Reichenberger, Henriette
Nachname: | Reichenberger |
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Vorname: | Henriette |
Geburtsdatum: | 13. April 1881 |
Geburtsort: | Karlsruhe (Deutschland) |
Familienstand: | ledig |
Eltern: | Abraham und Rosalie, geb. Heidingsfeld, R. |
Sekretärin
14.8.1942 von Drancy nach Auschwitz (Polen)
Biographie
Henriette Reichenberger
„Meine liebe Ny“
1881 – 1942
Als der Karlsruher Kantor und Religionslehrer Abraham Reichenberger am 26. Oktober 1889 starb, war sein „Nesthäkchen“ Henriette achteinhalb Jahre alt.
Die Reichenbergers waren seit Generationen jüdische Religionslehrer. Und so war es nur folgerichtig gewesen, dass Abraham im August 1867 Rosalie Heidingsfeld geheiratet hatte, die ihrerseits aus einer Familie mit langer Lehrtradition stammte.
Abraham wurde 1838 in Sennfeld geboren, lehrte zunächst in Jöhlingen, ab 1870 in Eichtersheim und von 1876 bis zu seinem Tod an der israelitischen Religionsschule in Karlsruhe.
Der liberale Zeitgeist und das Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Juden im Großherzogtum Baden, 1862 erlassen, hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Familie: eine Aufgabe der eigenen Religion kam niemals in Frage, aber weitgehende Assimilation und Akkulturation sollte schon sein. Die Religionszugehörigkeit war nicht mehr allein identitätsstiftend, „Deutsch-sein“ spielte - spätestens seit der Reichsgründung - eine überaus wichtige Rolle.
Und so gaben Abraham und Rosalie ihren acht Kindern nicht mehr der Familientradition entsprechend alttestamentarische Namen. Vaterländische Gesinnung war gefragt, die Nachkommen hießen deshalb Sigmund, Berthold, Bernhard, Leopold, Emilie, Sally, Isidor und eben Henriette (deren Name allerdings aus der schon früh assimilierten Heidingsfeld-Wertheimer-Familie übernommen worden war).
Henriette wurde am 13. April 1881 in Karlsruhe geboren. Hausgeburten waren damals die Regel und Ny - wie sie zeitlebens genannt wurde - kam in der Kronenstraße 15 zur Welt. Kronen- und Kaiserstraße, die innere Oststadt, waren das Zentrum jüdischen Lebens in der Stadt, die damals ca. 1.700 Juden zählte.
Für Ny's ältere und einzige Schwester Emilie, die gegen sechs aufgeweckte Brüder bestehen musste, war Henriette ein Geschenk des Himmels. Und der Pakt, den die beiden Schwestern damals schlossen, sollte ein Leben lang halten: Emilie ohne Henriette war genauso wenig denkbar, wie Henriette ohne Emilie.
Ab 1887 besuchte Henriette die Volksschule und nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters scheint Onkel Leopold Heidingsfeld, Rosalies Bruder, der als angesehener und wohlhabender Kaufmann in Straßburg lebte, die Familie vielfältig unterstützt zu haben. Die wenigen erhaltenen Zeugnisse aus diesen Jahren deuten auf ein harmonisches Familienleben hin. Noch 1890 lebten Mutter, sieben Kinder und Abrahams Schwester Emilie in der Wohnung Kronenstraße 15, nur der älteste Bruder Sigmund studierte in Heidelberg.
1893 wechselte Henriette an die Höhere Mädchenschule, die sie allerdings nur zwei Jahre besuchte. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass ungeachtet der formalen Gleichberechtigung und der tatsächlichen sozialen Integration der badischen Stadtjuden, die dem aufgeklärten und allseits beliebten Großherzog Friedrich zu verdanken waren, in der Schule die Schranken und Vorbehalte zwischen den Religionen noch immer deutlich spürbar waren; ja sich gegen Ende des Jahrhunderts als neu auflebender Antisemitismus verstärkt bemerkbar machten. Keine gute Atmosphäre für ein sensibles vierzehnjähriges Mädchen aus einem vaterlosen Haus.
