Weiss, Salomon

Nachname: Weiss
Vorname: Salomon
Geburtsdatum: 27. August 1925
Geburtsort: Karlsruhe (Deutschland)
Familienstand: ledig
Eltern: Majer und Dora W.
Familie: Bruder von Mendel
Adresse:
ab 1929: Marienstr. 53,
bis 1929: Rüppurrer Str. 20
Beruf:
Schüler
Deportation:
21.4.1944 verhaftet und nach Malines (Mechelen) (Belgien),
19.5.1944 von Malines nach Auschwitz (Polen),
25.1.1945 von Auschwitz kommend in Mauthausen (Österreich)
Sterbeort:
Mauthausen (Österreich) Außenlager Gusen
Sterbedatum:
23. März 1945

Biographie

Familie Weiss

Im Gedenken an Majer und Dora Weiss und deren Söhne Mendel und Salomon

Auswanderung aus Galizien nach Deutschland
Majer und Dora Weiss stammten beide aus dem Städtchen Kolbuszowa im Karpatenvorland in Galizien. Majer wurde am 9. September 1894 geboren, Dora am 23. August 1893. Sie mussten sich von Jugend an gekannt haben, denn Dora war die Tochter von Mosche Jechiel Weiss und seiner Frau Matel und Majer der Sohn von Mosche Weiss Bruder und somit Doras Cousin. Dora verließ gemeinsam mit ihren Eltern und Schwestern und deren Ehemännern 1919 Kolbuszowa, was auf einen sehr engen Familieverbund schließen lässt. Man gehörte einfach zusammen. Doras vier verheiratete Schwestern waren Ida Schiffmann, Esther Malka Schreck, Frieda Fränkel und Elsa Gross. Auch die älteren Kinder der Schwestern zogen mit der Großfamilie nach Deutschland.

Waren es die veränderten Lebensverhältnisse, die die verwandten Familien bewogen, Polen miteinander zu verlassen? Mit der ersten polnischen Teilung im Jahr 1772 war Kolbuszowa dem Habsburger Reich bzw. Österreich-Ungarn einverleibt worden. Nach dem ersten Weltkrieg musste die Donaumonarchie die in den drei Teilungen erworbenen Gebiete an das wiedererrichtete Polen zurückgeben. Der österreichische Einfluss würde zurückgedrängt werden und der polnische zunehmen. Auch die Angst vor Pogromen mag eine Rolle gespielt haben laut Aussage von Frau Aron, der 1936 nach Israel ausgewanderten Tochter von Esther Malka Schreck, also der Nichte von Dora und Majer Weiss. Zudem hatten Mosche Weiss Brüder zuvor Polen verlassen. Und vielleicht war auch die Hoffnung, im Textilhandel ein Auskommen zu finden, von Bedeutung.

Für die Wahl des Wohnorts in Deutschland kam wohl Karlsruhe aufgrund seiner Nähe zu Straßburg in Betracht, da zwei Brüder von Mosche Jechiel Weiss in Straßburg lebten. Einer von ihnen war Leser Weiss, Majers Vater. Dieser hatte sich dort mit seiner Frau Chaja geborene Bierenstock, niedergelassen. Nach seinem Schulbesuch in Krakau und Ausbildung zum Kaufmann - auch an der Handelsakademie in Wien – folgte Majer seinen Eltern und den Brüdern Isak und Chaskel um 1912 nach Straßburg. Und wie Dora ließ er sich 1919 in Karlsruhe nieder.

Die Großfamilie in der Südstadt in Karlsruhe
Wie manch andere aus Polen eingewanderte jüdische Familie ließ sich der Familienverband Mosche Weiss mit seinen Töchtern, Schwiegersöhnen und Enkelkindern in der Karlsruher Südstadt nieder, wo sie nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt lebten. So waren die Familien eng beisammen, konnten rege Kontakte und stetigen Austausch pflegen und sich gegebenenfalls gegenseitig unterstützen. Auch alle Festtage konnten sie gemeinsam feiern, wozu sich die Familien der Töchter zumeist bei den Eltern in der Luisenstraße 12 trafen. Dieser enge Familienzusammenhalt spiegelt einen liebevollen Umgang untereinander wider und das Wissen um die Bedeutung der Familie und Familienzugehörigkeit. Auch die Verbindung zu den nächsten Verwandten in Straßburg wurde gepflegt, sie waren an Feiertagen öfter zu Gast beim Familienoberhaupt Moshe Jechiel Weiss.
Ida und Isak Schiffmann und Elsa und Evigdor Gross lebten in der Werderstraße 59, Frieda und Leo/Leib Fränkel zwei Parallelstraßen weiter in der Schützenstraße 32, Esther Malka mit Familie wohnte anfänglich in der Rüppurrer Straße 2a. Doch sie und ihr Mann Abraham Schreck kehrten wieder nach Polen zurück, wo Esther Malka früh verstarb. Die enge Verbundenheit und Liebe in der Familie zeigte sich auch darin, dass die Großmutter Matel Weiss Esther Malkas älteste Kinder nach Karlsruhe zurückholte. So wuchs die Tochter Fanny, die spätere Frau Aron, bei ihrer Tante Ida Schiffmann auf, die die Mutterstelle an ihr vertrat. Fannys Bruder Herrmann lebte einige Zeit bei Majer und Dora Weiss. Fannys Vater und jüngere Geschwister kehrten später ebenfalls wieder zurück.

