Salzmann, Samuel

Nachname: Salzmann
Vorname: Samuel
Geburtsdatum: 20. Oktober 1874
Geburtsort: Opatow (Russland, heute Ukraine)
Familienstand: verheiratet
Familie: Ehemann von Sara S.; Vater von Jenny Przysucha geb. S., Johanna, Fischel und Rosa
Adresse:
Markgrafenstr. 3,
Markgrafenstr. 8,
Fasanenstr. 37
Beruf:
Schuhmacher Inhaber eines Schuhmachergeschäfts, Markgrafenstr. 6
Deportation:
28.10.1938 Abschiebung nach Polen,
später in das Ghetto in Radom (Polen)
Sterbeort:
Radom (Russland, heute Polen)

Biographie

Samuel, Sara, Rosa und Fritz Salzmann

Samuel (Szmul) Salzmann kam am 20. Oktober 1874 in Opatów, Gouvernement Radom in Russisch Polen, zur Welt. Seine Eltern waren vermutlich Efraim (Froim Gersz) und Perla Zalcman, so die dortige Schreibweise. Der Familienname erinnert an den Handel mit Speisesalz, das im 18. Jh. noch ein kostbares Gut war. Der in Ungarn geborene Schriftsteller Felix Salten war als Siegmund Salzmann aufgewachsen; eine sehr bekannte israelische Pianistin hieß Pnina Saltzman (1922-2006).

Die Kleinstadt Opatów, auf Jiddisch Apt, war seit dem 16. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum der chassidischen Orthodoxie in Zentralpolen. Der Apter Rebbe Abraham Jehoschua Heschel (ca. 1748–1825) war ein bekannter Vertreter dieser Bewegung. Gleichzeitig bot die Stadt schon früh ein vielfältiges Bild. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts betätigten sich nur gut 10 Prozent der jüdischen Bevölkerung als Händler, etwa 60 Prozent arbeiteten in Handwerksberufen, mehr oder minder geduldet von ihren christlichen Kollegen. Seit dem 19. Jahrhundert gab es jiddischsprachige Kulturvereine mit Amateurtheater, Abendkurse für Arbeiter – Parteien waren im Zarenreich noch verboten. Um die Jahrhundertwende – die Stadt hatte etwa 9.000 Einwohner – kamen auch in Opatów zionistische Gruppen auf.

Um 1900 heirateten Szmul und Sure-Rywke (Sara Rivka), geborene Wolfowicz, Tochter von Moses und Scheindel. Die Ehefrau war am 15. Oktober 1873 (oder 1874?) in Łagów bei Opatów geboren. Ihr Familienname schwankt auf eigenartige Weise in den verschiedenen Unterlagen, auch in solchen aus der Familie: Wobinowski, Wolfrath, Wolfratsch, Wullewowitsch – offenbar nach dem Gehör. Auch ihr Geburtsort variiert (Łagów, Raków, Opatów)...
Am 15. Dezember 1902 kam als erstes Kind Fiszel (Efraim) in Łódź zur Welt, wo sich die Salzmanns inzwischen etwa 200 km nordwestlich ihrer Geburtsorte niedergelassen hatten. Fischels hebräischer Name spiegelt den des verstorbenen Großvaters Froim.

Łódź gehörte als Teil Kongresspolens zum russischen Zarenreich und war in dieser Zeit eine riesige, aufstrebende Industriestadt mit fast einem Drittel jüdischem Bevölkerungsanteil. Prägend waren prekäre Erwerbszweige wie Heimarbeit und zahlreiche Betriebe des Klein- und Kleinstgewerbes. So ist es denkbar, dass der junge Szmul Zalcman dort das Schuhmacherhandwerk gelernt hat. Er war – für einen Juden recht ungewöhnlich – Analphabet.

