Wechsler, Gerda
Nachname: | Wechsler |
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Vorname: | Gerda |
geborene: | Wertheimer |
Geburtsdatum: | 19. Dezember 1883 |
Geburtsort: | Kippenheim/Lahr (Deutschland) |
Familienstand: | verheiratet |
Familie: | Ehefrau von Jakob W. |
10.8.1942 von Drancy nach Auschwitz (Polen)
Biographie
Jakob Wechsler und Gerda Wechsler, geborene Wertheimer
Jakob Wechslers familiäre Herkunft
Die Wechslers waren eine streng fromme Familie im fränkischen Schwabach, in die Jakob 1882 hinein geboren wurde. Die jüdische Geschichte Frankens reicht zurück bis in das Hochmittelalter und zeichnet sich durch ein reiches kulturelles Erbe, Zentren der Gelehrsamkeit und viele erhaltene Baudenkmale aus. Das einstige, gut mit der nicht-jüdischen Nachbarschaft vernetzte Landjudentum wich seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend urbanen jüdischen Gemeinschaften, die durch größere Vielfalt der Lebensentwürfe, aber auch durch wachsende innere Gegensätze und vermehrte Abwanderung nach Übersee gekennzeichnet waren.
Jakobs Mutter war Clara, geborene Rosenbaum (geboren 1844), eine Tochter des Rabbiners und Kaufmanns Elijah Raphael Rosenbaum und der Jette geborene Iffri. Sein Vater war Pinchas Moshe Elchanan Chaim (Heinrich) Wechsler, genannt „Hyle“ (geboren 1843), ein Sohn des Handelsmanns Salomon Wechsler und der Elisa (Ella), geborene Rosenbaum. Mit der eigenwilligen Selbstbezeichnung H-I-L-E als Umkehrung von E-L-I vermied er das Aussprechen des in „Elchanan“ enthaltenen Gottesnamens. Seine vielen Vornamen rühren übrigens davon her, dass jüdische Eltern traditionell einem Kind von schwacher Konstitution nach überstandener Krankheit aus Dankbarkeit einen zusätzlichen Namen geben.
Jakob Wechslers Eltern Hile und Clara waren beide Enkelkinder des Rabbiners Mendel Rosenbaum (1782-1868), genannt „Reb Mendel-Zell“ nach seinem Wirkungsort Zell am Main bei Würzburg. Mendel Rosenbaum und sein Sohn Elijah Raphael haben entschieden die Orthodoxie gegenüber dem sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts herausbildenden Reformjudentum vertreten. Mendel Rosenbaum gilt als deren unterfränkischer Wortführer mit starkem Gewicht gegenüber den bayerischen Regierungsstellen. Zugleich werden ihm nach einem Gespräch mit König Maximilian II. Lockerungen im Handel von Juden zugeschrieben. Hiles Onkel väterlicherseits, Abraham Wechsler (1796-1850), war zudem einst Rabbiner von Schwabach.
Vater Wechsler, so belegen Anzeigen in der Zeitung „Der Israelit“ in den 1870ern, führte ein von seiner Mutter übernommenes „Manufactur- und Herren-Garderobe-Geschäft“ mit „Tuch-, Buckskin- und Schnittwaaren-Lager“ in Schwabach. Sein Engagement galt aber dem „Lernen“ und Unterrichten. Hile war ein Schüler des einflussreichen „Würzburger Raw“ Seligmann Bär Bamberger und Talmudgelehrter. Er unterrichtete an der Präparandenschule (Talmud-Thora) in Schwabach. Diese bereitete auf den Besuch des Lehrerseminars vor, das teilweise parallel zu einem Universitätsstudium absolviert wurde. „Die Anstalt giebt ihren Zöglingen Unterricht, Wohnung, Holz und Licht unentgeltlich, armen Zöglingen auch noch monatliche Unterstützungen“.
„Reb Hile“ gehörte der neo-orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft an, stand offenbar aber der Gemeindeorthodoxie näher als den trennungswilligen Agudisten. Er setzte sich stark für die Gründung religiöser Studienzentren in Eretz Israel ein und schöpfte auch aus der jüdischen Mystik, der Kabbala – was den eher nüchtern und rationalistisch denkenden „Israeliten“ fremd war.
Jakob Wechsler kam am 24. Januar 1882 in Haus 166/167 an der Nürnberger Straße in Schwabach zur Welt und wuchs als sechstes von acht Geschwistern auf – mindestens zwei weitere verstarben im Kleinkindalter. In Schwabach wurden geboren: Esther am 11. Juli 1867, Salomon am 24. August 1868, Benzion am 10. März 1874, Lea am 3. März 1877, Sara am 23. September 1878 und Mirjam (Marianne) am 13. August 1886.
Mit zum Haushalt gehörte Hiles wesentlich jüngerer Bruder Benjamin Wechsler (1860-1923), der als Sonderling galt. Nach dem Tod des Vaters Salomon um 1861 und nach ihrer Eheschließung 1866 hatten Hile und Clara Benjamins Erziehung übernommen. Benjamin lebte in brennender Erwartung der kurz bevorstehenden Ankunft des Messias.
Im März 1887 wurde „Rabbinats-Kandidat M.P.H. Wechsler“ als Religionslehrer an die Präparandenschule in Höchberg berufen, die Familie zog in das nahe Würzburg gelegene unterfränkische Städtchen um. Die Schule diente wie jene in Schwabach zur Vorbereitung auf den Eintritt in die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg, Hile Wechsler unterrichtete vor allem Gemera (Talmud). Zweifellos unterwies er auch den kleinen Jakob. Mit vier bis fünf Jahren waren einem jüdischen Jungen wie ihm das Alef-Bejs, seine Gebete und Verrichtungen und die wichtigsten Geschichten der Bibel vertraut.
