Wisnewski, Rosalie

Nachname: Wisnewski
Vorname: Rosalie
abweichender Vorname: Rosi
geborene: Herzberg, gen. Ochwert
Geburtsdatum: 15. November 1878
Geburtsort: Nikolai (Mikołów) (Deutschland, heute Polen)
Familienstand: verwitwet
Familie: Witwe von Hermann W.
Adresse:
Mainstr. 22,
Gellertstr. 28
Beruf:
Verkäuferin
Kauffrau , Teilhaberin des Wäschegeschäfts Ronneburg-Wisnewski, Kaiserstr. 243
Deportation:
22.10.1940 nach Gurs (Frankreich)
Sterbeort:
Gurs (Frankreich)
Sterbedatum:
6. Februar 1942

Biographie

Rosalie Wisnewski geborene Herzberg

Rosalie – auch Rosa, Rosi oder Rosel – wurde am 15.November 18781 im oberschlesischen Städtchen Nicolai (heute Mikołów) im Kreis Pleß, Regierungsbezirk Oppeln in eine deutschsprachige, jüdische Handwerkerfamilie geboren. Ihre Eltern waren die Händlerin Minna Herzberg2 und der Schneidermeister Pinkus Ochwert. Wie nicht selten der Fall, waren die beiden offenbar rituell, aber nicht standesamtlich verheiratet. Rosalie wuchs in Nicolai auf.

Herzbergs sind seit dem frühen 19. Jahrhundert in Nicolai nachweisbar, genauer: seit 1814, als im Zuge der Einführung bürgerlicher Familiennamen bei Juden ein Liebermann den Familiennamen Herzberg annahm, vermutlich ein Vorfahr3. In den Quellen tauchen immer wieder Menschen aus Nicolai mit diesem Familiennamen auf, so ein Dampfmühlenbesitzer Samuel Herzberg4, ein Louis Herzberg mit den Kindern Dora, Magda und Siegbert5, ein Apotheker Alfred Herzberg oder ein im Ersten Weltkrieg gefallener Kriegsgerichtsrat Dr. Paul Herzberg6. Verwandtschaftsbeziehungen sind hier aber schwer festzustellen.
Über Familie Ochwert – in einem Dokument „Ochfert“ geschrieben – wissen wir sehr wenig. Der Familienname findet sich sonst nirgends und lässt in seiner Herkunft den Willkürnamen „Hochwert“ anklingen. Die Geburtsurkunde der Tochter7 ist in ungelenker Hand mit „P. Ochwert“ unterschrieben.

Die nur wenige Kilometer südwestlich von Kattowitz an der Eisenbahnlinie nach Ratibor gelegene Kleinstadt Nicolai – auch Nikolai – war um die Jahrhundertwende bereits von Schwerindustrie geprägt, so gab es Eisenhütte und -gießerei, Emaillierwerk, Dampfkessel-, Papier-, Chemie- und Maschinenfabrik sowie dampfgetriebene Mühlen. Bei der Volkszählung von Dezember 1880 hatte die Stadt 5.779 Einwohner, davon 396 Juden8. Bei der Volkszählung von Dezember 1885 waren es 5.740 Einwohner, davon 339 Juden, neben 4.971 Katholiken9. Die Zahl der jüdischen Bürger der Stadt ging seit den Gründerjahren kontinuierlich zurück, oft durch Wegzug in die Zentren Breslau und Berlin oder in westliche Nachbarländer.

Rosalie hatte mindestens zwei Brüder, Abraham Liebermann Herzberg, geboren am 8. November 1872 in Nicolai und bereits nach wenigen Wochen am 23. Dezember10 verstorben, und Richard Herzberg (später Ochwert), geboren um 187511 Richard Herzberg findet sich im Adressbuch von 1901 als Zuschneider in Breslau VII, Sadowastraße 69.3. Im Jahr 1907 wurde seine Ehe mit Bertha, geborene Vertun geschieden. Vermutlich ist Richard vor 1925 verstorben, denn in dem Jahr gab Rosalie in ihrem Antrag auf Einbürgerung in Baden keine lebenden Geschwister an.