Für die Zeit zwischen 1895 und 1911 liegen keine aussagekräftigen Zeugnisse über den weiteren Lebensweg von Henriette Reichenberger vor.
Henriette absolvierte offensichtlich eine kaufmännische Lehre, denn in der nationalsozialistischen „Judenkartei“ von 1938 wird als erlernter Beruf „Kaufmann“ aufgeführt, als ausgeübter Beruf „Sekretärin“. Und das Baugeschäft Walder bestätigt am 22. März 1950 „Fräulein Henriette Reichenberger war bis 31.10.1935 als Buchhalterin beschäftigt gewesen und hat monatlich 253 RM bezogen. Fräulein Reichenberger war seit dem Jahr 1911 in unserem Betrieb tätig und musste von uns bedauerlicherweise im Jahre 1935 entlassen werden.“
Ny war damals 54 Jahre alt, ledig, seit 24 Jahren im selben Betrieb tätig, und sicher das, was man eine treue Seele nennt. Sie lebte seit Anfang der dreissiger Jahre mit ihrer - ebenfalls ledigen - Schwester Emilie zusammen in einer Mietwohnung im 3. Stock, Schnetzlerstraße 4.
Geschwisterliche Symbiose: Henriette verdient, Emilie führt den Haushalt. Ein beschauliches und sicher gleichförmig friedliches Leben für zwei älter werdende, immer freundliche „Fräuleins“, unzertrennlich und auch auf den wenigen erhaltenen Fotografien von Familienfesten stets nebeneinander sitzend. Und völlig arglos, ahnungslos. Bis zum November 1938 jedenfalls :
„Ihr werdet Euch denken können, dass uns der Gedanke, alles verlassen zu müssen, sehr schwer fällt und wir können es uns vorläufig noch gar nicht vorstellen. Nun ist es aber leider eine Notwendigkeit und wir müssen jede Gelegenheit wahrnehmen um irgendwoher eine Hilfe zu bekommen“.
Der von Emilie und Ny gemeinsam verfasste Brief an den Neffen Fritz Reichenberger in New York, zwei Wochen nach der Pogromnacht im November 1938 geschrieben, spiegelt den ganzen Jammer und die ganze Hilflosigkeit wider, die zwei rechtschaffene und gutgläubige Karlsruher Bürgerinnen angesichts des Unvollstellbaren befallen musste.
Am 22. Oktober 1940 wurden Henriette und Emilie Reichenberger zusammen mit 6.536 anderen Juden aus dem „Gau Baden“, der Pfalz und dem Saarland in einer generalstabsmäßig geplanten Nacht- und Nebelaktion nach Gurs deportiert. Gurs war ein Internierungslager in den Pyrenäen, das im Mai 1939 für Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs errichtet worden war. Was Gurs - 380 Baracken ohne Fenster und ohne sanitäre Anlagen - tatsächlich bedeutete, das ist einem Bericht von Henriettes Schwager Ernst Simon aus Mannheim zu entnehmen, der im Mai 1940 von der Gestapo aus seinem Zufluchtsort Brüssel verschleppt worden war.
„30. Oktober 1940
Am nächsten Morgen um elf Uhr kamen wir auf der Station Oleron an, wo wir ausgeladen wurden. Stundenlang mussten wir warten, und wurden von Gendarmen bewacht. Schon in St. Cyprien hatte ich gehört, dass alle Juden aus Baden und der Pfalz nach Südfrankreich deportiert worden seien. Jetzt fragte ich einen der Gendarmen, ob er etwas davon wisse, und er sagte mir, es seien alle auch in Gurs. Darauf fragte ich ihn, was mit ihnen geschehe, und er antwortete mir, Hitler hat sie hinausgeschmissen, und wir lassen sie jetzt krepieren. - Damit schloss unsere Unterhaltung. Wir kamen auf Lastwagen und wurden ins Lager Gurs gebracht. Ringsherum um die Baracken war tiefer Schlamm, wenn es nicht regnete sank man bis zum Knöchel ein, sonst bequem bis zum Knie.