In Höchberg kam am 14. August 1888 die Jüngste unter den Geschwistern, Rebekka (Rifka) zur Welt.
Im selben Jahr ging Jakobs älterer Bruder Salomon (Shlomo), benannt nach dem Großvater väterlicherseits, nach Jerusalem, wo er im sogenannten Alten Jishuv in bescheidensten Verhältnissen in den Batei Machasseh wohnte und als Anhänger des Rabbi Nachman von Breslew Schüler um sich scharte. In der im 18. Jahrhundert in der heutigen Ukraine begründeten, heute noch populären chassidischen Gruppierung der Breslower schloss Shlomo an die kabbalistischen Interessen seines Vaters an.
1891 wird Hile Wechsler im „Israelit“ vom 1. Oktober 1891 als Ortsrabbiner von Höchberg erwähnt, damit hatte der Vater mit fast 50 Jahren erstmals ein solches Amt inne. Kaum drei Jahre später starb er, seit Jahren leidend und lungenkrank, am 1. Juli 1894 in Höchberg, wo er auch begraben ist. „Der Israelit“ vom 5. Juli 1894 brachte den Nachruf eines Schülers auf den bewunderten Zaddik und beklagte, „daß man einem solchen bedeutend großen Manne nicht einen seiner Größe entsprechenden Wirkungskreis zu geben wußte“. Hile Wechslers Sohn Jakob war 12 Jahre alt, hatte erst im Jahr darauf „Bar Mitzwa“. Die Mutter hatte nun (laut „Israelit“ vom 8. März 1928) für sechs „unmündige“ Kinder zu sorgen.
Jakob Wechslers früher Werdegang
Drei Jahre lang lernte Jakob Wechsler an der Präparandenschule, vermutlich in Höchberg, drei weitere Jahre bis zum Jahr 1900 absolvierte er das Lehrerseminar an der Israelitischen Lehrerbildungs-Anstalt zu Würzburg. Die Anstalt hatte sein Großvater mütterlicherseits, Elijah Raphael Rosenbaum mitbegründet. Unterrichtet wurden neben allen religiösen Fächern und Pädagogik/Didaktik auch Realien, Naturkunde, Musik, Turnen und Zeichnen. In jenen Jahren besuchte Jakob auch eine Musikhochschule oder ein Konservatorium.
Aus dem Jahr 1904 stammt ein Gesuch von Jakob Wechsler, an der jüdischen Schule in Trier hospitieren zu dürfen. Eine erste Stelle als Lehrer dürfte er um 1905 angetreten haben.
Per 1. Januar 1907 war im mittelbadischen Kippenheim eine „Kantor- und Schächterstelle“ ausgeschrieben: „Reflektiert wird nur auf einen musikalisch gebildeten Kantor, der einen Synagogenchor leiten kann […] Unverheiratete süddeutsche Bewerber erhalten den Vorzug...“, so das Israelitische Familienblatt vom 25. Oktober 1906, am 1. November wiederholt. Dies scheint genau auf Jakob Wechsler gepasst zu haben, denn im Juni 1907 trat er die Stelle in Kippenheim in der Nachfolge von Saul Eichenbaum an. Die Kippenheimer Synagogengemeinde war damals im Raum stehenden Neuerungen gegenüber sehr reserviert. So gab es keine Orgel und keine reformierte Gebetsordnung.
Dass zum Vorbeterberuf auch Religionsunterricht gehört, wird aus einem Bericht im Israelitischen Familienblatt vom 21. Januar 1909 deutlich: Bei einer „Konferenz der israelitischen Lehrer und Kantoren“ in Kippenheim im Dezember 1908 trug Jakob Wechsler vor zum Thema „Wie soll Maimonides in der israelitischen Volksschule behandelt werden?“. „Nach einer allgemeinen Charakteristik dieses großen Gelehrten griff der Referent namentlich dessen 13 Glaubensartikel heraus und zeigte in ausführlicher Weise, wie sie nach seiner Ansicht zum geistigen Eigentum der Kinder gemacht werden sollen“.
Neuerungen war Kantor Wechsler aber nicht grundsätzlich abgeneigt. Im Sommer 1909 fand in Kippenheim ein vom Oberrat der badischen Israeliten initiierter Probegottesdienst zusammen mit dem Weinheimer Synagogenchor unter Leitung von Marx Maier statt, wozu Jakob Wechsler später In den Monatsblättern des Allgemeinen Deutschen Kantorenverbandes (Israelitisches Familienblatt 30. Juni 1915) unter dem Titel „Zur Frage der Einführung des Gemeindegesanges“ Stellung nahm. Er lobte die „Einfachheit“ der vorgestellten liturgischen Gesänge, dargeboten vom Mannheimer Kantor Theodor Nettler, komponiert von Hermann Zivi, einem Schüler des damaligen Karlsruher Oberkantors Samuel Rubin und plädierte dafür, dass die Gemeinde in den als Wechselgesang angelegten Teilen der Liturgie verstärkt durch den (männlichen) Synagogenchor unterstützt werden solle. Das zielte letztlich ganz im Sinne der Orthodoxie darauf, den einzelnen Beter zur richtigen Teilnahme zu befähigen, statt hochvirtuose Kantoren und professionelle Chöre einer musikalisch überforderten, stummen Gemeinde gegenüber zu stellen.
