 132, um den geringen Preis von Mark 2,50.“
Ein Beleg für Toleranz dürfte sein, dass in den Jahren 1929 bis 1931 mehrmals auch der von der Vereinigung Badischer Israeliten, Landesverband des Central-Vereins Deutscher Staatsbürger jüd. Glaubens e. V. herausgegebene „C.-V.-Kalender“ von J. Rabinowitz verlegt wurde. Der liberale „Centralverein“ war sicher meilenweit von der Haltung der Agudas Jisroel entfernt. Andererseits besuchten auch Kinder nicht-orthodoxer Familien den Israelitischen Kindergarten in der Karl-Friedrich-Straße. Meir Peleg, aus Karlsruhe gebürtiger Sohn von Simon Plachzinski, erinnerte sich 1987 in ähnlichem Sinne seines Lehrers Rabinowitz, der immer nach dem Grundsatz gelebt habe: „Sei Jude in deinem Zelt und Mensch in deiner Umgebung“,46 was einer nicht assimilatorischen, aber doch aufgeklärten Haltung entspricht.
Im November 1937 erschien ein wohl letztes Inserat im Jüdischen Gemeindeblatt:
„J. Rabinowitz Jüdischer Buchvertrieb. Großes Lager in jüdischen Büchern, Ritualien, Chanukkah=Geschenken. Karlsruhe, Kriegsstraße 132“.
Seit August 1937 durfte ein solcher Buchhandel nur noch als „Buchvertrieb“ firmieren; weithin sichtbar musste diese Bezeichnung ausgehängt sein und dazu: „Der Verkauf findet nur an Juden gegen Ausweis statt“. 1938 erschien im Adressbuch zum letzten Mal „Rabinowitz, J., Lehrer“ mit dem Zusatz „jüd. Buchvertrieb“, Ende November 1938 zum letzten Mal noch „Rabinowitz, Isaak, Kriegstraße 132.2“, nun ohne Hinweis auf die Buchhandlung, die nach dem Novemberpogrom hatte schließen müssen.
November 1938 und Flucht
Die Synagoge im Hof der Karl-Friedrich-Straße 16 wurde am 10. November 1938 früh am Morgen von organisierten braunen Schlägertrupps mit großen Mengen Benzin in Brand gesetzt.47 Rabbiner Michalski versuchte noch, Kultgegenstände zu retten, wurde aber am selben Tag in „Schutzhaft“ genommen und kurz darauf zusammen mit vielen anderen jüdischen Männern in das KZ Dachau verschleppt.48 Genauso erging es Isaak Rabinowitz, der von 11. bis 18. November 1938 als „Häftling Nr. 20910“ in Dachau inhaftiert war.
Gaston Nordmann hatte schnell von der Verhaftung des Schwiegervaters erfahren, da der Basler Buchhändlerkollege Victor Goldschmidt – gerade zu dieser Zeit zu Besuch bei seinem Freund Isaak in Karlsruhe – umgehend telefonisch berichtet hatte und auf der Stelle nach Basel zurückgekehrt war. Dadurch konnte der Schweizer Rechtsanwalt Dr. Levaillant die Freilassung von Isaak Rabinowitz aus Dachau erwirken, mit der Bedingung, „bis Mittwoch 23. Nov. 12 Uhr nachmittags“ Deutschland zu verlassen.49
Gaston Nordmann beantragte am 11. November bei den schweizerischen Ämtern, dass er die Schwiegereltern mit Flora zusammen für „zwei bis drei Monate“ zu sich nehmen dürfe; während des Aufenthalts könnten die drei, die mit Fremdenpässen einreisten, auf ihre Ausreisepapiere warten. Am 9. Dezember 1938 trafen sie tatsächlich in Basel ein. Ein Enkelsohn erinnert sich noch heute an ihren „Lift“, eine große Holzkiste mit Umzugsgut. Ehepaar Rabinowitz und Flora kamen nun bei Gaston und Lilly Nordmann unter, die mit zwei kleinen Kindern in einer 3-Zimmer-Wohnung mit Mansarde lebten. Gaston war Arbeiter bei der Eisenbahn und in einem koscheren Weinhandel tätig, seine Frau führte ein kleines koscheres Lebensmittelgeschäft.
