Stern, Johanna
Nachname: | Stern |
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Vorname: | Johanna |
abweichender Vorname: | Hanna |
geborene: | Löwenstein |
Geburtsdatum: | 18. Februar 1862 |
Geburtsort: | Laudenbach (Deutschland) |
Familienstand: | verwitwet |
Familie: | Witwe von Nathan S. (1857-1927);
Mutter von Jakob (13.4.1888-1942), Simon (gest. 1928), Therese Vollweilerund Lina Vollweiler, beide geb. St. |
Biographie
Theodor und Therese Vollweiler, Ferdinand und Lina Vollweiler; Johanna Stern
Sie waren unzertrennlich, bis in den Tod: die Schwestern Therese und Lina Stern aus Olnhausen und für viele Jahre auch die Brüder Theodor und Ferdinand Vollweiler aus Berwangen.
Theodor Vollweiler wurde am 14. August 1880, Ferdinand Vollweiler am 13. Oktober 1881 in Berwangen geboren. Die Eltern waren Wolf und Hannchen Vollweiler, geborene Schlessinger. Wolf Vollweiler war – wie schon sein Vater Isaak – Viehhändler.
Die Familie Vollweiler lässt sich in Berwangen, einem badischen Bauerndorf im Kraichgau, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisen. Theodor und Ferdinand waren bereits die fünfte Generation. Berwangen hatte damals etwa 1000 Einwohner und mit 15 Prozent einen relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Heute ist Berwangen Ortsteil der Gemeinde Kirchardt und gehört zum Landkreis Heilbronn.
Theodor und Ferdinand Vollweiler besuchten in Berwangen die jüdische Volksschule und danach eine dreijährige Höhere Bürgerschule, mutmaßlich in Sinsheim. In die beruflichen Fußstapfen des Vaters zu treten, hatten beide offensichtlich keine Neigung. Beide erlernten den Beruf des Kaufmanns, was allerdings in Berwangen nicht möglich war. Sie werden ihre Ausbildung außerhalb von Berwangen erfahren haben – vermutlich bei einem Verwandten, wie es damals üblich war.
Ferdinand Vollweiler finden wir im Jahre 1904, vielleicht auch schon früher, in Wittlich wieder, heute Kreisstadt Wittlich-Bernkastel in Rheinland-Pfalz. Von Wittlich kam er am 1. Oktober 1904 nach Bühl in Baden. Am 1. Januar 1907 zog er nach Frankenthal in der Pfalz und blieb dort zweieinhalb Jahre. Im Juli 1909 kam er wieder zurück nach Bühl. Dies waren seine ‚Wanderjahre’ als Reisender oder selbständiger Handelsvertreter.
Theodor Vollweiler kam im September 1909 von Berwangen nach Bühl. Welchem Gewerbe er wo bis dahin nachgegangen war, konnte nicht nachgewiesen werden. Im Rückschluss von der späteren Tätigkeit in Karlruhe kann davon ausgegangen werden, dass die Brüder in Bühl zusammen ein Geschäft betrieben.
Die Schwestern Stern besuchten die örtliche Volksschule in Olnhausen und danach die dreijährige Höhere Bürgerschule in Sinsheim. Eine Berufsausbildung hatten sie nicht.
Am 1. Dezember 1910 heirateten Theodor Vollweiler und Therese Stern – wie es damals üblich war mit Ehevertrag – in Olnhausen. Sie lebten nach der Heirat in Bühl, wo auch am 21. Januar 1913 die ältere Tochter Irene geboren wurde.
Ferdinand Vollweiler und Lina Stern heirateten – auch mit Ehevertrag – am 20. Juni 1912 in Olnhausen, danach lebten sie in Bühl. Die Ehe blieb kinderlos.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Brautleute sich vor der Hochzeit nicht kannten, es werden „arrangierte“ Ehen gewesen sein, wie damals weitgehend üblich. Vielleicht kannten sich die Väter – als Viehhändler kamen sie viel und oft auch weit herum und hatten somit Gelegenheit, nach Braut und Bräutigam für ihre heiratsfähigen Söhne bzw. Töchter Ausschau zu halten. Vielleicht waren diese Ehen aber auch das Werk eines ‚Schadchens“, eines professionellen jüdischen Heiratsvermittlers.