Das Essen bestand aus einer sogenannten Suppe, in Wirklichkeit war es nur heisses Wasser, in dem man, wenn man Glück hatte, 3 bis 4 Karawanzen finden konnte. Außerdem gab es einmal im Tag Brot, ein Laib für sieben Mann. Neben unserem Ilot lag die Leichenhalle, und tagtäglich gab es 25 - 30 Tote, allerdings meistens aus den Ilots, der von Süddeutschland Deportierten, es waren dies meistens ältere Leute und hatten sie auch noch nicht die Lagererfahrung, wie wir, und wussten sich nicht zu helfen.
Nachts kamen die Ratten in Scharen, und da wir keine Betten hatten, sondern nur ein wenig Stroh, liefen sie über Körper und Gesicht, und was sie an essbarem erwischen konnten, verschwand. Einmal wurden vergiftete Brotstücke gegen die Rattenplage im Schlamm verstreut, am nächsten Tag mussten verschiedene Gefangene mit Vergiftungserscheinungen in die Infirmerie eingeliefert werden. Obgleich es ausdrücklich bekannt gegeben worden war, hatten sie vor Hunger nicht widerstehen können, das Brot aus dem Schmutz aufzulesen und zu essen. Eine grosse Anzahl von Ilots war hier von Frauen und Mädchen belegt. Diese Ilots übertrafen an Schmutz und Schlamm noch die Unsrigen. Auch konnten die Frauen sich keine Zusatznahrung verschaffen, da die Spanier dort nicht gegen Geld verkauften, sondern nur den jungen Mädchen gegen andere Gefälligkeiten, zu essen brachten. Viele, von diesen jungen Mädchen, besonders im Alter von 16 und 17 Jahren, wurden schwanger...
Im Januar 1941 versuchte Isidor Reichenberger, Bruder von Henriette und Emilie - der selbst 1943 in Auschwitz ermordet wurde - die schlimmste Not in Gurs wenigstens mit Kleiderpaketen zu lindern. Vergeblich: „Da das gesamte Vermögen der nach Gurs Weggeführten von einer amtlichen Stelle verwaltet und verwertet wird, besteht bis heute leider keine Möglichkeit, ins Lager Kleidung oder Wäsche senden zu können... „. Ein Auswanderungsantrag Henriettes in die USA mit unbegrenzter Bürgschaft ihres Neffen Fred Reichenberger in New York versehen, blieb, obgleich vom französischen Innenministerium befürwortet, ebenfalls erfolglos.
Im Januar 1942 wurden die beiden Schwestern in das Camp-hôpital de Noé verlegt. Am Samstag, dem 8. August kommt Henriette nach Récébédou und muss von dort am 10. via Narbonne und Rivesaltes den Weg nach Drancy antreten, wo der aus verschiedenen Kontingenten zusammengesetzte Transport am Morgen des 12. August um 8:13 Uhr gemeldet wird. Kurz nach der Ankunft in Drancy, einem „Umschlagplatz“ im nördlichen Vorort von Paris, findet die Umladung in die Waggons statt, die den Transport Nr. 19 bilden und am 14. August nach Osten auf den Weg gebracht werden.
Emilie Reichenberger hatte unmittelbar nach der Trennung und Überführung ihrer Schwester nach Récébédou einen Brief an sie gerichtet. „13. August 1942. Meine liebe Ny! Obwohl ich noch nicht weiß, wohin der Brief geht, will ich anfangen, an Dich zu schreiben. … Ich habe es abends bemerkt, dass Dein Strickkleid noch da geblieben ist und noch verschiedenes, wie Nähzeug, Messer u.s.w. Ich habe schon ein Paketchen gerichtet gehabt, vorhin habe ich’s wieder ausgepackt. Ich mache mir dauernd Vorwürfe, dass ich nicht so bedacht war und einen Weg gesucht u. gefunden habe, um Dir die Sachen noch rechtzeitig zu schicken, weil ich doch weiß, wie nötig Du die Sachen brauchst….“ Sie hat diesen Brief nicht mehr abschicken können.