In Floras Basler Meldeformular vom 12. Dezember 1938 steht: „Emigrantin. Geht nach Holland“,50 und in einem Schreiben einer dortigen Behörde vom 16. Januar 1939: „Fräulein Flora Rabinowitz ist verlobt, ihr Bräutigam ist in Holland und bemüht sich dort, die Einreise nach dorthin für sie zu erreichen.“51 Nach abgeschlossener Ausbildung im „Institut für Palästina-Pioniere der Agoedas Jisroeil“ wollten sie den Eltern nach Palästina folgen, so wird sie in einem Schriftstück der Fremdenpolizei zitiert.
Die Schiffspassage der Eltern nach dem britischen Mandatsgebiet Palästina, von Italien aus, startete am 17. Februar 1939. Bald kam Nachricht, dass die beiden „230, Dizengoff Street“ in Tel Aviv „bei Kandschuk“ wohnten.
Die Fremdenpolizei verlängerte nun mehrfach Floras Aufenthalt, zuletzt bis 15. Juli 1939. Am 28. Juni reiste Flora schließlich von Basel nach den Niederlanden ab.52
Zwischenzeitlich (in den Wochen nach dem Pogrom) war die ausgebrannte Ruine der Synagoge Karl-Friedrich-Straße – genau wie die verwüstete, aber nicht abgebrannte Synagoge in der Kronenstraße – zwangsweise auf Gemeindekosten abgerissen worden.
Ein Minjan betete nun im oberen Stock des Vorderhauses, in der ehemaligen Wohnung Dr. Michalski. Im März 1939 wurde dort noch Purim gefeiert, der Kindergarten arbeitete ebenfalls noch.53 Etliche Gemeindemitglieder verließen das Land. (Das Vorderhaus Nr. 16 wurde etwa 1944 im Luftkrieg zerstört.)
Isaak Rabinowitz war ab Frühjahr 1939 in Tel Aviv als Vorbeter tätig und hielt Schiurim (Kurse/Lehrvorträge), aber die kaum 30 Personen zählende „deutsche“ Gemeinde Adass Jeschurun, an der Rabbiner Dr. Michalski untergekommen war, konnte entsprechende Gehälter offenbar kaum aufbringen. Die „Union der ehemaligen Kultusbeamten aus Deutschland in Israel“, der er bis Herbst 1947 angehörte, gab daher später an, dass Lehrer Rabinowitz im Mandatsgebiet Palästina seinen Beruf nicht habe ausüben können und „mit großen Schwierigkeiten in seiner Existenz zu kämpfen“ hatte.54
Gaston und Lilly Nordmann beantragten 1947 einen Besuchsaufenthalt der (Schwieger-)Eltern zur Bar Mitzva ihres ältesten Sohnes. Isaak Rabinowitz hatte inzwischen Herzbeschwerden und erhoffte sich in der Schweiz auch für einige Monate Erholung. Am 27. Oktober trafen die beiden ein. Bald wurden die Beschwerden des 65-jährigen aber schlimmer, so dass der Aufenthalt mehrfach verlängert wurde, ärztlichen Attesten zufolge war er nicht reisefähig. Die Lage im jungen Staat Israel in Anbetracht von UNO-Teilungsplan und Unabhängigkeitskrieg hätte die Rückreise zusätzlich riskant gemacht. Familie Nordmann und Verwandte der Guggenheims in den USA unterstützten nun die Eltern, die fortan in Basel blieben. Erst nach Jahren gewährte die Schweiz ihnen ein Aufenthaltsrecht.