Heirat mit Gerda, geborene Wertheimer, Wirken in Kippenheim und Stuttgart
Im Oktober 1910 nahm das Großherzogliche Bezirksamt Ettenheim den bislang bayerischen Kultusbeamten Jakob Wechsler in den badischen Staatsverband auf – er wolle im November des Jahres heiraten, so hatte er im Antrag geschrieben. Seine Braut war die in Kippenheim geborene Gerda Wertheimer, geboren am 19. Dezember 1883. Sie war das neunte von zehn Kindern von Joseph Wertheimer und Mina, geborene Epstein.
Der Vater, 1841 in geboren, war Kleiderfabrikant, zeitweilig im Vorstand der Israelitischen Gemeinde und im Kippenheimer Gemeinderat. Die Mutter, 1845 in Mühringen bei Horb geboren, war bereits 1905 in Kippenheim verstorben. Die Wertheimers waren in der Ortenau alteingesessen und weitverzweigt. Leider ist fast nichts über Gerda Wertheimer überliefert – wie so oft bei Frauen der damaligen Zeit.
Die Ehe zwischen Jakob und Gerda wurde am 19. November 1910 in Kippenheim geschlossen. Aus diesem Anlass spendete ein Angehöriger nach orthodoxem Brauch für „Hachnassat kallah“, für die Verheiratung von Bräuten aus wirtschaftlich benachteiligten Verhältnissen. „Für הכנסת כלה sind mir folgende Spenden zugegangen: [...] Wertheimer, Kippenheim 10 Mk. [...] Herzlichen Dank allen edlen Spendern! Dr. Löwenstein, Bezirksrabbiner, Mosbach Baden“ (Israelitisches Familienblatt 10. November 1910).
Gerdas Geschwister hießen Julius (geboren 1868), Ida (geboren 1870), Siegmund Simon (geboren 1872), Sophia (geboren 1874), Hermann (geboren 1876), Jakob (geboren 1877), Max (geboren 1879), Elise (geboren 1881) und Frieda (geboren 1887). –
Ehepaar Wechsler wohnte in Kippenheim im seit den 1880ern bestehenden, kleinen Kantorhaus direkt angrenzend an die Synagoge in der Poststraße, daneben das rituelle Bad (Mikwe), ein Holzschopf und ein Betsaal für den Frühgottesdienst.
Am 18. September 1911 verstarb in Würzburg nach schwerer Krankheit Jakob Wechslers Schwester Sara im Alter von 33 Jahren. Sie hatte mit der Mutter die Wohnung geteilt, sich 1909 mit Samuel Cohn aus Rheda verlobt („Jüdische Rundschau“ vom 10. Dezember 1909) und die – säkulare, politisch gemäßigte – Zionistische Vereinigung Würzburg geleitet. Außerdem war sie „N.-F.-Kommissarin“, also für den Jüdischen Nationalfonds tätig, der durch Landkauf die Ansiedlung in Palästina unterstützte.
1913 stand ein Ortswechsel an. Die Israelitische Religionsgesellschaft in Stuttgart hatte im September Jakob Wechsler zu ihrem Kantor gewählt. Diese orthodoxe Gemeinde war 1878 von dem oben erwähnten Elijah Raphael Rosenbaum gebildet worden, blieb Teil der Jüdischen Gemeinde Stuttgarts, die 1910 über 4.200 Angehörige zählte, hielt aber ihren Gottesdienst in neuorthodoxen Formen in einer eigenen Synagoge ab.
Zum 1. Oktober verließ also Ehepaar Wechsler Kippenheim. In den „Monatsblättern des Allgemeinen Deutschen Kantorenverbandes“ (Israelitisches Familienblatt 4. Dezember 1913) hieß es dazu: „Herr Wechsler hat es verstanden, durch sein hervorragendes Können als Vorbeter und Dirigent des Synagogenchors, sowie durch sein bescheidenes Wesen sich Achtung und Beliebtheit bei jedermann zu verschaffen. Die Segenswünsche […] seiner Gemeinde, die ihn voll Bedauern scheiden sieht, begleiten ihn in seinen neuen Wirkungskreis“.
Damit trat Jakob Wechsler in Stuttgart das Amt als „Religionslehrer, Kantor und Schauchet“ an; Teil der Tätigkeit war demnach auch das rituelle Schlachten, vor allem von Geflügel. Da es sich um eine kleine Gemeinde handelte, war Jakob offenbar auf weitere Einnahmequellen angewiesen, das zeigen Annoncen von September/Oktober 1913 im Stuttgarter Neuen Tagblatt:
„Musik-Unterricht in Klavier, Violine und Gesang erteilt zu billigen Preisen J. Wechsler, Kantor und konservatorisch gebildeter Lehrer. Alexanderstr. 65.2“
"Schön möbliertes Zimmer im 2. Stock, mit separatem Eingang, in bester Lage, ist an besseren Herrn sofort zu vermieten. Gefällige Offerte an Cantor J. Wechsler, Alexanderstr. 65.2“.
Für das folgende Jahrzehnt findet sich Kantor Wechsler im Stuttgarter Adressbuch unter dieser Adresse. Der Betsaal der Gemeinde war in diesen Jahren in der wenige Gehminuten entfernten Rosenstraße 37, Hinterhaus parterre.
Im Juni 1914, so berichtet die Jüdische Rundschau vom 26. des Monats, hielt Jakob Wechsler einen Vortrag über „Die Erziehung der jüdischen Jugend“ bei der Zionistischen Ortsgruppe. Auch bei „Herzlfeiern“ im Juli 1914, vgl. Jüdische Rundschau vom 17. Juli, trug er „einige hebräische Lieder“ vor. „Mit dem Gesang der Hatikwah und einer Sammlung von sechs Ölbäumen schloß die würdige Feier“. Damit zeigte er sich – im Sinne seiner verstorbenen Schwester Sara – offen für die säkulare, zionistische Position, Palästina als jüdische Heimstatt aufzubauen.
