Schweitzer, Berta

Nachname: Schweitzer
Vorname: Berta
Geburtsdatum: 1. September 1910
Geburtsort: Karlsruhe (Deutschland)
Familienstand: ledig
Familie: Mutter von Maria Hilda Rosa
Adresse:
Georg-Friedrich-Str. 18,
Degenfeldstr. 12,
Schützenstr. 84,
Douglasstr. 30,
Gerwigstr. 8,
Gerwigstr. 47
Beruf:
Krankenschwester
Deportation:
1.3.1943 von Stuttgart über Dortmund nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)

Biographie

Berta und Maria Hilda Rosa Schweitzer

Berta Schweitzer, jüngste Tochter der jüdischen Eheleute Markus Schweitzer und Fanny, geborene Kramasky, kam im Kleinkindalter zu katholischen Pflegeeltern in ihrer Geburtsstadt Karlsruhe. Sie wuchs hier auf, erlernte die Krankenpflege und kümmerte sich jahrelang um ihre alternde, zunehmend kranke Pflegemutter. Im März 1943 wurden Berta und ihre dreieinhalbjährige Tochter wegen ihrer jüdischen Herkunft deportiert und ermordet.

Der Vater, Markus (auch: Marx, Max) Schweitzer, geboren am 21. Juni 1875 in Heddernheim, heute Stadtteil von Frankfurt am Main, war ein Sohn des Jacob Schweitzer und der Johanna, geborene Bacharach.
Die Mutter, Fanny, mit Geburtsnamen verschiedentlich auch „Kramarsky“ geschrieben, geboren am 13. Februar 1870 im hessischen Altenstadt, Kreis Büdingen, war eine Tochter des Bär Kramasky und der Bertha, geborene Hirsch.

Berta Schweitzers Herkunftsfamilie geht aus dem Standesregistereintrag zu Fannys und Markus' Eheschließung 1899 in Frankfurt hervor. Der Vater des Bräutigams, der Kaufmann Jacob Schweitzer, war bereits in Straßburg verstorben. Seine Mutter Johanna lebte noch, sie findet sich auch im Frankfurter Adressbuch 1898, als „Wartfrau“. Der Vater der Braut, der Kaufmann Bär Kramasky, lebte zu diesem Zeitpunkt in Lübeck, ihre Mutter Bertha war bereits in Kassel verstorben.

Berta hatte mindestens drei Geschwister. Jacob, geboren am 1. Mai 1901 in Kassel, benannt nach dem Großvater väterlicherseits, war der älteste von ihnen.

Berta, benannt nach der Großmutter mütterlicherseits, kam am 1. September 1910 in Karlsruhe zur Welt. Ihre Eltern waren im Dörfle in der Markgrafenstraße 9/11 gemeldet, wohl nur für kurze Zeit zur Untermiete – im Adressbuch findet sich die Familie nicht.

Aus uns nicht bekannten Gründen – vielleicht durch eine schwierige Lage, in die ihre inzwischen alleinerziehende Mutter geriet – kam Berta als Kleinkind in eine Karlsruher Pflegefamilie: Franz Neudold (1865-1937), aus Philippsburg gebürtig, ursprünglich Polizeiwachtmeister („Schutzmann“) und wegen einer Arm- und Schulterverletzung im Dienst bereits seit 1906 im Ruhestand, war ihr Pflegevater. Seine Ehefrau Maria, geborene Kneller (1868-1944), aus Durlach gebürtig, Hausfrau und Mutter eigener Kinder, war ihre Pflegemutter.
Am 22. Oktober 1912 stellte der Pflegevater ein Beihilfegesuch: Er ist zeitweilig Privatportier und sucht immer wieder leichte Arbeit, die er leisten kann. Hier wird Berta das erste Mal in der Pflegefamilie erwähnt, „ein Pflegekind im Alter von zwei Jahren“. Der Antragsteller „erhält dafür im Monat 13 Mk.“.

Am 14. Juni 1913 kommt in der Badischen Presse (Abendblatt) eine Notiz über Bertas Pflegevater:
„Auch eine Ballon-Fernfahrt. Am 8. Juni, abends ½ 9 Uhr, ließ auf dem Meßplatz Herr Schutzmann Neudold in Gegenwart vieler Augenzeugen ein ingenieuses Luftfahrzeug steigen: vier zusammengekoppelte kleine Luftballons mussten eine Postkarte mit Adresse in die Weite tragen; dem unbekannten Finder wird darauf eine Belohnung zugesagt, wenn er die Karte in den nächsten Postkasten besorgt. Die Karte kam jetzt auch glücklich wieder zurück, und zwar trägt sie den Poststempel Neumarkt i. Oberbayern. Sie wurde am 9. Juni morgens 6 Uhr in St. Helena bei Neumarkt aufgefunden. Gewiß eine imposante Reise für ein so kleines luftiges Fahrzeug“. Die fast dreijährige Berta wird die Geschichte miterlebt haben...