In Rosalies Familie wurde schon zu Zeiten ihrer Großeltern nur Deutsch gesprochen, sie besuchte deutschsprachige Schulen und sprach kaum Polnisch, so heißt es später in ihrem Einbürgerungsantrag. In Nicolai überwog traditionell die polnischsprachige Arbeiter-, Handwerker- und Bauernschaft, Deutsch war eher Sprache des städtischen Bürgertums, des überregionalen Handels und auch bei Polen verbreitete Zweitsprache.
Rosalie lebte bis 1905 in Nicolai. Von Februar 1905 bis Januar 1907 wohnte die junge Frau im niederschlesischen Hirschberg (heute Jelenia Góra) und kehrte in jenem Frühjahr nach Nicolai zurück, wo ihre erst 58-jährige Mutter am 21. April starb. Rosalie bezeugte laut Sterbeurkunde, „dass sie bei dem … Sterbefalle zugegen gewesen sei“. Die traditionell auf Deutsch und Hebräisch verfasste Inschrift auf dem Grabstein lautet12: „Hier ist begraben die Frau Mindel Ochwert, Tochter des Ze'ev, gestorben am 7. Ijjar des Jahres 5667...“ und „Hier ruht unsere liebe Mutter und Schwester Minna Ochwert geb. Herzberg .... Ruhe sanft“. Ehemann Pinkus ist nicht unter den Hinterbliebenen genannt13 – wahrscheinlich war er bereits früher verstorben. Rosalie verwies später in ihrem Einbürgerungsantrag darauf, dass ihre Eltern „beide schon lange tot“ seien. Ergänzend schrieb sie, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter den Namen des Vaters Ochwert habe wählen können. Daraus wurde amtlich: Herzberg, genannt Ochwert.
Von Februar 1908 bis 1914 lebte Rosalie im niederschlesischen Schweidnitz (heute Świdnica); wo sie zeitweilig bei der dortigen Firma Fraenkel tätig war. Im Adressbuch von Schweidnitz 1914 finden wir: „Herzberg, Rosa, Verkäuferin, Langstr. 29“. 1914-15 lebte sie in Zittau in der Oberlausitz, dann bis 1918 im westpreußischen Bromberg (heute Bydgoszcz), 1918-20 im ebenfalls westpreußischen Graudenz (heute Grudziądz), 1920-21 schließlich in Frankfurt/Oder, Große Scharrnstraße 9 bei Drescher.
Bei der Volksabstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921 wurden in Nikolai 3.059 Stimmen für die Zugehörigkeit zu Deutschland und 2.434 Stimmen für den Anschluss an Polen abgegeben14, also 55,7 % der gültigen Stimmzettel für den Verbleib. Da der Stimmkreis Pleß, dem die Stadt angehörte, jedoch mit großer Mehrheit für Polen gestimmt hatte, wurde die Stadt Nikolai zum 28. Juni 1922 als Mikołów an Polen abgetreten.
Wie Rosalie ins Badische kam, wissen wir nicht. Ab 29. Oktober 1921 war sie in Karlsruhe gemeldet, zunächst in Untermiete bei Wachter in der Baumeisterstraße 52 bzw. bei Anselm in der Adlerstraße 2.
Im Juni 1925 stellt Rosalie einen Antrag auf Aufnahme in den badischen Staatsverband, da sie und ihre Vorfahren Deutsche seien, sie aber beim Übergang ihrer Herkunftsstadt Nikolai an Polen versäumt habe, von ihrem Optionsrecht Gebrauch zu machen und daher inzwischen ohne Staatsangehörigkeit und ohne Papiere sei. Zur damaligen Zeit war sie Verkäuferin und Dekorateurin bei Firma E. Neu Nachfolger, Inhaber Simon Michel-Bösen, Spezialhaus für Damen- und Mädchenkonfektion am Marktplatz und wohnte in der Enzstraße 13.2, in den Weiheräckern (heute Stadtteil Weiherfeld). Sie war alleinstehend, ohne Eltern und Geschwister und wollte heiraten. Die Einbürgerung erfolgte am 28. September 1925. Am 22. Oktober heirateten der gerade 30-jährige, evangelische Kaufmann Hermann Carl Wisnewski, geboren am 20. September 1895 im westpreußischen Klein-Tarpen (Małe Tarpno) bei Graudenz, Bezirk Marienwerder und die 46-jährige Verkäuferin und Dekorateurin Rosalie geborene Herzberg genannt Ochwert. Wahrscheinlich kannte Rosalie den Bräutigam schon aus ihrer Zeit in Graudenz und Frankfurt/Oder. Solch ein Altersunterschied war damals höchst unüblich und lässt auf eine sehr liberale Haltung schließen. Hermann war Prokurist bei der Weinhandlung Estelmann (Gustav Benzinger Nachfolger). In seiner eigenen Einbürgerungsakte15 mit Porträtfoto begegnet uns ein 1,78 Meter großer, schlanker, dunkelblonder, blauäugiger Mann in eleganter Uniform. Sein Vater Karl Ludwig Wisnewski, Schlachtermeister und „Fettviehhändler“ und seine Mutter Emilie geborene Bartel hatten wegen ihres Grundbesitzes für Polen optiert und waren „um das Deutschtum zu stärken“ in Oberschlesien geblieben, während der Sohn wegen „deutschpolitischer Betätigung“ in den Westen übersiedelte. Die Trauzeugen, Eheleute Anselm aus der Adlerstraße 2 waren Angehörige von Rosalies vormaligem Vermieter, Malermeister Drescher in Frankfurt/Oder; Frieda Anselm war eine geborene Drescher. Hermann hatte es im Ersten Weltkrieg zum Leutnant der Reserve gebracht und war nach Besuch des Lehrerseminars in Thorn bis 1914 Lehrer in Klein Tarpen, um 1920 zog er nach Berlin, dann nach Frankfurt/Oder. Seit Juni 1923 war er in Karlsruhe gemeldet.