Jakob Wechsler kam im Ersten Weltkrieg nicht zum Militär – offenbar wegen eines Rückenleidens, das er auch später in einem Formular angab: „chronisch körperlich behindert – durch Skoliose“.
1922 heiratete Frieda, die Tochter von Jakobs ältester Schwester Esther und Oberstudienrat Julius Jehuda Freudenberger, den ursprünglich aus Krotoszyn in der Provinz Posen stammenden, inzwischen in Würzburg lebenden Elias Krotowsky; 1923 kamen die Eheleute nach Karlsruhe. Hier ergibt sich ein erster Anknüpfungspunkt nach Karlsruhe, denn Eisenhändler Krotowsky war Gabbay – eine Art Küster – bei der Austrittsgemeinde in der Karl-Friedrich-Straße 16.
Jakobs Mutter Clara feierte im Januar 1924 hochgeehrt ihren 80. Geburtstag in Würzburg.
Wechsel von Stuttgart nach Kolberg in Pommern
Jakob Wechsler verließ um die Jahreswende 1924/25 Stuttgart und nahm eine Stelle bei der Synagogen-Gemeinde Kolberg in Pommern (heute das polnische Kołobrzeg) an. Die Stelle in Stuttgart für einen „streng orthodoxen Lehrer und Kantor“ wurde im Januar 1925 wieder ausgeschrieben. Im Februar 1925 trat er in den Verein israelitischer Lehrer in der Provinz Pommern ein (Israelitisches Familienblatt 14. Mai 1925). Die neue Aufgabe im sehr populären Sol- und Seebad an der Ostsee mit zwei großen Betsälen scheint umfangreich gewesen zu sein, denn im Juli 1926 wurde in Kolberg auch noch ein Hilfsvorbeter für die hohen Feiertage gesucht. Im Jahr darauf weihte Kantor Wechsler die frisch renovierte Synagoge in der Baustraße (Budowlana) 28 ein, so berichtet das Israelitische Familienblatt vom 22. September 1926. Immer wieder wird nun Jakob Wechslers Arbeit in den Zeitungen erwähnt. So betete er zur Trauerfeier für den langjährigen Ortsrabbiner Dr. Salomon Goldschmidt, der das Jüdische Kurhospital mit Kinderheilstätte in Kolberg mitbegründet hatte, „Enausch kechotzir jomow“ (Psalm 103, Vers 15 in aschkenasischer Lautung), vertont von Louis Lewandowski (Israelitisches Familienblatt, 27. Januar 1927).
Am 13. Februar 1928 verstarb Jakobs Mutter Clara Wechsler, geborene Rosenbaum, in Würzburg, so meldete „Der Israelit“ am 8. März 1928. Sie wurde neben ihrem Mann in Höchberg bestattet.
Im „Führer durch die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland“ 1928 bzw. 1929 lesen wir, dass Kantor J. Wechsler die dortige Synagogengemeinde zusammen mit Vorstand H. Brandenburg leitete – einen Rabbiner gab es vor Ort nicht mehr. Ehepaar Wechsler war kinderlos geblieben; die beiden wohnten am Kaiserplatz 12, einem parkartigen Quarrée mit Springbrunnen (heute: plac 18 Marca).
Von einer Trauerfeier für den ehemaligen Kantor und Lehrer Isidor Zadikow berichtete das Israelitische Familienblatt am 31. Oktober 1929. „Im Namen des Vereins jüdischer Lehrer und Kantoren sprach Herr Prediger J. Wechsler den innigsten Dank aus […] Der Gesang des „Enausch kechotzir jomow“ und „El mole rachamim“ durch Herrn Wechsler beendete die eindrucksvolle Trauerfeier“.
Am 6. Juli 1932 verstarb in Würzburg Jakobs Schwester Esther Freudenberger, wie das Israelitische Familienblatt vom 14. Juli 1932 bekanntgab.
Im Feuilleton des „Israelit“ vom 4. Oktober 1933 blickte ein ungenannter Autor auf Hile Wechsler und eine von diesem verfasste Denkschrift zurück. Vater Hile hatte um 1880 unter dem Titel „Ein Wort der Mahnung an Israel zur Beherzigung der Judenhetze und merkwürdige darauf bezügliche Träume“ unter Pseudonym seine Vorahnungen formuliert: „Nichts wird mehr vor dem Judenhaß schützen, auch das Wasser der Taufe nicht, auch die Blutverbindung durch Mischehe nicht […] Jude bleibt Jude beim Nichtjuden, mag er der Reform oder der Orthodoxie huldigen“. Der Feuilletonbeitrag mit der Überschrift „Ein prophetisches Wort vor 54 Jahren“ ergänzt dazu: „Das Manuskript befindet sich in Händen des Herrn Lehrer Wechsler in Kolberg (Pommern)“. Mit diesen Warnungen hatte Hile Wechsler mancherorts Widerspruch geweckt – viele deutsche Juden der Kaiserzeit waren Patrioten und fühlten sich vergleichsweise sicher.
Laut dem Jüdischen Jahrbuch 1933 leitete Kantor Jakob Wechsler nunmehr die Gemeinde Kolberg zusammen mit dem Vorsitzenden Dr. Groß.
„Am 18. März fand in Kolberg ein Elternabend in Form einer Jakob-Wassermann-Feier statt […] Die musikalische Umrahmung hatten Kantor J. Wechsler, Kolberg, als Förderer unseres Bundes [Deutsch-Jüdischer Jugend, der Verf.], und Hertha Fink übernommen. Mit dem Largo von Händel klang die stark besuchte Weihestunde aus“. (C.V.-Zeitung 29. März 1934, Seite der Jugend). Der ehedem assimilatorische „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ begann damals, sich den Ideen des Zionismus zu öffnen, blieb jedoch liberal und hatte viele säkular denkende Mitglieder.