Isaak Rabinowitz konnte nun nur noch gelegentlich Aufgaben als Vorbeter übernehmen, wurde zur Lesung des Wochenabschnitts aufgerufen und hielt auch Hespedim (Trauervorträge). Und er war immer zur Stelle, damit morgens und abends und zum Kaddisch-Beten bei Jahrzeit ein Minjan zusammenkam, das belegt ein 1951 datiertes Schreiben von Moise Loeb (Basel). Ein Foto von 1953 zeigt Isaak Rabinowitz mit Gemeindemitgliedern beim Beten des Birkat ha-Chama, einem besonderen, nur alle 28 Jahre gesprochenen Dankgebet für die Erschaffung der Sonne.
Beide Enkel erinnern sich lebhaft an ihre „deutschen“ Großeltern, die entschieden gesetzestreu und gewissenhaft gewesen seien, zugleich Freundschaften mit allen Kreisen der Gesellschaft, Liberalen wie Nicht-Juden gepflegt und ein lebhaftes, warmherziges Interesse für ihre Umwelt gehabt hätten. So war Isaak Rabinowitz mit dem Psychiater und Philosophieprofessor Karl Jaspers (1883-1969) befreundet, der 1948 nicht zuletzt aus Protest gegen den Wiederaufstieg alter Nazis in Westdeutschland einen Ruf nach Basel angenommen hatte.
Isaak Rabinowitz verstarb am 28. Juni 1968 in Basel. Lilly pflegte noch lange Jahre die verwitwete Mutter Jenny Rabinowitz, die im Jüdischen Altersheim Riehen am 24. Januar 1978 verstorben ist. Beide sind in Basel begraben.
Flora, Markus und Uri
Aus Floras Kindheit ist wenig belegt. Sie muss bereits in Flehingen die Schule begonnen haben; mit 9 ½ Jahren kam sie nach Karlsruhe und besuchte später die erwähnte Fichte-Oberrealschule. Ihre religiöse Erziehung dürfte sie vor allem bei der Mutter erhalten haben, daneben gab es in der Gemeinde Lernangebote im Sinne der damals aufkommenden, orthodoxen Bet-Jaakov-Bewegung, die sich in der Mädchenbildung engagierte. Am 1.4.1927 findet sich z.B. in der Zeitung Jüdische Presse ein Hinweis auf eine Mädchengruppe „Bnoth Agudas Jisroel Karlsruhe“,55 in der die 13-jährige Flora gut vorstellbar ist.
Im Sommer 1933 heiratete, wie erwähnt, Floras 21-jährige Schwester und lebte von da an mit ihrem Ehemann Gaston in der Schweiz; zwei Söhne wurden in den 1930er Jahren geboren. Nur der ältere der beiden hat heute eine ferne Erinnerung an die Tante Flora; von einem Besuch in der Kriegsstraße 132 um 1937 hat sich ihm das Bild eingeprägt, dass alle zusammen auf dem Balkon zum Hof saßen.