Die Neudolds hatten vier eigene Kinder, zwischen 1891 und 1898 in Mannheim, Bruchsal und Pforzheim geboren: Julius (Postbote, 1916 im Lazarett an einer Kriegsverletzung gestorben); Hilda (Hausfrau und Mutter); Robert (Chauffeur, 1929 an den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben) und Arthur (als Baby gestorben). Das Auskommen der Familie war immer knapp, öfters liefen Schulden auf. Frau Neudold hatte Typhus durchgemacht, war schwerhörig und sah schlecht, so dass sie nicht arbeiten gehen konnte.

Bertas Vater Max Schweitzer befand sich spätestens 1916/1917 „beim Militär“. Auch beide Söhne der Neudolds und der Mann ihrer inzwischen verheirateten Tochter Hilda waren Stand 1915 „eingerückt“, so dass Hilda mit Kind Artur ebenfalls bei den Eltern Neudold wohnte.

Am 24. September 1916 wurde Berta in der katholischen Kirche Unserer Lieben Frau in der Karlsruher Südstadt getauft, was nur mit Zustimmung der leiblichen Eltern möglich gewesen sein kann. Als Bertas Vater wird im Taufbuch ein „Jakob Schweitzer, Handelsmann in Stuttgart“ genannt und das Kind als außerehelich („illegit.“) bezeichnet, im Widerspruch zur Geburtsurkunde. Jakob hießen Bertas lange vor ihrer Geburt verstorbener Großvater und ihr neun Jahre älterer Bruder, es handelt sich daher vielleicht um eine Verwechslung. Es kann aber auch bedeuten, dass Berta nach der Trennung des Ehepaars Schweitzer von einem anderen Mann gezeugt wurde – vielleicht einem Verwandten von Max Schweitzer. Dass Fanny und Max getrennte Haushalte führten, zeigt sich in den Stuttgarter Adressbüchern 1910 und 1911. Dort findet sich „Max Schweitzer, Handelsmann“ unter der Adresse Neue Brücke 4.3., daneben separat im Adressbuch 1910 „Schweitzer, Fanni, Handelsmanns Frau, Händlerin“ in der Sporerstraße 1.2, diese dann ähnlich auch in den Adressbüchern 1913 bis 1917 unter jährlich wechselnden Adressen, also bereits Jahre bevor Ehemann Max Schweitzer durch den Militärdienst abwesend war. Vielleicht hatten sich die getrennten Eheleute geeinigt, dass Max die kleine Berta anerkannte, obwohl sie einen anderen Vater hatte – das bleibt aber ungewiss.

Im Juni 1917 meldete sich Fanny Schweitzer für kurze Zeit in Aschaffenburg an. Aus dem dortigen Melderegistereintrag erfahren wir, dass sie als „Handelsfrau auf Messen und Märkten“ unterwegs war, zugezogen aus Stuttgart und wieder abgemeldet „auf Reisen“. Sie führte einen Wandergewerbeschein aus Stuttgart. Das von ihr selbst ausgefüllte Formular zeigt, dass sie nur mit Mühe des Schreibens mächtig war. Ihr ältester Sohn Jacob war inzwischen Friseurlehrling und noch bei der Mutter in Stuttgart gemeldet; zwei Geschwister, deren Namen in der Quelle unleserlich sind, geboren um 1903/1904, waren in Esslingen am Neckar gemeldet, Berta schließlich in Karlsruhe – das heißt wohl: alle drei in Pflege und nicht bei der Mutter.

In Bertas Kindheit wohnte ihre Pflegefamilie laut Adressbuch und Dienstakte in der Georg-Friedrich-Straße 18.H2, in der Degenfeldstraße 12.1 und in der Schützenstraße 84.H3, später in der Douglasstraße 30.H2, Gerwigstraße 8.4, dann ab den frühen 1920ern schließlich in der Gerwigstraße 47.5. Die Dachwohnung im 5. Stock (4. OG) rechts bestand aus zwei Zimmern und Küche, das Haus Ecke Humboldtstraße gehörte dem Wirt des Gasthauses Zum Hasen parterre.

Im Januar 1920 stellte Franz Neudold einen Antrag auf Kinderbeihilfe für Berta. Das Finanzministerium fragte darauf nach den unterhaltspflichtigen Kindeseltern und deren finanziellen Verhältnissen. Die Antwort ist nicht überliefert. Auch wenn die leiblichen Eltern zahlten, waren sie vermutlich so arm, dass es nicht reichte.