Wahrscheinlich unter dem Eindruck der Pogrome durch zaristische Truppen auch in Russisch Polen kam Ehepaar Salzmann mit dem kleinen Fischel um 1906 nach Karlsruhe. Sie zählten zur liberalen jüdischen Gemeinde und scheinen proletarischen, pro-zionistischen Kreisen angehört zu haben. Vater Salzmann arbeitete als Schuhmacher und Flickschuster.
Laut Adressbuch, Stand Oktober 1906, wohnte die Familie zunächst im Dörfle in der heute verschwundenen Schwanenstraße 18, im Hinterhaus parterre. Am 22. November 1906 kam Tochter Ida zur Welt. Sie wurde nur knapp zwei Jahre alt (gestorben am 29. September 1908).
Am 28. August 1908 wurde die Tochter Johanna geboren. Sie wuchs als Zweitälteste in Karlsruhe auf. Die nun vierköpfige Familie zog etwa 1909 in die Markgrafenstraße 8 um.
Am 5. Juni 1910 kam Moses zur Welt, benannt nach dem inzwischen verstorbenen Großvater mütterlicherseits. Moses wurde wiederum nur knapp zwei Jahre alt (verstorben am 2. Mai 1912). Die Kindersterblichkeit war damals noch sehr hoch. So starben fast 20 Prozent der Neugeborenen im ersten Lebensjahr (Statistisches Jahrbuch Baden und Württemberg 1914-1915, S. 93).
Am 17. Oktober 1914 kam Tochter Anna Jenny zur Welt. Sie wuchs als drittes Kind der Familie in Karlsruhe auf.

Mit dem Kriegsausbruch im August 1914 galten die Eltern Salzmann wegen ihrer russischen Staatsangehörigkeit als „feindliche Ausländer”, ungeachtet ihrer tatsächlichen Haltung. Der 40-jährige Samuel wurde daher – zeitweise – interniert und zwar in einem bis 1917 existierenden Barackenlager im südbadischen Villingen. Neben etlichen aus dem Zarenreich stammenden Studenten der Technischen Hochschule Karlsruhe verzeichnet eine Liste: „Samuel Salzman, verh., 2 Kinder, geb. in Opatow/Radom, Russ. Polen, Schuhmacher, letzter Aufenthaltsort: Markgrafenstr. 3 [lies: 8] in Karlsruhe, israelitisch“ (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen, Akte 6210 Verpflegung französischer, polnischer und russischer Zivilisten im Barackenlager). Der Akteneintrag wird gleich zu Kriegsbeginn erfolgt sein, da es ja im Oktober 1914 bereits drei lebende Salzmann-Kinder gab.

Anfang August 1916 wurde ein weiterer Sohn, Max, geboren. Er wurde ein Jahr und knapp drei Monate alt (gestorben am 13. November 1917).
Laut Adressbuch, Stand Oktober 1916, zogen die Salzmanns in die Fasanenstr. 37 um, wo sie über 20 Jahre blieben. Im Erdgeschoss war die Bäckerei des Eigentümers Alois Reith. Die Wohnung im 2. Obergeschoss in einem dreigeschossigen, damals relativ modernen Bau lässt auf einen gewissen sozialen Aufstieg der Familie schließen.
Am 20. Juni 1918 kam Tochter Martha zur Welt. Sie ist am 7. September des Jahres verstorben.

Bald nach Kriegsende nahm das Geschäft einen gewissen Aufschwung. Samuel Salzmann inserierte mehrfach im Karlsruher Tagblatt und in der Badischen Presse, so im Januar 1919: „2 tüchtige Schuhmacher sofort gesucht für dauernde Beschäftigung bei hohem Lohn“. Weiter empfahl er sein Geschäft für „feine Maßarbeit sowie Ausführung sämtlicher Reparaturen“; „elegante Formen, solide Verarbeitung“; „flotte rasche Bedienung, bestes Material. Militärschuhe werden schnell und gut umgearbeitet“. Es gab auch Konfektion: „Straßen- und Tourenstiefel 1a Qualität, schwarz und farbig für Damen und Herren, in allen Größen vorrätig“.
Ab etwa 1919 bis in die frühen 1930er Jahre bestand Samuel Salzmanns Schuhmacherwerkstatt in der Kreuzstraße 22 parterre. Nebenan arbeitete Aron Herschlikowitsch, aus dem etwa 50 km von Opatów entfernten Złoczew gebürtiger Kurzwarenhändler, Aktivist im Karlsruher „Verband der Ostjuden“ und Mitbetreiber eines „polnischen“ Betsaals. Als frommer orthodoxer Jude unterstützte er möglicherweise seinen Landsmann, auch wenn dieser nicht dort betete.