Am 17. März 1915 zogen beide Familien nach Karlsruhe. Unter der Firmierung Gebrüder Vollweiler betrieben sie in der Vincentiusstraße 9a ein Manufakturwarengeschäft. Hier wohnten sie auch. 1918 zogen sie in die Südendstraße 27. Das Geschäft betrieben sie jedoch weiterhin in der Vincentiusstraße.
Am 22. November 1918 wurde dem Ehepaar Theodor und Therese Vollweiler die zweite Tochter, Ruth, in Karlsruhe geboren.
Allem Anschein nach blieb den Brüdern Vollweiler der Militärdienst im Ersten Weltkrieg erspart. Die „Unzertrennlichkeit“ der Ehepaare Vollweiler zeigte sich auch in ihren Vereinsmitgliedschaften: Theodor und Ferdinand Vollweiler waren Mitglied im Israelitischen Männerverein und Mitglied im Armenunterstützungsverein Malbisch Arumim, die Ehefrauen waren Mitglied im Israelitischen Frauenverein.
Im Jahre 1921 finden wir beide in einem völlig anderen Gewerbe, das die Firma Gebrüder Vollweiler betrieb: Zigarrenfabrik, Firmenadresse Südendstraße 27. Das Manufakturwarengeschäft existierte nicht mehr. Da dieses Gebäude für eine Zigarrenfabrikation nicht geeignet war und auch sonst keinerlei Hinweise auf andere Fabrikationsräume gefunden werden konnten, liegt die Vermutung nahe, dass die Brüder Vollweiler Zigarren im Lohnbetrieb in einer bestehenden Zigarrenfabrik herstellen ließen, den Verkauf aber selbst vornahmen.
Irgendwie scheint dieses Geschäft aber nicht recht erfolgreich gewesen zu sein, denn bereits 1925 finden wir keinen Eintrag mehr für eine Zigarrenfabrikation, stattdessen lag die Erwerbstätigkeit beider als freie Handelsvertreter im so genannten Weißwaren- und Ausstattungshandel (Bett- und Tischwäsche etc.), die Kunden waren vorzugsweise Krankenhäuser, Anstalten aller Art, Heime, Hotels, Institute. Sie arbeiteten für den Schwager Jakob Stern (geboren 13. April 1888), ältester Bruder der Ehefrauen, der in Berlin eine Großhandlung in dieser Branche betrieb.
Am 1. Dezember 1925 zogen Ferdinand und Lina Vollweiler in die Karlstraße 102 in eine große Sechszimmer-Etagenwohnung. Das Geschäft florierte, sie konnten es sich leisten, auch eine entsprechende komfortable Wohnungseinrichtung wurde angeschafft. In dieser Wohnung blieben sie bis zu ihrer Deportation im Oktober 1940.
Am 15. Dezember 1925 zogen die Eltern von Lina Vollweiler, Nathan und Johanna Stern von Olnhausen kommend mit in diese Wohnung. Nathan Stern hatte seinen Beruf als Viehhändler altershalber aufgegeben, er war nun Privatier. Der jüngere Sohn, Simon, geistig behindert, war gut in einer Heil- und Pflegeanstalt in Weinsberg untergebracht, wo er im August 1928 starb. Nathan Stern konnte sich jedoch seines Privatier-Daseins nicht lange erfreuen: am 8. September 1927 starb er in Karlsruhe.
Theodor und Therese Vollweiler wohnten weiterhin in der Südendstraße 27. Im Jahre 1935 finden wir die Familie Vollweiler in der Wohnung des Bruders Ferdinand, was Anlass zu der Vermutung gibt, dass sie als Juden ihre Wohnung hatten verlassen müssen. Danach fanden sie eine große Wohnung in der Leopoldstraße 34, die sie bis zur Deportation im Oktober 1940 bewohnten.
Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 durch die Nationalsozialisten mit SA-Posten an jedem Geschäft, ging Jakob Stern mit seiner Frau Irma, geborene Rosenberger nach Frankreich und ließ sich in Paris nieder. Er ahnte wohl nach den persönlichen Erfahrungen mit dem Boykott, was auf die Juden in Deutschland zukommen würde. Unter großen Mühen baute er sich in Paris wieder ein Geschäft auf.