In Floras 1934 entzogenem Reisepass, der in einer Akte im Karlsruher Stadtarchiv erhalten ist,56 ist mit Stand 1933 unter Beruf „Lehrling“ eingetragen. Bei der Herrenkleiderfabrik Wilhelm Blicker & Co in der Vorholzstraße 62 hat sie von 15. April 1931 bis 15. Oktober 1933 eine kaufmännische Lehre gemacht und wurde aufgrund ihrer „sehr guten Leistungen“ dort als kaufmännische Angestellte vor allem in der Buchhaltung weiter beschäftigt,57 ungeachtet der Tatsache, dass die jüdischen Inhaber 1933 hatten emigrieren müssen. Zu ihrem Ausscheiden Ende 1936 erhielt Flora ein glänzendes Zeugnis, das ihre Verlässlichkeit, schnelle Auffassungsgabe und „sehr gute kaufmännische Allgemeinbildung“ hervorhob, die sie für „jeden Posten voll und ganz“ qualifizierte.58
Im Israelit vom 30. Dezember 1937 erschien folgende Anzeige:
ב"ה
Flora Rabinowitz * Markus Neuberger
Verlobte
Karlsruhe i.B., Kriegsstraße 132 * Berlin N4, Artilleriestraße 31
Empfang in Karlsruhe שבת פ' וארא [Schabbat Paraschat Wa'era] und Sonntag 2. Januar 1938
Für das Aufgebot versuchte Flora Anfang März 1938 von der „Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses“ befreit zu werden, einer bürokratischen Auflage, die sie als Staatenlose betraf. Die Justizbehörde verweigerte ihr das Dokument, ohne Begründung.59
Ihr Bräutigam Markus Mordechai Neuberger, geboren am 7. November 1909 in Berlin, war ein Sohn des Gemeindesekretärs der Berliner Synagogengemeinde Adass Jisroel, Max Menachem Neuberger (geb. 1880 in Frankfurt/Main) und seiner Frau Hulda geb. Ansbacher (geb. 1881 in Nürnberg).60 Die Neubergers wohnten damals im Haus der Gemeinde in Berlin N4, Artilleriestraße 31, wo der Vater auch tätig war, „Büro Sprechstunde 10-1, 4-6“. Dort, in der heutigen Tucholskystraße im Bezirk Mitte, standen Rabbinerseminar, Schule, Synagoge und Gemeindehaus der „Adassianer“.61
Markus hatte die Schule der Adass Jisroel in Berlin besucht und, so belegt ein Schreiben des damaligen Rabbiners Dr. Hermann Klein, sich in der Gemeinde freiwillig als „Lehrer der Jugend“ betätigt sowie „in Vertretung des Rabbinats“ Vorträge gehalten.
„Er hat sich außerdem als glänzender בעל קורא [Vorleser des Wochenabschnitts] bewährt. Er ist ein תלמיד חכם [„Schüler eines Weisen“, d.h. hervorragender jüdischer Gelehrter] in des Wortes wahrster Bedeutung und ein vornehmer Charakter [...]“.62
Ende 193863 reiste Markus Neuberger von Karlsruhe64 aus nach Holland aus. Seine Verlobte war wie erwähnt mit ihren Eltern bei Schwester und Schwager in Basel und wollte sobald wie möglich nachfolgen. Im Februar 1939 lagen bei der Stadt Enschede Aufnahmeanträge von mindestens sechs jungen Leuten vor, die sich der dortigen Berufsumschichtung anschließen wollten. Unter den Antragstellern war Flora Rabinowitz, die aber erst Ende Juni 1939 aus Basel einreiste und zunächst in Amsterdam unterkam,65 anfangs Watteaustraat 19, dann Weesperzijde 2, möglicherweise zusammen mit ihrer fast gleichaltrigen, aus Berlin geflohenen Schwägerin Mirjam Neuberger.
Floras zukünftiger Ehemann Markus arbeitete inzwischen als Religionslehrer in Twekkelo, einem Vorort von Enschede, Strootsweg 460, nahe der deutschen Grenze, wo in einer großen ländlichen Villa („Haimer's Esch“) eine Hachschara-Einrichtung für die Jugend der Agudas Jisroel bestand.66 Dort wurden landwirtschaftliche und handwerkliche Ausbildungsgänge mit dem „Lernen“ der heiligen Schriften verbunden. Besonders an Schabbat und Sonntag wurde studiert; morgens um ¼ vor sechs betete täglich der erste Minjan; jeden Abend gab es verschiedene Schiurim, wie Gemara, Raschi, Mischnajot, Tanach und Neuhebräisch. Zu Haimer's Esch gehörte ein großer Obst- und Gemüsegarten; die anderen Sparten (Möbeltischler, Elektriker, Schuhmacher, Schmiede u.a.) wurden zumeist in benachbarten Betrieben ausgebildet. 1940 lebten in Haimer's Esch 55 Menschen, meist im Alter um die 20 und überwiegend Männer, organisiert als religiöser Kibbuz.