Dora und Majer Weiss - Familie, Religion, Beruf
Am 8. Januar 1920 haben Majer und Dora in Karlsruhe standesamtlich geheiratet im Beisein ihrer Familienangehörigen aus Straßburg und Karlsruhe.
Nicht weit von den Eltern und Schwestern entfernt hatten Dora und Majer Weiss eine Wohnung gefunden. Für das Jahr 1925 sind sie für die Rüppurrer Straße 20, Hinterhof, 3. Stock, d.h. 2.OG mit einem Kurzwarengeschäft en gros gemeldet. Der Hauseigentümer bzw. Vermieter war der „Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincenz von Paul“. Frau Aron beschreibt ihren Onkel Majer als einen sehr gutmütigen Menschen und ihre Tante Dora als eine sehr hübsche Frau, die den Haushalt führte, bei der Buchhaltung half und zudem Fannys Bruder Herrmann. Alle in der großen Familie hatten Dora sehr gern.
Am 10. Februar 1922 durften sich Dora und Majer Weiss über die Geburt ihres ersten Kindes, Mendel, genannt Max, freuen. Am 27. August 1925 kam Salomon, der zweite Sohn, auf die Welt. Laut Aussage des den Holocaust überlebenden Sohnes Mendel besuchte Salomon ab Ostern 1932 zuerst die allgemeine Volksschule und dann gezwungenermaßen, als die jüdischen Schüler diese verlassen mussten, ab 1936 die Jüdische Schule.

Was die religiöse Ausrichtung betrifft, waren Majer und Dora anfänglich bei der “liberalen“ Israelischen Religionsgemeinschaft eingeschrieben, traten im Dezember 1931 der orthodoxen Gemeinde bei, in der auch die verwandten Familien Schiffmann und Fränkel verzeichnet waren.
Sie waren vielleicht aus Unerfahrenheit oder Zufall zuerst in der liberalen Gemeinde angemeldet und nahmen dann eine Korrektur vor. Der Schwager Leib oder Leo Fränkel war der Sohn eines bekannten Rabbi in Polen und zudem selbst Kantor in seiner Gemeinde. Nach Aussage von Frau Aron waren die Familien streng orthodox und gehörten der „orthodoxen“ Israelitischen Religionsgesellschaft mit dem Rabbiner Abraham Michalski in der Karl-Friedrichstraße an. Auch waren bei Mosche Weiss berühmte Rabbiner aus Polen zu Gast. Die Familie besuchte die Synagoge in der Karl-Friedrichstraße, aber auch eine zu einem Gebetsraum umgestaltete Wohnung in der Südstadt bei Naphtali Bogen in der Wielandtstraße 10.