Während Kantor Wechsler hier eine vermittelnde Rolle einzunehmen scheint, konnte er in fachlichen Dingen kompromisslos sein. In einem Leserbrief in der Zeitschrift „Der jüdische Kantor“ (Heft 1, 1936) beschrieb er sein Berufsethos: „Ich […] betrachte als Chasonuth oder jüdisches Lied (beide Gattungen freilich sehr von der Gola-Welt beeinflußt) lediglich festumrissene Melodien, durch langjährige Tradition geheiligt und nur durch wahrhaft berufene Komponisten, wie Sulzer, Lewandowski und Weintraub vermehrt und bereichert. Diese […] Bedingungen sind […] fast nur im süd-westdeutschen, teilweise auch noch im ungarischen Chasonuth erfüllt“, in Abgrenzung zum „Improvisieren, Fantasieren und Kolorieren der meisten östlichen Chasonim“.
Mit „Chasonuth“ ist der liturgische Gesang gemeint, Salomon Sulzer, Louis Lewandowski und Hirsch Weintraub waren namhafte Komponisten dieses Genres im späten 19. Jahrhundert. Unter „Gola-Welt“ ist die Diaspora zu verstehen, „Chasonim“ sind Kantoren.
Der Gebetsritus z.B. in Polen oder Galizien – wie z.B. bei dem berühmten Jossele Rosenblatt zu hören – hat traditionell mehr Verzierungen als der viel schlichtere ungarisch-deutsche, wie ihn die neuorthodoxen Gemeinden zumeist pflegten.
„Ich habe als Abkömmling eines der ältesten Rabbonim- und Kantorengeschlechter Deutschlands“, so Kantor Wechsler weiter, „mit Bienenfleiß das Chasanuth- und S'miroth-Gut Süd-Westdeutschlands in zwei Werken gesammelt, aber bis jetzt können sie […] den Schlaf der Gerechten schlummern, und kein Kornitzer, und kein anderer, der in der deutschen Kantorenwelt etwas zu sagen hat […] fühlt sich verpflichtet, sie der Öffentlichkeit bekannt zu geben. […] Mit kollegialen Grüßen, J. Wechsler (Kolberg).“
Semirot sind traditionelle Gesänge z.B. für den Familientisch am Schabbat. Der erwähnte Leon Kornitzer, Herausgeber der Zeitschrift, war Oberkantor am reformierten Israelitischen Tempel in Hamburg.
In einem Brief an den in Palästina lebenden Musikwissenschaftler Dr. Sali Levi vom 5. März 1937 (zitiert in Bohlman 1992) erläuterte Jakob Wechsler die Sammlung näher. Im ersten Band fänden sich Semirot für den Freitagabend, Tafellieder für Feiertage, vier Purimgesänge, die sein Vater in ungarischem Yeshivot gehört habe, Lieder für den Pessach-Seder, dazu selbst in Noten wiedergegebene Melodien der Pessach Haggadah. Im zweiten Band seien liturgische Gesänge für das gesamte Jahr zusammengestellt, alle seines Wissens unveröffentlicht.
Pogrom 1938, Zuzug nach Karlsruhe
Das Israelitische Familienblatt vom 13. Januar 1938 berichtete von der Stiftungsfeier der Chewra Kadischa und des Frauenvereins in Kolberg. „Prediger Wechsler sprach über den Sinn der jüdischen Geschichte“ – bald darauf mussten die jüdischen Zeitungen ihr Erscheinen einstellen. Die Wechslers erlebten die Pogromnacht vermutlich in Kolberg, bei der am 9./10. November die Synagoge in der Baustraße zerstört und in der Folge die meisten Männer in das KZ Sachsenhausen in Oranienburg gesperrt wurden. Die heutige Gedenkstätte Sachsenhausen hat keine Unterlagen, ob Jakob zu den damals Verhafteten gehörte; es ist aber davon auszugehen. Die Freilassung war in der Regel daran gebunden, verbindliche Schritte zur Emigration vorzuweisen. Einem Schriftstück einer Hilfsorganisation der Kriegszeit ist zu entnehmen, dass sich Gerda Wechsler im Januar 1939 beim Amerikanischen Konsulat in Berlin um die Auswanderung zu Verwandten in den USA bemühte (Records of HIAS-HICEM Main Office in Europe (RG 245.5 (France I-IV)).
1938/1939 wurden amtlich die zusätzlichen Zwangsnamen Sara und Israel eingetragen, was in Jakob Wechslers Fall nicht ohne Ironie ist – nach Genesis 32 (Wajischlach) erhält der nach seinem bestandenen Ringkampf mit dem Engel an der Hüfte verletzte Jakob als Segen den Namen „Israel“ (etwa: Gottesstreiter).
Am 17. Mai 1939 fand die Volkszählung mit Ergänzungskarten für jüdische Haushalte statt. Jakob und Gerda Wechsler wurden in ihrer bisherigen Wohnung in Kolberg erfasst. Kurz darauf standen wieder eine Neuberufung und ein Umzug an.
Am 30. August 1939 legte Rechtsanwalt Hugo Stein als Vorsitzender des Synagogenrats der Israelitischen Gemeinde Karlsruhe bei der Stadt einen Mietvertrag mit Jakob Wechsler für die Dienstwohnung des im März in die USA ausgewanderten Oberkantors Simon Metzger in der Herrenstraße 14 zur Genehmigung vor. Am 16. Oktober 1939 wurde ein Vertreter der Gemeinde einbestellt und ihm die Genehmigung übergeben. So zog das Ehepaar Wechsler um den 1. November 1939 dort ein.