Am 3. April 1940 heirateten Flora und Markus Neuberger in Amsterdam standesamtlich.67 Erst am 13. November fand die feierliche Eheschließung nach jüdischem Ritus statt,68 ohne die Eltern des Brautpaars, was sie bei aller Freude sicherlich als sehr schmerzlich empfanden. Jetzt konnte Flora bei ihrem Ehemann in Haimer's Esch einziehen. Markus war seit Sommer 1940 auch Leiter der Einrichtung.69
Als im September 1941 deutsche Razzien einsetzten, konnten sich einige der jungen Leute verstecken, z.T. mit Hilfe engagierter evangelischer Christen. Andere wurden zur Zwangsarbeit geholt. In dieser Phase, am 11. November 1941, kam Floras und Markus' Sohn Uri in Enschede zur Welt. Zweifellos brachte sein Vater ihn am achten Tag zu einem Mohel, der die Beschneidung vollzog.
Markus Neuberger versuchte, Haimers Esch bis zur Alijah der letzten Pioniere aufrecht zu erhalten,70 musste aber spätestens im Sommer 1942 in dem Arbeitslager „Kamp Schut“ bei Ede Landarbeit leisten, während Flora mit Kind noch bis Herbst des Jahres in Enschede blieben.
Seit Ende April 1942 war es in Holland ab dem Alter von sechs Jahren unter Strafandrohung vorgeschrieben, den gelben Stern mit der (hebräische Schrift nachäffenden) Aufschrift „Jood“ zu tragen. Mit dieser Markierung, deren Vorbild aus dem mittelalterlichen Getto stammt, mit Ausgangsbeschränkungen und Schikanen war der Alltag bereits sehr erschwert. Im Sommer setzten die Deportationen aus den Niederlanden nach dem Osten ein.
Zwischen 3. und 5. Oktober 1942 wurde „Kamp Schut“ geräumt. Alle dortigen Zwangsarbeiter wurden nach dem Durchgangslager Westerbork transportiert, in Razzien auch ihre Angehörigen festgenommen und ebenfalls dorthin gebracht, so auch Flora und Uri.71 Alle drei sind am 2. November 1942 von dort in einem RSHA-Transport mit 954 Menschen in Güterwaggons nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden.72 Es ist ungewiss, ob der knapp 33-jährige Markus dazu zählte, als in Cosel (heute Kedzierzyn-Kozle) im oberschlesischen Kohlerevier arbeitsfähige, jüngere Männer aus dem Zug geholt und in dortige Arbeitslager gesteckt wurden. Möglicherweise ist er daher erst, wie das Gedenkbuch des Bundesarchivs angibt, im März 1943 umgekommen. Falls hier eine Namensverwechslung vorliegt und/oder er im Deportationszug blieb, wurde er vielleicht am Ziel Auschwitz-Birkenau noch zur Arbeit eingeteilt.
Flora und der kleine Uri sind sofort nach der Ankunft am 4. oder 5. Oktober in der Gaskammer ermordet worden. Uris 1. Geburtstag stand kurz bevor. Sein Name erinnert an das hebräische Wort für „mein Licht“. Jahrzeit-Tag für die drei ist der 10. Tewet (ein Fasttag im Dezember/Januar).
Viel zu spät, im Mai 1943 kam das endlich von der britischen Regierung genehmigte Zertifikat der Jewish Agency für die Einwanderung von Familie Neuberger-Rabinowitz nach Erez Israel,73 das Floras Neffen heute verwahren.