Majer und Dora Weiss waren wie die Familien der Schwestern im Textilhandel tätig. Majer war als selbständiger Kaufmann im Handelsregister der Stadt eingetragen. Nach Aussagen seiner Brüder hatte er seine Ausbildung zum Kaufmann auf Schulen und Handelsschulen in Krakau, Wien und eventuell Straßburg erhalten. In Karlsruhe arbeitete er im erlernten Beruf weiter. 1928 wird die Firma Majer Weiss in der Werderstraße 59 genannt, wobei die Familie weiterhin in der Rüppurrer Straße 20 wohnen blieb. In der Werderstraße 59 lag auch das gemeinsame Geschäft der Familien Schiffmann und Gross. Und dort hatte Majer Weiss ein Lager für seine Waren und gemeinsam mit seinem Schwager Evigdor Gross einen Versandhandel für Strumpfwaren und Trikotagen der Firma Triumph. Im Jahr darauf, 1929, zogen Majer und Dora Weiss in die Marienstraße 53 in eine Vierzimmerwohnung im 2. Stock und eröffneten eine Großhandlung für Kurz-, Weiß- und Wollwaren. Ab 1933/34 war das Geschäft als Strickwolle- und Strumpfversand von Waren der Firma Triumph aufgeführt. Anfänglich liefen die Geschäfte zufriedenstellend, sodass Majer und Dora zwar kein aufwendiges aber doch normal bürgerliches Leben führen konnten. Der Vermieter und seine Tochter beschrieben nach dem Krieg die Familie Weiss als „ordentlich und allgemein beliebt.. und sehr gefällig“. Ein Zimmer war als Warenlager eingerichtet. Dort hat Majer Vertreter und Hausierer mit Waren versorgt. Mit dem Fahrrad oder der Bahn bereiste er Geschäfte, um seine Waren anzubieten, die von ihm oder Familienmitgliedern mit dem Leiterwagen oder per Rad zur Bahn gebracht und versandt wurden. Ein Auto besaß die Familie nicht. Um 1927 konnte Majer Weiss in Bietigheim in einem Stoffgeschäft zusätzlich eine Art Filiale bzw. Auslieferungslager für seine Kurzwaren und Trikotagen einrichten, das anfänglich lohnend gewesen sein musste. Denn nach Meinung des Wohnungsvermieters hätten die Einkünfte aus dem Großhandel der Marienstrasse 53 kaum zum Leben gereicht. Mit dem wachsenden Antisemitismus und den zunehmenden Hetzparolen, Feindseligkeiten und Aufrufen zum Boykott jüdischer Geschäfte begann die Familie Weiss wie alle anderen Juden immer mehr zu leiden. Frau Aron schreibt, wie bedrückt ihre Tante und ihr Onkel und die Verwandten auf Grund der sich für sie verschlimmernden Einschnitte und Vorschriften waren.
Ein persönlicher trauriger Einschnitt in das Leben der Großfamilie bedeutete der Tod von Mosche Jechiel Weiss, der 1934 verstarb, und dessen Grab auf dem orthodoxen Friedhof in Karlsruhe erhalten ist. Dora wusste ihre Mutter, die zu Ida Schiffmann zog, bei ihrer Schwester gut versorgt.

Das letzte Jahr in Karlsruhe
Im Oktober 1938 nahm die Diskriminierung der jüdischen Bürger eine weitere Dimension an. Ihr Leben sollte noch beängstigender werden, als es ohnehin schon die Jahre zuvor gewesen war. Auch Dora und Majer Weiss und die Verwandten werden sich schon lange Fragen über ihre Zukunft in Deutschland gestellt haben. Wie sicher waren sie? Was war zu tun? Wovon und wie sollten sie weiter leben? Auswandern wie viele vor ihnen? Wohin? Was war die richtige Entscheidung?
Eine Maßnahme traf die Familie Weiss – wie so viele jüdische Familien - besonders hart. Auf Grund eines geheimen Erlasses vom 26. Oktober 1938 sollten alle aus Polen eingewanderten männlichen Juden schleunigst aus Deutschland fort und in die alte Heimat zurückgebracht werden. Denn Polen wollte künftig seinen ausgewanderten ehemaligen jüdischen Bewohnern die Passverlängerung verwehren, wenn sie länger als fünf Jahre nicht in Polen gewesen waren.
Der Verhaftungswelle vom 28. Oktober 1938 fiel Majers Schwager Leib Fränkel zum Opfer, er wurde verhaftet und deportiert und am Ende mit seiner ihm nach Polen gefolgten Frau während des Kriegs umgebracht. Die Schergen der NSDAP schreckten nicht davor zurück, auch Mendel, den gerade einmal sechzehnjährigen Sohn Majers und Doras, zu verhaften. Er hatte sich ahnungslos in der Wohnung seiner Tante Elsa Gross aufgehalten. Die beiden Onkels Isaak Schiffmann und Evigdor Gross waren unten im Kohlenkeller versteckt und entgingen so der Verhaftung und Abschiebung.
Wie groß muss das Entsetzen, der Schmerz der Mutter gewesen sein, als sie Mendel nicht mehr vorfand und vom unwiderruflichen Transport nach Polen erfuhr! Welche Sorgen um ihr Kind muss sie sich gemacht haben, und auch Majer, als er davon erfuhr.
Majer war von der Verhaftungswelle verschont geblieben, nur weil er Mitte Oktober mit Salomon nach Straßburg gefahren war, um seinen Vater zu besuchen. Wollte er vielleicht auch Möglichkeiten erkunden, wie die Familie aus Deutschland fliehen konnte? In Straßburg erreichte ihn die Nachricht von den Deportationen zurück nach Polen. Er beschloss, dort zu bleiben und die Trennung von Dora auf sich zu nehmen. Laut Akten wurde er am 19. Dezember 1938 polizeilich nach Straßburg abgemeldet. Am gleichen Tag war das Geschäft in Karlsruhe in das Verzeichnis der noch bestehenden jüdischen Gewerbebetriebe eingetragen worden, welches der Erfassung aller sich im Besitz von Juden befindlichen Geschäfte und Unternehmen galt. So ließ sich bei der geplanten Arisierung kein Betrieb übersehen. Zum 31. Dezember 1938 hörte es gemäß der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 auf zu bestehen, und am 25. April 1939 wurde es offiziell in den Akten festgehalten: „der Gewerbebetrieb des Majer Weiss, Kurzwaren en gros in Karlsruhe, Marienstr. 53“ wurde – wie die anderen jüdischen Geschäfte und Unternehmen - offiziell für aufgelöst erklärt. Die NSDAP hatte eines ihrer Ziele erreicht.