Das Leben für die Karlsruher Jüdinnen und Juden nach der Pogromnacht war geprägt von ständiger Beobachtung und bürokratischer Gängelung durch Gestapo und andere NS-Behörden. Die Synagogen waren abgerissen, die Jüdische Schule geschlossen, die vorhandenen Räume immer mehr eingeschränkt, die Gemeinde durch Auswanderung spürbar geschrumpft.
Parterre im Haus Herrenstraße 14 befand sich im Sommer 1939 ein nicht-jüdisches Schuhgeschäft. Im 1. OG wohnten nun das Ehepaar Wechsler und nicht-jüdische Mieter, im 2. OG die Familien Heimberger und Niedermann, im 3. OG Wechslers Kollege Siegfried Speyer mit Ehefrau Fanny geborene Godlewsky. Im heute verschwundenen Hinterhaus lebten Witwe Fanny Rothschild und Tochter, dort befanden sich auch ein Betsaal und Büroräume.
Weitere Anknüpfungspunkte in Karlsruhe – neben den Krotowskys – waren Gerdas Bruder Jakob mit Frau Therese, die allerdings 1939 aus der Ettlinger Straße 27 nach den USA emigrierten (vgl. GLA 330 Nr. 1293) sowie ihr Bruder Sigmund (Simon) Wertheimer und Frau Ernestine geborene Epstein, die, Ende November 1938 von Gunzenhausen zugezogen, in der Kaiserstraße 133 wohnten, vgl. deren Beitrag im Gedenkbuch.
In einem Rundschreiben der Israelitischen Gemeinde Karlsruhe „An unsere Mitglieder“ vom 30. November 1939 heißt es unter der Rubrik „Gottesdienst“: „Herr Kantor Wechsler beabsichtigt, jeweils in Anschluss an den Sabbath-Minchagottesdienst [am Nachmittag, der Verf.] Lehrvorträge zu halten, welche die Schrifterklärung und andere geeignete Themen zum Gegenstand haben sollen. Wir machen unsere Gemeindemitglieder auf diese Neueinrichtung, die sicher großem Interesse begegnen dürfte, besonders aufmerksam und bitten um zahlreichen Besuch. […] Zur weihevollen Ausgestaltung des Gottesdienstes soll in nächster Zeit wieder der Chorgesang eingeführt werden. Zunächst ist die Einübung von Männerchören in Aussicht genommen. Wir bitten die stimmbegabten männlichen Mitglieder unserer Gemeinde, insbesondere auch die Herren des ehemaligen Synagogenchores, sich in die in unserem Sekretariat aufliegende Liste einzutragen. Gottesdienst am Vorabend Chanukkah: Mittwoch, den 6. Dezember 1939, 16 Uhr 30 (im großen Betsaal)“.
Deportation, Lager und vergebliche Ausreiseanstrengungen
Am 22. Oktober 1940, dem sechsten Tag des Laubhüttenfestes (Sukkot), kam der große Einschnitt. Zusammen mit etwa 900 anderen Jüdinnen und Juden der Stadt wurden Jakob und Gerda Wechsler sowie Gerdas Bruder Sigmund Wertheimer mit Frau Ernestine aus der Wohnung geholt und in Personenzügen 3. Klasse mit unbekanntem Ziel abtransportiert – die Ereignisse rund um das südfranzösische Lager Gurs nahe den Pyrenäen, wo sie sich drei oder vier Tage später wiederfanden, sind an anderer Stelle eingehend beschrieben worden. In einer Kartei der damaligen Hilfsorganisation Relico (Relief Committee for the War Stricken Jewish Population) in Genf unter der Rubrik „Jews who were inmates of the Gurs camp (1940ff.)“, sind „Wechsler, J“ und „Wechsler, Gerda“ gelistet.
Laut einem Schreiben einer Abteilung des Polizeipräsidiums, „Treuhänder für beschlagnahmtes jüdisches Vermögen“ vom 26. Februar 1941 an Karl Eisemann, den Karlsruher Vertreter der Bezirksstelle Südwestdeutschland der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, wurde der Israelitischen Gemeinde auf Antrag ein Klavier aus der Wohnungseinrichtung Jakob Wechslers „freigegeben“. Im Haus Herrenstraße 14 wohnten inzwischen nur noch „arische“ Mieter. Mit dem Klavier erfreute vielleicht jemand die wenigen in der Stadt verbliebenen Alten und Kranken der Gemeinde. Die in der Kolberger Zeit erwähnten Sammlungen liturgischer Gesänge sowie das Manuskript des Vaters sind dagegen wohl nach der Beschlagnahme der Karlsruher Wohnung verschwunden.
Nach Auskunft des Präfekten von Oloron 1960 wurde Jakob Wechsler am 16. April 1941 von Gurs in das Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence verlegt, wo er am 17. April registriert wurde. Seine Gefangenen-Nummer war 1652. Das Camp Les Milles war eine frühere Ziegelei, die 1941/42 als Transitlager des Vichyregimes hauptsächlich für Männer ohne französischen Pass diente, die von dort aus die Schiffspassage zur Auswanderung ab Marseille regeln durften. Auch die Hilfsorganisation HICEM/HIAS führte seinerzeit Ehepaar Wechsler in ihren Unterlagen. In einem darin enthaltenen, undatierten Blatt zu Gerda Wechsler (Randvermerk: „Deportée“) sind die für die Auswanderung relevanten „Membres de Famille“ gelistet:
France:
Wertheimer, Jules, frère, Hyères (Var), rue mireille;
Wechsler, Jacob, mari, Les Milles, groupe 2
Outre-mer:
Wechsler, Heinrich Semi, neveu, 329, Beach 70 St., Arverne N.Y.