Am 23. Juni 1920 kam die Tochter Rosel (Rosa) auf die Welt und wuchs als viertes und jüngstes Kind in Karlsruhe auf.

In der heraufziehenden Inflation warb eine Anzeige im Karlsruher Tagblatt (16. Mai 1923): „Vorteilhaft und billig. Wollen Sie sich Ihre Schuhe billig und gut besohlen lassen, so kommen Sie in die Reparatur-Werkstätte S. Salzmann, Kreuzstr. 22. Verarbeitung von nur prima Kernleder.“ Am 2. Juli: „Auf zur Billigen Woche! Trotzdem die Lederpreise um mehr wie das Doppelte gestiegen sind, bin ich noch in der Lage, eine Billige Woche [...] zu veranstalten. Durch besondere Begründungen kann ich keine Preise ausschreiben, daher heißt die Parole: Überzeugen Sie sich der billigen Preise. Überzeugen Sie sich der geschmackvollen und guten Arbeit. Überzeugen Sie sich der reellen Bedienung. Sie werden sicher zufrieden sein und wieder kommen. Nach dem festgesetzten Termin gebrachte Schuhe werden nicht zum billigen Preis berechnet, darum eilen Sie. S. Salzmann Schuhsohlerei Kreuzstr. 22. Verarbeitung nur prima Kernleder.“
Am 20. November 1923 – die Rentenmark war bereits eingeführt und 1 Billion altes Papiergeld entsprachen 1 Rentenmark – erschien das Inserat: „Gratiswoche, 10% Rabatt. Vom 19.-24. November bekommen Sie die bei mir gekauften Gummisohlen und Absätze, prima Qualität, abzüglich 10%, gratis aufgemacht. Was biete ich Ihnen: Fachmännische und tadellose Arbeit! Keine Nässe! Rasche Bedienung! Haltbarkeit ebenso wie eine Kernsohle! Um mehr wie die Hälfte billiger als Ledersohlen! Ein Versuch und Sie zählen sich dauernd zu meiner Kundschaft. S. Salzmann Schuhsohlerei Kreuzstr. 22 nächst der höheren Töchterschule. Geöffnet 9-5.“
Im Volksfreund vom 26. März 1924 lesen wir: „Ich betone hiermit ausdrücklich, dass ich trotz den billigen Preisen nur gutes Material verwende. Durch billige Einkäufe bin ich dazu im Stande […]. Keine Maschinen-, sondern nur Handarbeit. Die große Zunahme meiner Kundschaft lassen die Zufriedenheit ersehen und ich würde auch denjenigen empfehlen, die von meiner billigen Besohlung noch nicht hatten, diese Woche von denselben aufmachen zu lassen und sie werden wiederkommen. S. Salzmann Schuhsohlerei Kreuzstr. 22. Geöffnet durchgehend von 9 bis 6 Uhr.“

Um 1933 eröffnete Samuel Salzmann seine Werkstatt unter neuer Adresse im Rückgebäude Markgrafenstraße 6. Eine Anzeige im Israelitischen Gemeindeblatt 1936 warb für die „Schuhbesohlungsanstalt Salzmann: Auf Wunsch werden Schuhe geholt und gebracht“. Unter der zunehmenden Naziwillkür hatten zu der Zeit alle von Juden geführten, kleinen Betriebe bereits einen schweren Stand. Statt der einstigen Maßanfertigung war nur die Schuhreparatur mit Hol- und Bringdienst geblieben.