Am 19. August 1942 schreibt Emilie - Kurzbrief über das Rote Kreuz „nicht über 25 Worte, nur persönliche Familiennachrichten“- an ihre Schwägerin Alice in Berlin: „Ny leider abgereist, Ziel unbekannt. Sind beide über Trennung tief unglücklich, bis jetzt ohne Nachricht...“.
Das Ziel war Auschwitz.
Am 14. August hatte der SS-Mann Heinrichsohn per Telex Eichmann in Berlin und den Lagerkommandanten in Auschwitz davon unterrichtet, dass am selben Tag um 8 Uhr 55 der Convoi No. 19 den Bahnhof Drancy mit eintausend Juden - „darunter erstmals Kinder“ - Richtung Auschwitz verlassen habe.
875 Personen, alle Frauen, alle Kinder und alle Männer über 42 Jahre wurden sofort nach Ankunft vergast. Ein einziger der Deportierten erlebte die Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945.
Letzte Spuren: das Amtsgericht Karlsruhe hat mit Entscheidung vom 10. August 1950 als Todeszeitpunkt den 31. Dezember 1942 - 24 Uhr - festgestellt. Das Landesamt für Wiedergutmachung erlässt am 27. Mai 1963 folgenden Bescheid:
Wiedergutmachung wegen Schaden im beruflichen Fortkommen an die Erben der Henriette R.¬2.074.-DM.
Begründung: Verfolgung aus rassischen Gründen, an der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit gehindert. Seit dem 31.12.1942 für tot erklärt und von den Antragstellern beerbt worden.
Einreihung nach BEG in die Stufe 2 einfacher Dienst.
Entschädigungszeitraum 1.1.1939 bis 31.12.1942 = 48 volle Monate à 216.-RM = 10.368.-RM (umgerechnet im Verhältnis 10.-2)
So wie in Karlsruhe 2001 das Grabmal für 986 jüdische Karlsruher Bürgerinnen und Bürger enthüllt wurde, auf welchem der Name meiner Tante Henriette Reichenberger zu finden ist, wurde einige Jahre später im Januar 2005 in Paris im „Memorial de la Shoa“ die Gedenkmauer für die sechsundsiebzigtausend aus Frankreich deportierten und ermordeten Juden enthüllt. Sechsundsiebzigtausend Namen - darunter Henriette Reichenberger - die damit vor dem Vergessen bewahrt werden sollen.
Nachsatz:
Emilie hat Gurs überlebt. „Musste zurückbleiben, weil Altersgrenze überschritten.“ Ordnung musste sein. 1945 fand die damals 71-jährige erste Aufnahme bei Leopold Heidingsfeld in Puy de Dôme, dem Neffen jenes Leopold H. in Straßburg, der nach dem Tod von Emilies Vater 1889 der Familie Beistand geleistet hatte.
Ab 1947 verbrachte „Tante Emilie“ ihren Lebensabend in meinem Elternhaus in Bad Cannstatt. Sie war unsere erste Französischlehrerin und hat die wärmsten Socken, die es jemals gab, zu Weihnachten gestrickt. Einmal im Jahr - Emilie erschien dann nicht zum gemeinsamen Essen - wurden große Mengen Matze in ihr Stübchen geschafft. Das war die letzte (und einzige) Spur jüdischen Lebens, die Familie Reichenberger in meiner Erinnerung hinterlassen hat.
Henriettes Schwester Emilie starb am 7. Februar 1956 in Bad Cannstatt.
(Hansjörg Dorschel, Juni 2010)
Der Autor, Hansjörg Dorschel, Jahrgang 1935, ist ein Enkel von Dr. Ernst Reichenberger. Ernst, Geburtsname Isidor, war Henriettes Bruder.