Was konnte die Familie anderes tun als zu fliehen versuchen? Nun hieß es für Dora die Vorbereitungen zur Flucht allein zu treffen. Sie versuchte vergeblich, einen Teil des Mobiliars und Hausrats zu verkaufen. Zunächst gab sie die Wohnung auf und zog zu ihrer Schwester Elsa Gross in die Werderstraße 59 und musste, wie ihr Sohn Mendel später sagte, den Großteil des bei der Schwester untergestellten Haushalts und Hausrats im Stich lassen. Und wie mag es ihr in der so genannten Reichspogromnacht ergangen sein?

Flucht und Exil in Belgien
Spätestens im Februar 1939 gelang es ihr ohne Einreisevisum über die belgische Grenze zu flüchten. Hatte Majer von Straßburg aus die Flucht organisiert?
Gemeinsam mit Majer und Salomon konnten sie eine Unterkunft in Antwerpen in der Proviciestraat 295 finden, wo sie sich quasi illegal aufhielten.
Im Sommer folgten Schiffmanns, denn am 21. Juli 1939 sollte nun die Mutter Matel Weiss nach Polen abgeschoben werden. Auch die Familie Gross bereitete die Flucht nach Antwerpen vor. Und Aron, der Sohn von Frieda und Leib Fränkel, konnte den Weg ins Antwerpener Exil finden. Die Familien waren so teilweise wieder vereint und versuchten gemeinsam, in die USA auszuwandern. Dies war bereits im Sommer 1938 Abraham Schreck mit sechs seiner Kinder gelungen.
Fanny Schreck, Doras und Majers Nichte, war schon 1936 nach Palästina ausgewandert sowie zuvor einer ihrer Brüder. Am 15. August 1939 schrieb Majer Weiss an Fanny nach Palästina, „dass die l’Großmutter und Onkel und Tante Schiffmann seit 4 Wochen wieder bei uns sind und fühlen sich G.s.D. [Gott sei Dank; fromme Juden nannten „Gott“ nicht bei vollem Namen.] ganz gut.“ Er wünschte, dass auch sein Sohn Mendel aus Polen bald bei ihnen sein könnte. Auch Onkel Wigdor (Evigdor Gross) gedenke, herzukommen. Er bedankte sich noch für Fannys gute Absicht, ihnen etwas Geld zu schicken, doch sie möge es lieber für sich selbst zur Seite legen, denn irgendwann müsse sie ja ans Heiraten denken. In einem späteren Brief an Fanny freute sich Dora, dass Fannys Bruder Mendel in Israel einen Sohn bekommen hatte und sie, Fanny, Tante geworden sei. Sie grüßte alle liebevoll: „Wir küssen Dich und Mendel, Frau und Kind.“ Diese liebevollen Äußerungen zeigen, wie eng verbunden und zusammengehörig sich die Familienmitglieder fühlten. Wie wichtig es war, voneinander zu hören, zu erfahren, wie es den einzelnen erging. Fannys Hilfe wollten Dora und Majer nicht annehmen, in ihrer bedrängten Lage sorgten sie sich noch um Fannys Zukunft.
Zu ihrem nach Polen deportierten Sohn Mendel versuchten sie aus dem Exil Verbindung herzustellen. Sie hofften so sehr, auch er möge Wege finden, aus Polen nach Belgien zu fliehen, um wieder mit ihnen zusammen zu sein.