Theodor und Ferdinand Vollweiler arbeiteten nun als Handelsvertreter für die gleichen Herstellerfirmen der verschiedenen Erzeugnisse – solange dies noch möglich war: am 6. Juli 1938 wurde Juden die Handelsvertreter-Tätigkeit verboten. Aber schon lange zuvor, „schleichend“ seit der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933, war die Geschäftstätigkeit von Theodor und Ferdinand Vollweiler weniger und weniger geworden, sie hatten die eine oder andere Vertetung verloren, Kunden wollten nicht mehr von Juden kaufen, öffentlichen Anstalten war es untersagt, Aufträge an Juden zu vergeben. Die Nazi-Parole „Kauft-nicht-beim-Juden“ hatte Erfolg.
Theodor und Ferdinand Vollweiler lebten mehr und mehr, nach dem 6. Juli 1938 vollends, von ihren Ersparnissen. 1939 musste Theodor Vollweiler deshalb eine Lebensversicherung bei der ÖVA (Öffentliche Versicherungsanstalt Badischer Sparkassen) zurückkaufen.
Die Töchter von Theodor und Therese Vollweiler besuchten die Volksschule in der Südendstraße, Irene von 1919 bis 1923, Ruth von 1925 bis 1933, Irene danach sechs Jahre das Fichte-Gymnasium und dann von 1929 bis 1931 die private Handelsschule Hansa in Karlsruhe.
Irene Vollweiler arbeitete nach ihrer Schulzeit von 1931 bis 1933 beim Jüdischen Wohlfahrtsverband in Karlsruhe als Kanzleikraft, von Januar 1934 bis August 1938 war sie tätig als Sekretärin im Bankhaus Straus & Co in Karlsruhe. Als die Bank in „arische Hände“ überging, wurde sie entlassen. Eine neue Stelle fand sie nicht mehr.
Ruth Vollweiler absolvierte nach der Schule eine kaufmännische Lehre bei der Firma K.L. Stern und Sohn, Sattler- und Polstereibedarf und Ledergroßhandel, Erbprinzenstraße 11. Nach der Lehre war sie noch zwei Jahre als Bürokraft dort tätig, bis die Firma liquidieren musste.
Am 25. Februar 1937 gebar sie – unehelich – in Twistringen bei Bremen im dortigen Krankenhaus den Sohn Wolfgang, von dem noch die Rede sein wird.
Irene Vollweiler lernte in Karlsruhe den Brauer Karl Strauß, geboren am 5. Oktober 1912 in Minden/Westfalen kennen und heiratete ihn am 31. Januar 1939 in Karlsruhe. Karl Strauß hatte in der Folgezeit eine große Bedeutung für die Vollweilers, deshalb soll auf ihn hier näher eingegangen werden.
Karl Strauß hatte 1931 in Minden sein Abitur abgelegt. Sein Vater, Albrecht Strauß, war dort Brauerei-Direktor der Feldschlößchen-Brauerei. Das Bierbrauen faszinierte Karl Strauß und so studierte er Brauereiwissenschaft an der TH München, Abteilung Weihenstephan. Die ersten beiden Stufen der Ausbildung, Vor- und Hauptprüfung zum Braumeister, absolvierte er 1932 und 1933 mit sehr gut, den dritten Teil, die Ingenieur-Ausbildung und –Prüfung konnte er nicht mehr absolvieren, weil er Jude war. Eine Anstellung als Braumeister konnte er jedoch nicht finden, weil mit der Meisterstelle auch das Recht auf Ausbildung von Lehrlingen verbunden war, Juden jedoch die Ausbildung – „arischer“ – Lehrlinge verboten war. Deshalb versuchte er branchenfremd Geld zu verdienen, erst in Minden, seinem Heimatort, danach in Hannover. Durch eine Anzeige der jüdischen Firma S. Blum Söhne, Baumeisterstraße 3 in Karlsruhe, Glas- und Porzellangroßhandel, in einer israelitischen Zeitung, die einen Geschäftsführer suchte, kam er Ende 1935 nach Karlsruhe und wohnte hier in der Gartenstraße 9 zur Untermiete. Die Branchenkenntnisse hatte er sich bei seinen Anstellungen in Minden und Hannover angeeignet.
Bei der Firma Blum arbeitete er vom 1. Januar 1936 bis zum 17. August 1938, zu diesem Zeitpunkt ging die Firma in „arische Hände“ über und hieß von da ab Peter Beuscher KG. Karl Strauß konnte glücklicherweise seine Stellung bei dem neuen Eigentümer behalten, er übte diese bis Ende 1938 aus, dann wurde auch er entlassen, weil Juden bei „arischen“ Firmen nicht mehr beschäftigt werden durften.