Wertheimer, Jakob, frère, 151, 83rd Avenue, Kiew Gardens, N.Y.
Semi Wechsler war ein Sohn von Jakobs Bruder Benzion und dessen Frau Sophie. In einem Schriftstück von 10. Januar 1941 wird auch Jakobs Neffe Dr. Jacob Segal, 1749 Grand Concourse, New York City erwähnt. In einem Schriftstück vom 27. August 1941 wird Jakobs Cousin Maurice Wechsler, 1370 Teller Avenue, Bronx, N.Y. genannt und dass die Familie in New York für die Tickets bezahlt hätten.
In mehreren Schriftstücken ist Gerda Wechsler mit der Adresse „Gurs, Ilot I, Baraque 5“ genannt. Es wird betont, dass die Schiffspassage arrangiert sei und die Affidavits beim State Departement in Washington D.C. vorlägen. Geplante Abreise sei Ende September 1941 – aber die beim Konsulat in Marseille erwarteten amerikanischen Visa standen am 14. April 1942 noch immer aus.
Auf einer undatierten Kladde, überschrieben „Langer“, womit der Adressat, Rabbiner Simon Langer in Marseille gemeint sein dürfte, lesen wir in flüchtiger, unruhiger Handschrift: „Mes Personalien: Jacob Wechsler, s. Z. Oberkantor zu Karlsruhe i.B., Expulsíé en Camp le Milles. Père, Rabb. Hyle Wechsler זצ"ל zu Höchberg b/Würzburg. Ich beabsichtige dringendst, nach U.S.A. auszuwandern und zwar mit meiner Frau geb. Wertheimer. Mon Neveu en New York zahlt hieran (an der Passage) 250 Dollar. Den Rest würde erg[ebenst] von jüd. Hilfskomitées erbitten, wofür schon i. Voraus geziemenden Dank ausspreche. Mit vorzügl. Hochachtung, J. Wechsler, z.Z. Le Milles (Camp), Gruppe 8 b.“ Vielleicht gab es jemanden, der ihm den Brief auf Französisch aufsetzte – der Schreiber scheint am Ende seiner Kräfte gewesen zu sein.
Auch Gerdas Bruder Sigmund war am 11. Mai 1941 von Gurs in das Lager Les Milles verlegt worden, zur Auswanderung nach den USA über den Hafen Marseille, siehe Beitrag im Gedenkbuch. Auch andere Karlsruher wie Hugo Stein und Fritz Rosenfelder waren in Les Milles. Nicht selten verzögerte sich allerdings die Ausreise oder kam überhaupt nicht zustande. Gerdas Bruder Sigmund starb nach Auskunft der Prefecture Bouches-du-Rhone am 13. Januar 1942 im Alter von fast 70 Jahren in Les Milles. Seiner Frau Ernestine gelang die Ausreise. Der Sohn Hugo, geboren 1899, war bereits in die USA ausgewandert.
Ein von französischen Philatelisten 2012 erworbener und später in einem Buch über Les Milles publizierter Briefumschlag vom 5. März 1942 an „Jacob Wechsler, Groupe 13, Camp Les Milles, B. du Rhone“ trägt den Absender „Gerda Wechsler, Ilot I, Bar. 5, Camp de Gurs, B. Pyr.“ Bereits in Gurs wie üblich in separaten Ilots untergebracht, konnten die beiden demnach wenigstens Briefkontakt halten. Den Brief selbst wird Jacob Wechsler bei sich behalten haben, sein Inhalt („Écrit en Allemand“) ist nicht überliefert.
Im Zuge der judenfeindlichen Politik des Vichyregimes wurde Gerda Wechsler ohne ihren Mann mit dem ersten Zug aus der unbesetzten Zone am 5. August 1942 in den besetzten Norden nach dem Durchgangslager Drancy bei Paris ausgeliefert. Die Ankunft dort beschrieb der Augenzeuge Georges Horan-Korainsky, vgl. www.gurs1940.de:
“Die Busse fahren ins Lager. [...] Die Neuankömmlinge steigen aus. Es sind Ausländer: Deutsche, Österreicher, Tschechen, Polen, die aus den Lagern von Gurs und Poitiers kommen. [...] Man merkt, dass man es mit Menschen zu tun hat, die an Internierung gewöhnt sind. Ihr Gepäck ist robust, ihre Rucksäcke sind eng an den Körper gezurrt. Ihre Kleider sind verwaschen, klamm, ausgebleicht in allen Tönen furchiger Erde. [...] Sie können gehorchen, können sich aufstellen. [...] Die aus Gurs müssen es schwer gehabt haben!”
Am 10. August verließ Gerda Wechsler das Transitlager Drancy in Transport Nr. 17 mit etwa 1.000 Personen „nach dem Osten“. Am 12. August traf der Transport im oberschlesischen Auschwitz an der Alten Rampe ein. In den überhitzten Güterwaggons befanden sich einige Menschen aus Karlsruhe – zum Beispiel Ruth Poritzky, Thekla Bruchsaler und Elsa Eis, siehe Beiträge im Gedenkbuch. Per Fußmarsch oder auf Lastwagen gelangten Gerda und alle Genannten nach Auschwitz-Birkenau, wo sie am selben Tag in den Gaskammern ihr Leben verloren.