Das frisch vermählte Paar bezog eine Wohnung in der Enzstraße 13 im heutigen Weiherfeld. Kaum 1½ Jahre später war Rosalies „herzensguter Gatte“ tot, „von seinem Leiden erlöst“, so die Todesanzeige in der Zeitung „Badische Presse“ vom 20. April 1927. Hermann Carl Wisnewski starb am 18. April 1927 und wurde am 21. April auf dem Hauptfriedhof bestattet. Aus der Danksagung in der Badischen Presse vom 23. April geht hervor, dass der Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Hinterbliebenen einen Kranz gespendet hatte – das legt nahe, dass der junge Mann den Folgen einer Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg erlegen war.

Am 4. Dezember 1927 eröffnete Rosalie zusammen mit ihrer Nachbarin Anna Ronneburg aus der Mainstraße 22 das „Strumpfwaren-Spezialgeschäft (Strumpfhaus) Ronneburg-Wisnewski“ in der Kaiserstraße 243. Im November 1928 inserierten die beiden: „Donatella-Strümpfe. Elegante Wäsche. Novaribt Unterkleidung“. Das Geschäft hielt sich in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht lang. Im November 1929 wurde das Vergleichsverfahren zur Abwendung des Konkurses über das Vermögen von Anna Ronneburg und Rosalie Wisnewski eröffnet. Im September 1930 begann der Ausverkauf und endet um den Jahreswechsel 1930/31.

Mit Datum 1934 findet sich in ihrer Einbürgerungsakte ein Schreiben einer NS-Dienststelle, das darauf abzielte, Rosalie gemäß „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft" vom 14. Juli 1933 die Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen. Sie wohnte nun in der Gellertstraße 28 bei Ochs. Ihr Glaubensbekenntnis sei „mosaisch, jetzt angeblich religionslos“, vermerkte jemand in der Akte. Aus den Folgejahren finden sich keine Dokumente, sie war vermutlich irgendwo zu kärglichem Lohn dienstverpflichtet. Für die Nazis blieb sie „nicht-arisch“ und wird die üblichen Schikanen durchgestanden haben: Sie erhielt eine Kennkarte mit groß aufgedrucktem „J“ und zusätzlichem Zwangsnamen „Sara“, sie durfte in der Straßenbahn keinen Sitz einnehmen, nur zu bestimmten Stunden einkaufen, keinen Pelzmantel und kein Radio besitzen. Ihr Vermögen, wie gering auch immer, musste beim Amt angemeldet werden. Nach 21 Uhr durfte sie im Sommer nicht das Haus verlassen.

Am 22. Oktober 1940 wurde die 61-jährige Rosalie Wisnewski aus der Gellertstraße 28 mit über 900 weiteren Karlsruherinnen und Karlsruhern über den Bahnhof in das südfranzösische Internierungslager Gurs bei Oloron-Sainte-Marie im Département Pyrénées-Atlantiques abgeschoben, wie das wohl 1941 erstellte „Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden“16 belegt. Im Camp de Gurs ist Rosalie nach fast 1½ Jahren leidvoller, entbehrungsreicher Lagerhaft an einem Wintertag, am 6. Februar 1942 – wenige Monate vor dem Beginn der Deportationen nach dem Osten – gestorben. Ihr Grab befindet sich auf dem Cimetière des Déportés in Gurs.

(Christoph Kalisch, im Februar 2023)


Anmerkungen:
[1] In verschiedenen Aufstellungen von Holocaustopfern ist fälschlich 13.11. als ihr Geburtstag angegeben. Die Akte zu ihrem Einbürgerungsantrag, STAK 6/BzA 5625, führt jedoch bereits korrekt den 15.11. an.
[2] Stadtarchiv Karlsruhe 6/BzA 5625.
[3] Vgl. JewishGen GerSIG Name Adoption List Index.
[4] Adressbuch Oberschlesien 1906.
[5] Mehrfach in Arolsen Archives.
[6] http:www.denkmalprojekt.org
[7] Staatsarchiv Katowice, Abteilung Pszczyna, 17/527/0, 1-5-097.
[8] F. Bosse: Verbreitung der Juden im Deutschen Reiche.
[9] Gemeindelexikon für die Provinz Schlesien, 1887.
[10] Vgl. JewishGen, Pszczyna Births, Deaths 1847-74 Marriages 1849-74.
[11] Vgl. JRI Poland, Breslau Eheschließung 1900.
[12] Siehe https:
sztetl.org.pl/en/node/136669 und Stadtarchiv Karlsruhe 6/BzA 5625.
[13] Vgl. Sterbeurkunde Minna Herzberg Staatsarchiv Katowice, Abteilung Pszczyna, 17/527/0, 3-144-034.
[14] Vgl. https:web.archive.org/web/20091108104043/http:www.oberschlesien-ka.de/abstimmung/pless.htm
[15] Stadtarchiv Karlsruhe 6/BzA 14338.
[16] Die Liste nennt unrichtig „Wisnewsky“ und Geburtsdatum 13.11., so übernommen im Gedenkbuch des Bundesarchivs.