Als in ganz Deutschland in der Nacht vom 9./10. November 1938 die Synagogen brannten und die Karlsruher Juden nahezu vollständig in das KZ Dachau verfrachtet wurden, befand er sich gerade auf einer Geschäftsreise in Bayern, so blieb ihm Dachau erspart; übrigens auch Theodor und Ferdinand Vollweiler, wahrscheinlich altershalber.
Ihm war längst klar geworden, dass seine berufliche Zukunft nicht mehr in Deutschland lag. Er betrieb daher seine Auswanderung in die USA. Ein Bekannter seines Onkels hatte ihm eine Stelle bei der – auf deutsche Wurzeln zurückgehende – seit 1844 in Milwaukee/Wisconsin ansässigen Brauerei Pabst besorgt, das für die Einreise obligatorische Affidavit (eine Art finanzieller Bürgschaft für den Aufenthalt in den USA) erhielt er von Verwandten in den USA.
Bereits am 25. Februar 1939 konnte er mit dem Schiff „SS Manhattan“ von Hamburg nach New York fahren, am 3. März 1939 kam er dort an. Bereits am 11. Mai 1939, wenig mehr als zwei Monate später fing er bei der Brauerei Pabst an, allerdings ‚ganz unten’ auf der Karriereleiter als Arbeiter, aber er verdiente wenigstens Geld. Mit großen Anstrengungen und vielen Entbehrungen, konnte er sich von Stufe zu Stufe bis zum Technischen Direktor der Brauerei hoch arbeiten, eine Position, die er in Deutschland ohne Judenverfolgung schon zehn Jahre früher hätte erreicht haben können.
Währenddessen hatte er sich mit aller Kraft bemüht, seine Frau aus Deutschland heraus zu bekommen. Da ihr Ehemann bereits in den USA lebte, fiel sie nicht unter die Auswanderer-Quotenregelung. Am 21. September 1939 war sie zum US-Generalkonsulat nach Stuttgart bestellt worden, um sich dort ihr Visum abzuholen. Die Schiffspassage war von ihr bereits vor Kriegsausbruch in Reichsmark an die Holland-Amerika-Linie für eine Passage auf der „Neu-Amsterdam“ bezahlt worden. Mit Kriegsausbruch wurde dieses Schiff aus dem Überseedienst zurückgezogen, das Reiseticket war damit ungültig. Zwar wurde das Geld zurückgezahlt, aber sie musste neu buchen, wodurch sich die Reise verzögerte, und die Neubuchung musste in US-Dollar bezahlt werden. Karl Strauß übernahm die Bezahlung, was ihm sehr schwer fiel, denn er hatte doch erst vor wenigen Monaten seine neue Stelle angetreten und verdiente als Arbeiter auch nicht viel. Endlich gelangte sie von Rotterdam mit dem Schiff „SS Straatendam“ nach New York und kam dort am 3. November 1939 an. Die Freude für sie und ihren Mann war unbeschreiblich.
Als sie zur Ausreise nach Holland fuhr, hatte sie am Grenzübergang ein schlimmes Erlebnis: sie wurde im Warteraum von deutschen Grenzsoldaten körperlich misshandelt (gestoßen und geschlagen), ihr Koffer wurde stark beschädigt. Dieses Erlebnis wurde für sie später zum Posttrauma, an dem sie ständig litt und wodurch sie nach nur vierjähriger Arbeitstätigkeit in den USA dauerhaft arbeitsunfähig wurde.
Ruth Vollweiler emigrierte – eigentlich war es eine Flucht – im August 1938 nach Belgien. Warum? Und warum Belgien? Das bleibt im Dunkeln. Ihren Sohn Wolfgang ließ sie bei den Großeltern in Karlsruhe, sie waren die Ersatzeltern für die nächsten Jahre. Einmal schrieb Therese Vollweiler ihrer Tochter Irene, das war schon 1940, der kleine Wolfgang habe sich vor den Spiegel im Schlafzimmer gestellt und zu ihr gesagt: „Ich bin ein schöner Bub, Mama!“ Großmutter und Großvater waren Mama und Papa für den Kleinen.