Isaak Rabinowitz litt all die Jahre nach dem Krieg unter dem unbegreiflichen Verlust seiner Tochter und ihrer Familie, so dass er frohen Festlichkeiten fernblieb, wie seine Enkel berichten. Er schrieb 1956 von Basel aus an die badische „Wiedergutmachungs“-Stelle wegen „Schadens an Leben“, wie die juristische Formel lautete, an seiner Tochter Flora, Schwiegersohn Markus und Enkel Uri. Der Antrag wurde 1959 zurückgewiesen, da der Antragsteller „keine Beweismittel“ habe vorlegen können.
Bis Herbst 1938 war Markus' Vater Max Neuberger in der Gemeindeverwaltung von Adass Jisroel tätig gewesen.
„Einer der aktivsten, geradezu vom Arbeitseifer besessenen, dabei äußerst bescheidenen Mitarbeiter der Adass war ihr Sekretär Max Neuberger, der seine Jugend in der Austrittsgemeinde Frankfurt a.M. verlebt und vom Geiste Samson Raphael Hirschs beseelt war. […] Max Neuberger wurde von den Herren des Rabbinats, von den Mitgliedern der Verwaltung wegen seiner Tüchtigkeit und unbedingten Zuverlässigkeit hochgeschätzt.“74
Nach dem Novemberpogrom 1938 und der Zerstörung der meisten Einrichtungen wurde er als Angestellter der „Reichsvereinigung“ im „Gesamtarchiv der deutschen Juden“ in der nahe gelegenen Oranienburger Straße 28 weiter beschäftigt, u.a. als Übersetzer.75Sein Vorgesetzter Jacob Jacobsohn berichtete über ihn:
„...das Angestelltsein im Archiv konnte sich auf Dauer nicht als Schutz erweisen. Die harte Hand der Deportationsgewaltigen griff schon im Sommer rücksichtslos auch in die Schar meiner Mitarbeiter und Helfer ein. Einige trugen ihr Schicksal mit der Ruhe des ungebrochen religiösen Menschen... Zu denen, die ich beschäftigen konnte, gehörte auch der letzte Sekretär der Adass Jisroel Gemeinde. Als die Reihe an ihn kam, bat er mich, ihm einen Satz Mischnajot mitzugeben, was ich natürlich tat, um sein Vertrauen in die Zukunft nicht zu erschüttern.“76
Max und Hulda Neuberger wurden am 17. Mai 1943 mit dem 38. Osttransport von Berlin aus nach Auschwitz deportiert und fanden dort den Tod. Von Markus' Geschwistern kamen um: Salomon (geb. 1912, 1943 von Gut Neuendorf bei Fürstenwalde nach Auschwitz), Mirjam (geb. 1913, 1942 von Amsterdam nach Auschwitz), Shimon (geb. 1915, ca. 1942 von Drancy nach Auschwitz) und Jona (geb. 1916, 1942 nach Majdanek). Auf dem Israelitischen Friedhof Wittlicher Straße in Berlin-Weißensee wird an einem Stein für „die Mitglieder und Mitarbeiter der Gemeinde Adass Jisroel Berlin, die von den Nazis ermordet wurden“ ihrer gedacht: „Hulda und Max Neuberger mit 5 Kindern“.
Markus' Bruder Hermann Zvi Neuberger und seine Frau Ruth erreichten Palästina. –
Über die Hälfte der Pioniere aus Haimer's Esch war deportiert worden.77 Einigen gelang noch die Allijah. Sie schlossen sich u.a. dem religiösen Kibbuz Chafetz Chajim in der Nähe von Gedera an, der bis heute besteht. Der „Chofez Chajim“ war das große Vorbild der agudistischen Jugendbewegung, Rabbiner Jisrael Meir Kagan (1838-1933). Seine Name und der Titel seines Hauptwerks (nach Psalm 34,13) heißt übersetzt „einer, der zu leben begehrt; der das Leben liebt“.
(Christoph Kalisch, Dezember 2012)
Mit Dank an Familie Nordmann, die diese Arbeit mit Dokumenten, Hinweisen und großem Wohlwollen unterstützt hat.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Adolf Lewin: Geschichte der badischen Juden seit der Regierung Karl Friedrichs. Karlsruhe 1909, S.393.