Über Sohn Fischel wissen wir wenig. Er wurde nach Ende seiner Schulzeit in Karlsruhe Zahntechniker und arbeitete hier um 1923 in einem Zahntechnischen Labor, wo er auch seine spätere, nicht-jüdische Lebensgefährtin Cläre Medam kennenlernte.
Am 22. Oktober 1929 traf die Familie ein schweres Schicksal. In ihrem 22. Lebensjahr verstarb die Tochter Johanna. Ihr Vater hat den Todesfall laut Sterberegister selbst gemeldet, womit ein Gewaltverbrechen auszuschließen ist. Über die Ursache wissen wir nichts – denkbar ist eine Seuche wie die Tuberkulose, die damals zu relativ vielen Todesfällen auch unter Kindern und Heranwachsenden führte.
Fischel – nunmehr Fritz Salzmann – war um 1933/34 in Fischbach/Weierbach an der Nahe bei Idar-Oberstein als Dentist tätig. Er betrieb eine Art Landpraxis und suchte Patienten auch mit dem Motorrad auf. Die Zahnheilkunde durfte damals auch noch von Nicht-Akademikern ausgeübt werden, die aber eine umfangreiche Ausbildung und Prüfungen vorweisen mussten. Solche Heilberufe hatten bei seinen Vorfahren Tradition. So findet sich in einem Adresskalender des Bezirks Radom von 1893 unter „Ärzte, Apotheker“ die Unterrubrik „Assistenten/Barbiere/Chirugen“ in Iwaniska bei Opatów ein Abel Zalcman, vielleicht ein Verwandter...
Fischels Freundin Cläre Medam arbeitete als Assistentin in der Praxis. Seine Eltern waren mit der Beziehung nicht einverstanden – unverheiratet zusammenzuleben war damals nicht gesellschaftsfähig. Vom konfessionellen Hintergrund der Frau ist in Erinnerungen nicht die Rede. Cläre berichtete später, wie sehr sie die Ehe gewollt hatte, die aber nicht zustande kam – ihr Bräutigam hatte polnische Papiere, bekam Schwierigkeiten mit Nazibehörden und verließ sie schließlich. Sie sah Fischel nie wieder und heiratete nach dem Krieg einen anderen Mann.

Seine Schwester Rosel hatte die Volksschule in Karlsruhe besucht und strebte den Beruf der Säuglingspflegerin an. Sie spielte um 1935 in der Handballgruppe des Sportclubs Hakoah (sprich: „Hakóach“) und arbeitete als Kindermädchen und Hausgehilfin bei Familie Herbert Kaufmann in der Beiertheimer Allee 7, von Oktober 1935 bis Mitte April 1939.

Am 12. Dezember 1937 heirateten Jenny Salzmann und der Karlsruher Nachbarsjunge Szymon Przysucha, der wie seine Eltern aus Łódź gebürtig war.

Am 28. Oktober 1938 wurden etwa 60 erwachsene jüdische Männer aus Karlsruhe per Bahn über Mannheim nach Zbąszyń (Bentschen) an der polnischen Grenze abgeschoben, darunter Samuel Salzmann und Schwiegersohn Simon, aber nicht Fischel, der zum Zeitpunkt auswärts war. Vorausgegangen waren deutsch-polnische Auseinandersetzungen über die Aufenthaltsrechte aus Polen stammender Juden in Deutschland. Die unmittelbare Folge dieser „Polenaktion“ war das Attentat auf den deutschen Gesandten vom Rath durch Herschel Grynspan, das wiederum die Nazibehörden zum Anlass nahmen für die Novemberpogrome und nachfolgende Verhaftungen.
Mutter und Tochter blieben ohne Reisepass und damit als Staatenlose zurück. Das Geschäft in der Markgrafenstraße 6 wurde nach späterer Aussage von Zeuginnen in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstört. „Als ich an dem Geschäft vorbeiging, sah ich, dass alles offen stand. Innen war alles durcheinander“, so Rosa Rieger 1958. Sie hatte bei den Salzmanns jahrelang geputzt. Auch die Fensterscheiben waren eingeschlagen, so die Zeugin E. Birg. In der Werkstatt war bis zuletzt noch ein Geselle beschäftigt, Bernhard Huck, der bald nach dem Krieg verstorben ist.