Inzwischen war auch Elsa und Evigdor Gross die Flucht nach Antwerpen gelungen. In der Provinciestraat 295 lebten sie wohl eine Zeitlang sehr beengt zusammen. Im März 1940 gelang es der Familie Gross, per Schiff in die USA auszureisen. So sehr sie sich bemühten, den anderen Familienmitgliedern – Dora und Majer und Familie Schiffmann - gelang die Ausreise in die USA nicht mehr. Die deutsche Wehrmacht besetzte im Mai 1940 Belgien und machte alle Hoffnungen auf Flucht und Entkommen zunichte.
Die beiden zurückgebliebenen Familien, Dora und Majer und Ida und Isak Schiffmann, hielten sich versteckt und zurückgezogen. In Antwerpen wurde es für ausländische Juden immer gefährlicher, sie wurden gejagt. Ab Januar 1941 lebte Familie Weiss in Zonhoven, Wijviestraat 18. Ein Erlass auf Geheiß der deutschen Militärverwaltung vom 29. August 1941 bestimmte, dass alle noch in Belgien verbliebenen Juden in den vier größten Städten zu ghettoisieren seien, mit Ausgangssperre von 8 Uhr abends bis 7 Uhr morgens. So bekamen Dora und Majer Weiss einen Zwangsaufenthalt, eine sogenannte „Résidence enforcée“ in Brüssel, wo sie sich bis 1944, in der Chaussée de Bruxelles 228 wohnend, irgendwie durchschlugen. Lebten sie nur von Erspartem, fand Majer Arbeit oder musste er Zwangsarbeit wie andere Juden leisten? Erhielten sie Hilfe von Einheimischen?
Ab dem 3. Juni 1942 mussten sie sich wie alle Juden in Belgien mit dem Judenstern kennzeichnen. Nach dem Krieg sagte der Direktor des jüdischen Waisenhauses in Antwerpen aus, dass die Familie Majer Weiss und ihr Sohn Salomon damals regelmäßig am jüdischen Gottesdienst teilnahmen, und, wo immer sie sich hinbegaben, wie die anderen jüdischen Flüchtlinge den Judenstern trugen und so in ihrer Bewegungsfreiheit absolut beschränkt waren. Zu den bedrückenden und widrigen Lebensumständen kam noch die Trauer, als die von Dora und Schwester Ida umsorgte Mutter Matel Weiss bei ihnen im Exil verstarb.

Verhaftung und Deportation nach Auschwitz
Am 11. Mai 1944 entgingen Dora, Majer und Salomon Weiss und Ida und Isak Schiffmann doch nicht der Verhaftung. Sind sie beobachtet, gemeldet worden? Zusammen mit den Verwandten wurden sie für acht Tage in das Sammellager Malines /Mecheln in Belgien gebracht. Die Ungewissheit, Zweifel, Ängste, Qual, was mit Salomon und ihnen geschehen würde, wie Mendel zurecht kommen würde! Acht Tage später, am 19. Mai 1944, erfolgte die Deportierung mit Transport XXV in das KZ Auschwitz, wo sie laut Akten als verschollen galten. Nach Auskunft des niederländischen Roten Kreuzes vom 16. August 1955 sind „bei den Judentransporten der Jahre 1942/43 aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich die Frauen über 40 Jahre alsbald nach ihrer Ankunft im KL Auschwitz in den Gaskammern dieses berüchtigten Vernichtungslagers umgekommen“. Ein genauer Todestag ließ sich nicht festlegen. Auf Beschluss des Amtsgerichts B III, Karlsruhe, vom 24. Juni 1955 wurden Dora und Majer „auf den 31.12.1945 für tot erklärt“, nur pro forma.