Da Ruth Vollweiler keine kaufmännische Stelle in Belgien finden konnte, arbeitete sie als Haushaltsgehilfin bei einem älteren Ehepaar in Brüssel für Verpflegung, Unterkunft und ein kleines Taschengeld. Im März 1942 fand sie Unterschlupf in einem Altersheim in Brüssel in der Rue de Glaciere. Auch hier arbeitete sie nur für Verpflegung, Unterkunft und Taschengeld. Dort lernte sie Mendel Rebhuhn kennen, der auch dort arbeitete. Sie kannten sich nur wenige Tage und heirateten am 11. März 1942 in Brüssel. Die Not der Verfolgung mochte sie zu diesem Schritt gedrängt haben.
In diesem Altersheim konnten sie – beinahe ein Wunder zu nennen – die Zeit der deutschen Besatzung und der Judenverfolgung überleben. Erst nach der Befreiung Belgiens und Frankreichs durch die Alliierten konnte Ruth Rebhuhn, wie sie nun hieß, ihren Sohn Wolfgang, der inzwischen den Namen Roger erhalten hatte und sieben Jahre alt war, wieder in die Arme schließen. 1947 konnte sie mit Mann und Sohn in die USA auswandern, Anlaufstelle war Karl Strauß in Milwaukee. Aus dem Namen Rebhuhn wurde bei der Einwanderung der Name Rebbun, weil der Beamte der Einwanderungsbehörde den Namen nicht richtig schreiben konnte, so Karl Strauß.
Die Geschichte von Mendel Rebhuhn, der sich später Jakob und in den USA James nannte, ist so spektakulär, dass sie hier gerafft wiedergegeben werden soll. Er war am 30. September 1906 in Krzeszowice in Galizien, nahe Krakau und Auschwitz geboren. In den 20er Jahren war er nach Deutschland gekommen, hatte Bankkaufmann gelernt und in Hannover gearbeitet. Im Juni 1939 sollte er – mit ca. 100 anderen polnisch-stämmigen Juden – im Zuge der so genannten „Judenbereinigung“ von Hannover nach Polen abgeschoben werden. Da er jedoch keine polnischen Papiere besaß, verweigerten die Polen an der Grenze den Grenzübertritt, er kehrte nach Hannover zurück.
Er hatte zwar vom US-Konsulat in Hamburg die sehr niedrige Quotennummer 1683, datiert vom 22. Oktober 1938, aber eine Auswanderung in die USA konnte gleichwohl nicht realisiert werden. Er beschloss daher nach den Erfahrungen der Polenabschiebung mit anderen Juden illegal über die Grenze nach Belgien zu fliehen. Über einen Schlepper, dem sie viel Geld für die damaligen Verhältnisse zahlen mussten, fuhr die Gruppe von Köln im offenen Lkw mit wehender SS-Standarte, eskortiert von zwei in SS-Uniform gekleideten Männern an die belgische Grenze, dort führte sie jemand über die Grenze nach Belgien.
Am 22. Oktober 1940 wurden die badischen und saarpfälzischen Juden in einer Blitzaktion nach Gurs in Südfrankreich deportiert, auch Theodor und Therese Vollweiler, mit ihnen der gerade dreijährige Wolfgang Vollweiler, der bei seinen Großeltern lebte, ferner Ferdinand und Lina Vollweiler und die bei ihnen lebende Mutter Johanna Stern – mutmaßlich, so jedenfalls die Historiker, von dem badischen Gauleiter Robert Wagner initiiert, der wegen seiner Verbrechen als Chef der Zivilverwaltung im Elsaß von einem französischen Kriegsgericht nach dem Kriege zum Tod verurteilt und am 14. August 1946 in Straßburg hingerichtet wurde.
Gurs war – wegen der unsäglichen Lebensbedingungen von Überlebenden später so bezeichnet – die „Vorhölle von Auschwitz“: die Menschen, vor allem die Alten, starben zuhauf, allein in den Wochen bis Ende Dezember 1940 fast 500, das waren im Tagesschnitt sieben (!) – an Entkräftung wegen völlig unzureichender Ernährung und wegen der katastrophalen hygienischen Bedingungen.
Das erste Opfer der Familie war Johanna Stern, sie starb in Gurs am 16. Dezember 1940, gerade acht Wochen nach Eintreffen im Lager, 78-jährig.
Wenige Tage danach besuchte Jakob Stern, der Bruder von Therese und Lina Vollweiler, seine Angehörigen in Gurs, seine Mutter konnte er nicht mehr in die Arme schließen.