Berta ging in jenen Jahren auf eine Volksschule in Karlsruhe, vermutlich die Uhlandschule, in deren Nähe die Familie zunächst wohnte.

Das Stuttgarter Adressbuch 1918-1920 nennt „Schweitzer, Fanni, Handelsmanns Frau, Kurz-, Galanteriewaren und Obsthandlung“ mit Adresse Rote Straße 4, parterre und 2.Stock. Die Ehe von Fanny und Max Schweitzer wurde 1922 standesamtlich geschieden. Bis zum Adressbuch 1926 ist Fanny ohne Geschäftsadresse noch in Stuttgart nachweisbar, danach wohl wieder nach Hessen gezogen.

1934 wird in der Dienstakte von Franz Neudold erwähnt, dass nicht nur die verwitwete Tochter Hilda mit ihrem Sohn sowie Berta Schweitzer bei den Neudolds wohnten, sondern noch eine weitere Pflegetochter, Irmgard Brucker, 12 Jahre – also fünf Erwachsene und ein Kind in einer 2-Zimmer-Wohnung! Von Berta heißt es im selben Jahr: „Pflegetochter seit 7 Jahren erwerbsunfähig krank“, und dass sie arbeitslos sei. Woran sie litt, erfahren wir nicht. 1937 verstarb Franz Neudold, damit wurde die Lage der Familie noch prekärer.

Bertas Bruder Jacob wurde wie seine Mutter Schausteller und lebte in Stuttgart, später in Frankfurt am Main. Mit seiner nicht-jüdischen Ehefrau Rosa, geborene Schmid, hatte er sechs Kinder. Am 13. Juni 1938 wurde Jacob in der sogenannten Juni-Aktion (im Nazijargon auch als „Aktion Arbeitsscheu Reich“ bezeichnet) als „Asozialer“ in das KZ Buchenwald bei Weimar eingewiesen und erst am 1. April 1939 wieder entlassen. Noch im Sommer 1939 konnte die Familie nach Shanghai emigrieren. Von Jacobs 1936 geborenem Sohn Dagobert (David) wissen wir, dass er über Italien nach Palästina gelangte und später im Kibbuz Ayelet Hashahar gelebt hat.

Mutter Fanny, verheiratete Levi, ist im April 1939 mit ihrem neuen Ehemann, dessen Vornamen wir nicht kennen, vom hessischen Altenstadt in die Niederlande emigriert. Auf ihren geschiedenen Mann Max (Markus) fehlt nach den 1920er Jahren jeglicher Hinweis, er ist vermutlich vor der Shoa verstorben.

Bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 wurde Berta mit Maria Neudold in der Gerwigstraße 47.5 angetroffen. Auf der Ergänzungskarte für Haushalte mit jüdischen Mitgliedern hat der Haushaltsvorstand, also Frau Neudold, zur Abstammung von Bertas Großeltern väterlicherseits keine Angaben gemacht, was wiederum die Identität von Bertas Vater unklar erscheinen lässt. Falschangaben an dieser Stelle waren strafbar, daher deutet dies auch darauf hin, dass Max Schweitzer nicht Bertas leiblicher Vater gewesen sein dürfte.

Seit dem Tod von Franz Neudold geriet die Familie weiter wirtschaftlich in Bedrängnis, die Witwe war laut Akte schwer herz- und nervenleidend, hatte Asthma und Rückgratverkrümmung: „Bin nicht in der Lage, meinen kleinen Haushalt selbst zu besorgen, bin daher vollständig auf die Pflege und Versorgung meiner Pflegetochter angewiesen, welche mich […] Tag und Nacht betreut“, so heißt es im August 1939 in einem Antrag auf Beihilfen. Dass Berta hochschwanger war, wird nicht erwähnt.

Bertas Tochter Maria Hilda Rosa kam am 31. August 1939, einen Tag vor Kriegsbeginn, in Karlsruhe zur Welt. Der Vater, wohl nicht-jüdisch, wurde sicherlich wegen der Nürnberger Gesetze und der ihm dadurch drohenden Verfolgung nicht genannt und ist uns daher unbekannt.

Im Januar 1940 beantragte Frau Neudold weitere Hilfen, „...da ich schon seit Jahren schwer erkrankt bin […] und von meiner Pflegetochter betreut werde, die Pflegerin ist“. Das heißt, dass Berta entsprechende Krankenpflegekurse absolviert hatte. Da sie laut ihrer Pflegemutter seit etwa 1927 arbeitsunfähig krank war und ab 1933 der antijüdischen Gesetzgebung unterlag, muss sie die Ausbildung schon bald nach Ende der achtjährigen Volksschule, um 1925/26 absolviert haben. Naheliegend wäre dafür das St. Vincentius-Krankenhaus als katholische Ausbildungsstätte.