In Auschwitz blieb es dem inzwischen neunzehnjährigen Salomon und seinem Cousin Aron Fränkel, wie Frau Janitzky in der von ihr verfassten Biographie der Familie Fränkel berichtet, nicht erspart, mitzuerleben, dass die Eltern bzw. Tante und Onkel in den Gaskammern den Tod fanden. Sie selbst mussten als Häftlinge schreckliche Zwangsarbeiten im Lager verrichten. Zwei Tage vor der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee wurden Salomon mit der Häftlingsnummer 121446 und Aron mit der Nummer 120733 in das KZ Mauthausen überführt. Sie waren beide als Maschinenmonteure von Beruf eingetragen. Und beide kamen ums Leben.
Salomon im KZ Gusen, Nebenlager von Mauthausen. Für Salomon existiert eine Sterbeurkunde „Salomon Weiss, israelitisch, ist am 23. März 1945 um 5 Uhr 30 Min. in Gusen, Kreis Perg, verstorben.“ Als Todesursache wurden Herzmuskelschwäche und Pneumonie angegeben.

Das Schicksal von Mendel Weiss
Mendel ist der einzig Überlebende der Familie Majer und Dora und Salomon Weiss. Dass er überleben konnte, war mit Zufällen, aber auch großem Leid verbunden.
Am 28. Oktober 1938 wurde er wie viele andere Juden trotz seines jugendlichen Alters verhaftet. Hat er geöffnet, als es an der Wohnungstür seiner Tante Elsa läutete? Durfte er zumindest noch etwas Gepäck mitnehmen, als es hieß, er werde jetzt nach Polen zurückgeschickt? Wie entsetzt musste er gewesen sein? Konnte er bei der Deportation seinen Onkel Leo Fränkl ausfindig machen?
In Polen hielt man ihn mehrere Monate lang bis Februar 1939 in einem von Polen eingerichteten Behelfslager in Zbaszyn fest. Dann gelang es seinem Cousin Leiser Gross, ihn aus dem Lager herauszuholen und zu Verwandten nach Krakau zu bringen. Dort erfuhr er, dass seine Eltern nach Antwerpen geflohen waren. Er muss sehr mutig gewesen sein, denn er hatte vor, sich noch vor September 1939 zu ihnen nach Belgien durchzuschlagen. Der Weg sollte über Rumänien, wo er Verwandte hatte, führen. In Lemberg erkrankte er jedoch und kam ins Krankenhaus. Dort überraschte ihn der Kriegsausbruch und machte seine Fluchtpläne zu den Eltern zunichte. Am 28. Juni 1940 wurde er in Lemberg von den Sowjets verhaftet, denn nun galt er seiner deutschen Papiere wegen wieder als Deutscher. Welch grausame Ironie des Schicksals: als solcher war er verdächtig und wurde deshalb am 8. Juli 1941 interniert und zum zweiten Mal verschleppt, jetzt in den Ural, Internierungslager 7099/22 im GULAG-System (nach seinen später gemachten Angaben). Er trat eine jahrelange Odyssee durch verschiedene russische Internierungslager- auch in Sibirien - an, in denen er gezwungen war, harte Wald- und Feldarbeiten zu verrichten. In seinen besten Jugendjahren musste er Schwerstarbeit leisten, ohne warme Kleidung, bei mangelhafter Ernährung und Unterbringung und unzähligen Entbehrungen.
Im Juni 1952 endlich erlangte er die Freiheit zurück. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt in der DDR gelangte er nach München. Als Spätheimkehrer wurde er dort vom Versorgungsamt und dem Bayrischen Hilfswerk betreut. In zwei vom Versorgungsamt organisierten Kuren – 1952 und 1953 - versuchte er, seine Gesundheit wiederherzustellen. Während der ersten Kur erlitt er durch einen Unfall eine Augenverletzung, musste in Folge operiert werden und war seitdem auf dem linken Auge stark sehbehindert. In den Jahren 1952/53 gelang es ihm mit Hilfe der Behörden seine Verwandten in New York zu finden. Er erhielt ein Einreisevisum für die USA und fand 1953 im September Aufnahme und Hilfe bei den verwandten Familien väterlicher- und mütterlicherseits.
1955 heiratete er, das Ehepaar bekam zwei Kinder. Als Jugendlicher hatte er eine Lehre in einer Eisen- und Metallmanufaktur begonnen, arbeitete aber nun wie seine Eltern in der Textilbranche und eröffnete ein Miederwarengeschäft in New York. Die Erinnerungen reisen mit uns Menschen mit. Wie ist er mit dem Verlust der Familie, dem Grauen, Schrecken und Leiden im Dritten Reich, der Lagerhaft in Polen und der Sowjetunion und den verlorenen Jugendjahren zurecht gekommen? Wir können nur hoffen.

(Beate Sehon, Oktober 2009)