Jakob Stern musste seine Wohnung in Paris im Mai 1940 auf der Flucht vor den Deutschen von einem zum anderen Tag verlassen; er floh mit seiner Frau in die unbesetzte Zone nach Südfrankreich nach Le Cheyland, Departement Ardeche, nahe Valence und lebte dort in einem kleinen Hotel.
Am 10. März 1941 wurden beide Vollweiler-Familien und der kleine Wolfgang nach Rivesaltes nahe Perpignan gebracht, zusammen mit vielen anderen Deportierten aus Gurs. Alle erhofften sich hier bessere Lebensbedingungen – eine Hoffnung, die allerdings trog. Die Lebensbedingungen waren nahezu genau so schlimm wie zuvor, nur das Wetter war besser, es regnete nicht so oft und so viel, und die Baracken waren aus Stein und hatten Fenster, nicht nur Dachluken wie in Gurs.
Karl und Irene Strauß sparten jeden Cent, um ihren Angehörigen im Lager, insbesondere Irenes Eltern Geld zu schicken, mit dem sie sich mancherlei notwendige Dinge kaufen konnten (im Lager gab es für Geld fast alles). Erstaunlicherweise kam das Geld auch fast immer an. Sie schickten auch kleinere Lebensmittelpakete über die Quäker-Organisation via Portugal. Was wäre wohl ohne diese materielle Hilfe geworden?!
Vielleicht noch wichtiger für die im Lager Eingesperrten war jedoch die permanente Kommunikationsmöglichkeit mit ihren Lieben in den USA. Das gab ihnen Kraft zum Leben, jedenfalls für ein Weilchen.
Trotz dieser Hilfe blieb Theodor Vollweiler nicht mehr lange am Leben. Er starb nach achttägigem Krankenlager am 9. Juli 1941 in der Krankenstation im Lager Rivesaltes an Erschöpfung. Er sagte noch zu seiner Frau Therese auf dem Sterbebett: „Ich muss sterben und sehe meine Kinder nicht mehr.“
Alle Briefe zeigten ein Gottvertrauen vor allem von den beiden Frauen Therese und Lina Vollweiler, und waren geprägt von großer Liebe und steter Sorge um das Wohlbefinden von Tochter und Schwiegersohn bzw. Nichte und Neffe. Therese Vollweiler wünschte ihren Kindern in den USA auch innigst ein Kind: „... ich hätte doch so gerne ein kleines ‚Sträußchen’, ich liebe doch die Kleinchen so sehr.“ Nicht ein einziges Mal führten sie Klage über die unsäglichen Lebensbedingungen (wozu auch die lästige Floh-Plage gehörte). Auch über Krankheiten wurde nur am Rande berichtet. Fast alle Lagerinsassen kamen früher oder später ein oder mehrmals in die Krankenstation oder sogar ins Krankenhaus in Perpignan.
Am 24. Februar 1942 starb auch Ferdinand Vollweiler nach langem Krankenlager in Rivesaltes, wie schon im Jahr zuvor sein Bruder Theodor an völliger Erschöpfung.
Im Oktober 1941 wurde der kleine Wolfgang, inzwischen viereinhalb Jahre alt, bei der jüdischen Kinderhilfsorganisation OSE (Oevre pour le Secours des Enfantes) für eine Unterbringung in einem OSE-Heim angemeldet. Am 24. April 1942 wurde er aus dem Lager von OSE-Aktivisten mitgenommen und zu einer Bauernfamilie gebracht, wo er überlebte. Hier erhielt er auch den Vornamen Roger. Aus dem weiteren Schriftwechsel ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die Großmuter gewusst hatte, wohin er kam. Sie war aber gewiss davon überzeugt, dass er in Sicherheit war.
Im April 1942 besuchte Jakob Stern seine Angehörigen ein zweites Mal in Rivesaltes. Es war eine große Freude für ihn und seine Schwestern.
Natürlich hatten sich alle vier Vollweilers gewünscht – schon zu Lebzeiten von Theodor und Ferdinand Vollweiler -, dass sie so schnell wie möglich auch in die USA kommen konnten. Karl Strauß bemühte sich nach Kräften, alle notwendigen Formalitäten zu realisieren, und die Vollweilers im Lager hofften in Gottesehrfurcht, dass es ihm gelingen möge. Vor allem Therese Vollweiler sehnte sich so sehr danach, bald wieder bei ihren geliebten Kindern zu sein. Den Empfang des Affidavit hatte Therese Vollweiler schon im Dezember 1941 bestätigt, und im Juli 1942 war von Karl Strauß auch die Schiffspassage für seine Schwiegermutter bezahlt worden. Aber es kam zu keiner Ausreise, nicht für Therese, nicht für Lina Vollweiler.