Mutter Sara und Tochter Rosel wurden am 14. November 1938 bei einer „schlagartigen“ Kontrolle durch Sicherheits- und Ordnungspolizei um 6 Uhr früh in der Fasanenstraße 37 angetroffen (ITS Arolsen Gestapo Ordner 26, V.C.C. 155/XIII, in STAK 8/StS 34/136 Blatt 19).
Sara Salzmann erhielt im Mai 1939 die Aufforderung, das Deutsche Reich zu verlassen und reiste nach Łódź zu ihrem Ehemann, dem es demnach gelungen war, nach Polen einzureisen (etliche andere Karlsruher harrten im August 1939 immer noch in Zbaszyn aus, wie überlieferte Listen belegen). Rosel, die sich noch bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 in der Zähringer Straße 50 befand, verließ einige Wochen später auch Karlsruhe und fuhr nach Danzig zu ihrem Bruder Fischel und von dort noch im Sommer 1939 weiter zu den Eltern nach Łódź. Danzig/Gdansk wurde Ende August völkerrechtswidrig an das Deutsche Reich „angeschlossen“, was für Juden sofort erhöhte Gefahr bedeutete.

Anfang 1940, so gab Jenny Przysucha nach dem Krieg bei Gericht an, kam ein Brief von ihren Eltern mit der Ankündigung, sie müssten mit Rosel und Fischel von Łódź in das Generalgouvernement nach Radom übersiedeln.
Anfang April des Jahres wurden Jüdinnen und Juden im Radomer Ghetto festgesetzt, das in zwei Teilgebiete geteilt und zuvor von den bisherigen Bewohnern geräumt worden war. Die Salzmanns landeten im sogenannten Kleinen Ghetto, im Stadtteil Glinice.

Zwei Briefe aus Radom von 26. August bzw. 16. September 1940 sind erhalten, ohne Absenderanschrift, adressiert an die befreundete Familie Czelewitzky in New Rochelle, NY (USA). Der bereits 1917 mit 43 Jahren verstorbene Abraham Czelewitzky (auch: Zelewitzki) war Altwarenhändler („Getragene Kleider, Schuhe, Stiefel, Weißzeug, Möbel“) in der Karlsruher Markgrafenstraße 3, später 7. Die Witwe Esther und ihre Kinder erhielten offenbar die erwähnte Post aus Radom und leiteten sie an Jenny und Simon Przysucha nach Palästina weiter.
Die Briefe sind überwiegend in Rosels linkshändiger Schrift, z.T. im Namen der Eltern verfasst. Die 20-jährige schreibt den Freunden: „Meine Mutter ist nicht mehr so jung, darum muss ich zuhause sein. Ich hätte schon manches Mal eine Stelle annehmen können, aber ich bin ja noch die einzige daheim“. Sie lässt ihrer Schwester Jenny in Palästina ausrichten, dass sie gerne deren Baby Gideon hüten würde, so wie sie in Karlsruhe immer die anderen Kinder „rumgeschleppt“ habe. Rosels etwa 24-jährige Freundin Fela (Fajga) Lederman lässt nach ihrem lange vermissten Verlobten in Palästina fragen. Adressen werden in den Briefen – wohl aus Vorsicht – keine genannt. Aus der Palestine Gazette vom 10. Juli 1941 können wir entnehmen, dass Szymon Przysucha und ein Walter Neuman in der Prophets' Street 33 in Haifa ein Handelsgeschäft betrieben – in dieser Stadt wohnten sie wohl auch.
Rosel wendet sich im Brief an Schwester und Schwager: „Meine Lieben, was soll ich Euch schreiben. Wenn Ihr mich heute sehen würdet, würdet Ihr staunen. Aus mir ist ein ganz anderer Mensch geworden. […] Ich habe mir eingebildet, in Karlsruhe sei ich ein vollkommener Mensch gewesen. Nein, damals war ich gegen heute ein Kind“.