[2] Lt. Breuer (1986, S. 291) war Karlsruhe die „erste völlig separate Austrittsgemeinde“.
[3] Vgl. Esther Ramon in: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Karlsruhe: 2. Aufl. 1990, S. 308).
[4] Stadtarchiv Karlsruhe (StadtAK), Bestand 1/AEST 36; Der Israelit, 6. Januar 1927, S. 8.
[5] Leon Meyer: „Die Austrittsgemeinde und andere Minjanim“. In: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Karlsruhe 2. Aufl. 1990, S. 596.
[6] So irrtümlich Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern. Karlsruhe 2. Auflage 1990, S. 84f.) in Bezug auf Meir Peleg (1985) in StadtAK 8/StS 17/171ff.
[7] In Würzburg http:www.alemannia-judaica.de/wuerzburg_synagoge_a.htm, in Fürth oder in Wien.
[8] Leon Meyer: „Die Austrittsgemeinde und andere Minjanim“. In: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Karlsruhe 2. Aufl. 1990, S. 596.
[9] Tudor Parfitt, „The contribution of the Old Yishuv to the Revival of Hebrew“, in: J Semitic Studies, 1984; XXIX: 255 - 265.
[10] Der Israelit, 21. Oktober 1909.
[11] F. Hodecker: Odenheim. Eine Wanderung durch 2000 Jahre Odenheimer Geschichte. 1962. S. 227 f.
[12] Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA), 480/11203.
[13] http:www.alemannia-judaica.de/flehingen_synagoge.htm .
[14] Esther Ramon in: Juden in Karlsruhe (wie Anm. 3), S.308.
[15] GLA 480/11203.
[16] Adressbuch KA 1925, II 39.
[17] Privatbesitz Fam. Nordmann.
[18] Zeugnis der Chewra Kadischa Dez. 1938 für I. Rabinowitz, Familienbesitz.
[19] Zeugnis der Chewra Dower Tow, Dez. 1938 für I. Rabinowitz, Familienbesitz.
[20] Hinweis Brüder Nordmann Juni 2012.
[21] StadtAK 6/BZA 10221 Einbürgerung 1925.
[22] Ebenda.
[23] Vgl. JewishGen Online Worldwide Burial Registry – Israel.
[24] Beleg „Obligation de Belgique 5%, 76th Lottery ...1928“.
[25] Hinweis der Familie Nordmann, Juli 2012.
[26] C.V.-Kalender 1929, Verlagsvermerk.
[27] Vgl. z.B. Israelit Nr. 6, 10. Feb. 1938.
[28] Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern. Karlsruhe 1990, S. 285.
[29] Auskunft Fam. Nordmann
[30] Israelitisches Gemeindeblatt B, 9. Jg. 1931, 15. Dezember, S. 14.
[31] Dokument des Rabbinats der IRG, im Familienbesitz.
[32] Iraelit, Nr. 52, 28. Dezember 1934, S. 10; gemeint ist u.a. Lina Freund.
[33] Israelitisches Gemeindeblatt B, 13, Jg. 1935, 9. Okt., S. 8.
[34] Israelit, Nr. 22, 26. Mai 1936, S. 6.
[35[ Auskunft Fam. Nordmann 2012.
[36] Der Israelit Nr. 12/13 vom 25.3.1937, S. 20.
[37] Mittleman, Alan, Some German Jewish Orthodox Attitudes Toward the Land of Israel and the Zionist Movement, Jewish Political Studies Review, 6:3/4 (1994:Fall) p. 107.
[38] Der Israelit. H. 11, 1938, 17. März, Seite 8.
[39] Der Israelit. H. 30, 1938, 31. August, Seite 7.
[40] GLA Karlsruhe, 480/11203.