Im August und September 1942 räumten die Vichy-Behörden auch das Camp des Milles bei Aix-en-Provence und überstellten die verbliebenen Internierten in einem Akt wissentlicher Kollaboration an die Nazis im besetzten Norden. Trotz einer Fülle erhaltener Akten sind die Details zu den betroffenen Personen und zum genauen Ablauf lückenhaft. Hier verliert sich Jakob Wechslers Spur. Ob er, getrennt von seiner Frau, im August 1942 auch nach Drancy und weiter nach Auschwitz gelangte, wie es der Internationale Suchdienst Arolsen in den 1960er Jahren mutmaßte und das Gedenkbuch des Bundesarchivs und andere zitieren, ist unwahrscheinlich, da mit den seit Serge Klarsfeld detailliert vorliegenden Namenslisten der infrage kommenden Transporte nicht vereinbar. Wahrscheinlicher ist, was Jakobs überlebender Freund aus der Stuttgarter Zeit, Adolf Kulb (1903-1981), in einem Yadvashem-Gedenkblatt 1977 angegeben hat: Kantor Wechsler „soll in Les Milles bei Marseille verschieden sein“. Kulb lebte im Krieg in Frankreich zeitweilig im Versteck und arbeitete später als Dolmetscher für Französisch.
Krieg und Verfolgung überstanden aus Jakobs Geschwisterkreis nur Shlomo Wechsler sowie Leah, verheiratete Pollack, in Palästina bzw. Israel. Shlomo verstarb 1954 in Jerusalem, seine Schwester Leah 1961 in Haifa.
Jakobs Schwester Rifka und ihr Ehemann Bernhard Garbarsky, zuletzt Stettin, wurden bereits 1940 nach Piaski bei Lublin deportiert und kamen bald darauf ums Leben.
Die Schwester Mirjam und ihr Ehemann Dr. Hermann Freudenberger begingen im Juni 1941 in Frankfurt am Main angesichts der bevorstehenden Deportation Selbstmord.
Der Bruder Benzion und seine Frau Sophie geborene Strauss, lange Zeit im unterfränkischen Alzenau, zuletzt in Frankfurt, emigrierten 1939 nach Holland. Beide wurden – getrennt voneinander – 1942 bzw. 1943 deportiert und sind umgekommen.
In Georgensgmünd steht neben der ehemaligen Synagoge ein Gedenkstein zur Erinnerung an die jüdischen Opfer der NS-Zeit im Landkreis Roth und der Stadt Schwabach, darauf findet sich Jakob Wechslers Name. An der „Mur des Noms“ im Mémorial de la Shoah in Paris wird seiner Ehefrau Gerda Wechsler, geborene Wertheimer, namentlich gedacht.
Anmerkung: Der in diesem Beitrag gewürdigte Jakob Wechsler ist nicht zu verwechseln mit seinem gleichnamigen Vetter, geboren 1885 in Fürth, Sohn von Joseph Wechsler, einem Bruder des Vaters Hile, und Hannchen geborene Rosenbaum, einer Kusine der Mutter Clara. Jakob Wechsler aus Fürth, Kaufmann und Fabrikant, war in erster Ehe mit Flora geborene Goldschmidt, in zweiter Ehe mit Alice, geborene Brenner verheiratet. Die Familie lebte in Nürnberg, dann in Berlin und emigrierte später nach Amsterdam. Dieser Jakob Wechsler ist im März 1943 in Sobibor umgekommen.
(Christoph Kalisch, Juli 2023)
Quellen und Literatur
Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Israelitischen Lehrerbildungs-Anstalt zu Würzburg, 1864 – 1914, S. 67;
Obschernitzki, Doris: Letzte Hoffnung – Ausreise. Die Ziegelei von Les Milles 1939-1942. Vom Lager für unerwünschte Ausländer zum Deportationszentrum. Teetz 1999;
Marchot, Guy: Lettres des internés du camp des Milles 1939-1942. Aix-en-Provence 2012;
Schellinger, Uwe (Hrsg.): Gedächtnis aus Stein, die Synagoge in Kippenheim 1852-2002, Ubstadt-Weiher u.a. 2002, S. 69 und 128;
Bohlman, Philip (Hrsg.): The World Centre for Jewish Music in Palestine, 1936-1940. Jewish musical life on the eve of World War II. Oxford 1992;
Generallandesarchiv Karlsruhe: 480 Nr. 29984, 480 Nr. 24551, 480 Nr. 26496;
Staatsarchiv Freiburg B 701/1 Nr 3662;
Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden, Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RV), Bezirksstelle Baden/Pfalz. Korrespondenz der RV mit NS-Behörden 1940-1942, B1./19, Nr. 164, 26.2.1941;
Landeshauptarchiv Koblenz: Bestand 442 Nummer 13577: Jüdische Schulen im Stadtkreis Trier, 1861-1929;
Zu Relico und Gurs vgl. Yadvashem Archives, Record Group M.7, File No 339;
Wechsler, Hile (1843-1894; Schwabach, buried in Höchberg), 1881, 1894, 1962-1997. In: Leo Baeck Institute: Joseph W. Eaton Collection, Box 2, Folder 57 (AR 10028);
Archives Departmentale de Bouches-du-Rhône, 142W33 (Auskunft Mémorial de la Shoah (Paris);
YIVO Institute for Jewish Research, Records of HIAS-HICEM Main Office in Europe (RG 245.5 (France I-IV)), Series III: France III, Refugee Case Files, 1940-1943, Wassi - Weh, 1940-1943. Seite 26-31;
Zu Transport 17: https:deportation.yadvashem.org/ ;
Zu Elias Krotowsky: http:www.chareidi.org/archives5763/bereishis/hrememb.htm ;
Historische Zeitungen: Compact Memory;
Auskünfte Gemeindearchiv Höchberg; Jürgen Stude, Ehemalige Synagoge Kippenheim; Mémorial de la Shoah, Paris; Naomi Teveth, Tel Aviv;