Die letzten Zeilen von Therese und Lina Vollweiler datieren vom 11. Juni 1942. Die Judentransporte von Frankreich nach Auschwitz hatten bereits begonnen. Bald wurden auch die Juden von Rivesaltes in Deportationslisten erfasst und für den Transport vorbereitet. Sie erhielten Reiseproviant für fünf Tage (Brot, Wurst, Käse, Sardinenbüchsen, Tomaten, Früchte, Marmelade – so eine gute Verpflegung hatten sie während der gesamten Lagerzeit nie bekommen, es war also die ‚Henkersmahlzeit’). Die Menschen wussten, dass sie nach Polen kommen würden, sie ahnten, dass dort das Ende sein würde. Manche sagten dennoch: „Wenn es so sein muss, so gehen wir eben in Gottes Namen.“
Friedel Bohny-Reiter, eine Schweizer Schwester, die in den Jahren 1941/1942 in Rivesaltes für eine Schweizer Hilfsorganisation arbeitete, notierte in ihr Tagebuch: „Heiß, bedrückend liegt es über dem Lager. Noch hängt in der Luft der Jammer der geplagten Menschen. Ich sehe sie keuchend unter ihren Lasten in langen Reihen aus den Baracken kommen. Wächter zur Seite. Zum Appell antreten. Auf schattenlosem Feld warten, Stunde um Stunde. Dann kommen die Lastwagen, die sie hinunter führen zum Bahngleis. Zwischen zwei Reihen von Wächtern verlassen sie die Lastwagen und treten, zögernd die einen, stumpf die anderen, auch mit trotzig erhobenem Kopf, in die Viehwagen. Nach Stunden sind alle in den heißen dumpfen Wagen verstaut. Durch die Eisengitterstäbe sehe ich die bekannten Gesichter. Bei jedem Wagen halten zwei Wächter Wache. Aus dem letzten Wagen tönt ein ‚Auf Wiedersehen’.“
Am 12. August 1942 wurde Lina Vollweiler von Rivesaltes nach Drancy, dem Sammelplatz für die Transporte der Juden nach dem Osten transportiert und von dort am 14. August 1942 mit dem Transport Nr. 19 nach Auschwitz deportiert. Der Transport umfasste 991 Personen einschließlich 117 Kinder. Von diesem Transport wurden bei Ankunft 875 sofort vergast, von den 115 zur Arbeit „selektierten“ Juden überlebte Auschwitz ein Einziger.
Am 11. September 1942, vier Wochen später, wurde auch Therese Vollweiler mit Transport Nr. 31 von Drancy nach Auschwitz deportiert. Von den 1000 Juden dieses Transportes, darunter 193 Kinder, wurden 920 bei Ankunft sofort vergast, 80 wurden zur Arbeit selektiert“, 13 überlebten Auschwitz.
Nachzutragen bleibt:
Karl Strauß’ Vater starb am 8. Februar 1940 im Jüdischen Krankenhaus in Hannover. Alle Versuche, die Mutter aus Deutschland herauszuholen, scheiterten, obwohl er für eine vorübergehende Emigration nach Kuba, die so genannten Vorzeigegebühren in Höhe von 500 $ bezahlt hatte, die er sich leihen musste. Sie wurde zu einem unbekannten Datum 1942 von Minden nach Warschau deportiert und kam dort nach Riga, wo sie umkam.
Irene Strauß, geborene Vollweiler, starb am 6. März 1978 in Milwaukee. Ihre Ehe mit Karl Strauß blieb kinderlos. Karl Strauß heiratete 1980 ein zweites Mal.
Ruth Rebbun, geborene Vollweiler, starb am 26. Februar 1975 in Milwaukee.
Jakob Stern und seine Frau Irma wurden von den Häschern Theodor Daneckers, der rechten Hand Adolf Eichmanns in Frankreich, in ihrem Hotel in Le Cheylard aufgegriffen und in ein Lager gebracht und am 20. November 1943 von Drancy, zusammen mit 1200 anderen Juden, mit Transport Nr. 62 nach Auschwitz deportiert und sofort bei Ankunft vergast.
(Wolfgang Strauß, August 2004)