[41] Vgl. Adressbücher 1926 ff. und Dahm, Das jüd. Buch, S. 521.
[42] http:*www.lostart.de/Webs/DE/Datenbank/EinzelobjektSucheSimpel.html?param=EOBJ_ID%3D292676%26SUCHE_ID%3D1812998%26_page%3D0%26_sort%3D%26_anchor%3Did4406 .
[43] Lt. Einbürgerungsakte StadtAK 6/BZA 10221 Einbürgerung 1925.
[44] Nach Jehuda Leib Gordon (1862) in dem Buch „Erwache, mein Volk“.
[45] Jüd. Gemeindeblatt B, 15. Jg. 1937, Nr. 21, S. 8.
[46] Vgl. Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich.
[47] Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern. Karlsruhe 1990, S. 185.
[48] Vgl. GLA 480/E24440 Michalski.
[49] Staatsarchiv Basel, PD-REG Ba 31449 Rabinowitz, Isaak.
[50] Ebenda.
[51] Ebenda.
[52] Ebenda.
[53] Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern. Karlsruhe 1990, S. 285.
[54] „Agudat ha-Morim mi-Germania“, Februar 1954, vgl. GLA Karlsruhe, 480/11203.
[55] Jüdische Presse Nr. 13, 13. Jg.1927, 1. April, S. 99.
[56] StadtA KA 6/BZA 10221 Einbürgerung 1925.
[57] Auskunft S. Nordmann Mai 2012.
[58] Zeugnis Firma Blicker für Flora Rabinowitz, Dez. 1936, Familienbesitz.
[59] Beilage Standesregister Karlsruhe 1938.
[60] So bereits im Jüd. Adressbuch für Groß-Berlin Ausgabe 1931, S. 30.
[61] Die Israelitische Synagogengemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin (1869-1904). Ein Rückblick. Berlin: Nathansohn & Lamm 1904. S. 41; Anschrift vgl. Jüdisches Adressbuch 1937.
[62] Schreiben des Rabbinats der Adass Jisroel Berlin, 7. Juli 1938, Familienbesitz.
[63] Auskunft August 2012 von Staatsarchiv Den Haag, Rijksvreemdelingendienst Inv.-Nr. 898.
[64] Angabe von David Neuberger, Buenos Aires (2010).
[65] Staatsarchiv Basel, PD-REG Ba 31449 Rabinowitz, Isaak und Auskunft Staatsarchiv Den Haag August 2012.
[66] L.F. van Zuylen: Palestina pioniers in Twente 1933-1945 […] Enschede 1995, S. 13, 17 und 41 (englischsprachiger Teil) und S. 83 (ndl. Teil); joodsmonument.il; Van Zuylen (1995), S. 63.
[67] So Auskunft Staatsarchiv Den Haag August 2012.
[68] Auskunft Familie Nordmann nach Notizen von I. Rabinowitz.
[69] Er überlebte und konnte später mit Frau Allijah machen.
[70] Hinweis Brüder Nordmann, Basel Juni 2012.
[71] Auskunft José Martin, Herinneringscentrum Westerbork, Mai 2012 und www.ede.nl .
[72] Offenberg: Adass Jisroel, S. 245 nach Zwi Neuberger, Herzlya 1955 und ITS Arolsen/Yad Vashem.
[73] Brief im Besitz von Fam. Nordmann.
[74] Max Sinasohn (Hrsg.): Adass Jisroel Berlin. Entstehung, Entfaltung, Entwurzelung. 1869-1939. Jerusalem 1966, S. 43.
[75] Mario Offenberg (Hrsg.): Adass Jisroel : d. Jüdische Gemeinde in Berlin (1869 - 1942) ; vernichtet und vergessen. Berlin 1986, S. 244 f.
[76] In: Monika Richarz (Hrsg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte. Stuttgart 1982, S. 404.
[77] Vgl. Van Zuylen (wie Anm. 66).