Im Oktober 1940 wurden Berta Schweitzer und ihre Tochter nicht nach Gurs verschleppt, entweder, weil sie nicht „transportfähig“ waren oder weil diese gewaltsame Abschiebung auf „Volljuden“ zielte, also Menschen mit vier jüdischen Großeltern, als die möglicherweise beide nicht galten.

Auf der etwa Ende 1940 entstandenen Gestapoliste der nicht nach Gurs Deportierten aus Baden in der Loebl Collection steht Berta – seltsamerweise ohne ihre Tochter - mit ihrer Anschrift, „Gerwigstr. 47 bei Neudold“. Auch in der erwähnten Neudold-Akte ist Bertas Kind nie erwähnt. Vielleicht sollte Aufsehen vermieden werden – uneheliche Kinder wurden damals im besten Fall bemitleidet, eher ausgegrenzt, die Beteiligten gerieten an den Rand der Gesellschaft.

Am 1. März 1943 sollten auf Gestapobefehl zwölf der wenigen noch verbliebenen Juden aus Karlsruhe, Heidelberg und Mannheim deportiert werden, davon aus Karlsruhe sieben. Laut Schreiben des Karlsruher Vertreters der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Karl Eisemann, waren zum Termin von den Karlsruhern drei Personen – Mutter und Töchter Arndt – „verschwunden“. Tatsächlich waren alle drei untergetaucht und überlebten von Rettern versteckt in Oberbayern (siehe Gedenkbucheintrag zum ermordeten Vater Ernst Arndt). Unter den schließlich Deportierten befand sich aus Karlsruhe noch Berta Schweitzer, ihr dreieinhalbjähriges Töchterchen Maria und der 1892 geborene, legendäre Fußballspieler und Weltkriegsveteran Julius Hirsch. Die Deportation vom 1. März ist bis heute nicht sicher rekonstruierbar. Sie ging entweder über Stuttgart, dann weiter über Trier, Düsseldorf usw. oder direkt zum Sammelpunkt nach Dortmund, wo viele Menschen aus Südwest- und Westdeutschland hinzukamen, meistenteils durch Razzien der sogenannten „Fabrikaktion“.

Am 3. März erreichte der Transport mit etwa 1000 Personen Auschwitz-Birkenau. Berta und Maria kamen, wie fast immer Mütter mit kleinen Kindern, nach Ankunft sofort in der Gaskammer zu Tode.

Wenige Tage später, am 10. März 1943, wurde Bertas Mutter Fanny, zuletzt in Amsterdam gemeldet, von Westerbork nach Sobibor verschleppt, wo auch sie sofort ermordet wurde.

Am 24. Mai 1944 verstarb Maria Neudold, das Haus in der Gerwigstraße wurde im Luftkrieg schwer beschädigt; das Dachgeschoss mit Neudolds ehemaliger Wohnung stürzte im Januar 1948 ein.

An Berta und Maria Hilda Rosa Schweitzer erinnert der Gedenkstein auf dem Karlsruher Hauptfriedhof.


(Christoph Kalisch, im November 2022)

Quellenhinweise:

• Standesamt Frankfurt I (mit Bornheim) Heiratsregister (Einträge 2430-2657) 29.11.1899-29.12.1899. InstStadtGesch Ffm Best. STA 11 / 272, 1899
https:dfg-viewer.de/show?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&tx_dlf%5Bid%5D=https%3A%2F%2Fdigitalisate-he.arcinsys.de%2Fhstam%2F903%2F9595.xml&tx_dlf%5Bpage%5D=22&cHash=ed1c8d7d317fc73fd45709f8185a4345
• Staatsarchiv Freiburg F 75/6 Nr. 3312 Personalakte Franz Neudold (9.3.1865-23.1.1937)
• Erzbischöfliches Archiv der Erzdiözese Freiburg, Duplikate der Taufbücher
• Schreiben Karl Eisemann in HStA Stgt, EA 99/001 Bü 258, 1 Bü vgl. hierzu Oberrat der Israeliten Badens Schriftwechsel 1942 – 1943
• Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, SBZ I Meldeunterlagen Aschaffenburg 0346 Lfdnr. 998 (Aufenthaltsanzeige) https:
www.stadtarchivweb.aschaffenburg.de/Program%20Files/showimg/showimg.php?bild=ssaa~2~sbz%201$3205
• Deportationslisten 1. März 1943 http:*statistik-des-holocaust.de/list_ger_swd_43a.html