Sura Rywka und Tochter Rosa sowie eine 30-jährige Verwandte, Pesa Zalcman geborene Kochen, finden sich in mit Passbildern versehenen Ausweisanträgen vom 31. März 1941 (Staatsarchiv Radom, Bestand 58/387/0) an der Meldeadresse ul. Słowackiego 15, Rosels Freundin Fela unter der benachbarten Hausnummer 24. Rosels Beruf ist als „Schneiderin“ angegeben. Die meisten Anträge für Männer fehlen, so auch hier, so dass wir kein Bild von Samuel oder Fischel haben.

Auf einer von Fischel geschriebenen Postkarte vom 20. August 1941 aus der ul. Słowackiego 84 (etwa 1 km weiter südlich der früheren Adresse), wiederum an die Czelewitzkys, erwähnt er seine 20-jährige Frau, die er in Polen geheiratet hatte – wir erfahren ihren Namen nicht – und den am 27. April geborenen Sohn Gidon/Gideon. Er trug den gleichen Vornamen wie sein am 18. Januar 1940 geborener Vetter in Eretz Israel. Auch die Eltern und Schwester Rosel im gemeinsamen Haushalt werden erwähnt. Die Eltern waren bereits über 65, so dass sie und Rosel für den Lebensunterhalt wohl auf Fischels Einkünfte aus Zahnbehandlungen angewiesen waren: „Ich [arbeite] in meinem Beruf und habe sehr gut zu tun“.
Jenny Przysucha schrieb nach dem Krieg, dass die Nachricht aus Radom von August 1941 das letzte Lebenszeichen war (Aufgebotsverfahren Amtsgericht Karlsruhe 1956: Todeserklärung).

Das „Kleine Ghetto“ in Radom-Glinice umfasste etwa 4-5.000 Menschen, untergebracht in teils kleinen, oft älteren Häusern, zunächst ohne Umzäunung. Nicht-Juden war der Zutritt unter Strafe verboten. Die karge Versorgung war an Zwangsarbeit und die Meldeadresse geknüpft. Die Jungen und Arbeitsfähigen hätten nur untertauchen können, indem sie die Alten im Stich ließen – zweifellos keine Option. Es gab „Aktionen“, bei denen Menschen ohne Vorankündigung verschleppt wurden und willkürliche Erschießungen vorkamen.
Zwischen Spätsommer 1941 und Spätsommer 1942 sind Samuel, Sara-Rivka, Rosa, Fischel, seine Frau und das Baby Gidon in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis umgekommen, ebenso wohl auch die Verwandte Pesa und Rosels Freundin Fela.
Es ist möglich, dass zumindest ein Teil der Familie die Liquidierung des Kleinen Ghettos Radom erlebte. Fast ein Jahr nach ihrem letzten Lebenszeichen, am 4. August 1942, wurde das Gebiet umstellt, Arbeitsfähige wurden in das Hauptghetto verlegt, von den übrigen viele erschossen, der Rest zum Bahnhof getrieben und am 5. August in verriegelten Güterwagen nach Treblinka deportiert, wo vermutlich alle im Gas zu Tode kamen.

Über Familie Przysucha gibt es einen eigenen Beitrag im Gedenkbuch. Sie waren 1953 für einige Jahre aus Israel nach Karlsruhe zurückgekehrt, dann aber in die USA emigriert. Gidon Przysucha ist am 6. Oktober 2017 in Miami Beech, FL verstorben, sein Bruder Joseph Przysucha – selbst bereits Großvater – lebt (2020) in Kalifornien.

(Christoph Kalisch, Dezember 2020)


Quellen:

Generallandesarchiv Karlsruhe: GLA 480/22843, 24997, 25371 und 30149;
Stadtarchiv Karlsruhe: 1/AEST 36, 8/StS 34/136 (ITS Arolsen);
Stadtarchiv Villingen-Schwenningen: Akte 6210;
Staatsarchiv Radom (Polen): 58/387/0;
Werbeanzeigen im Israelitischen Gemeindeblatt Ausgabe B, im Karlsruher Tagblatt, in Badische Presse und im Volksfreund;
Statistisches Jahrbuch Baden und Württemberg 1914-1915, S. 93 [ https:*digital.blb-karlsruhe.de/blbihd/periodical/pageview/1285312 ]