Kleiner, Siegfried

Nachname: Kleiner
Vorname: Siegfried
Geburtsdatum: 5. März 1932
Geburtsort: Karlsruhe (Deutschland)
Familienstand: ledig
Eltern: Salomon und Karoline, geb. Sandler, K.
Familie: Bruder von Hilde Grete
Adresse:
Schützenstr. 106
Emigration:
1934 nach Polen
Deportation:
1940 in das Ghetto Strzemieszyce (Polen),
vermutlich 1942 nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen) vermutlich

Biographie

Salomon Kleiner und Karoline, geborene Sandler mit Hilde und Siegfried

Salomon Kleiner wurde am 21. März 1894 im galizischen Liski in eine traditionelle jüdische Familie geboren. Am 29. März fand die „Bris mile“, seine rituelle Beschneidung statt. Sein hebräischer Name dürfte, nach dem biblischen König, Schelomo (שלמה) lauten. Salomons Mutter hieß Rysia (Rosa Ruchel) Kleiner, „false Sperber“, so die Geburtsurkunde. Rosa war eine Tochter von Hinde Gitel Kleiner und Abraham Hersz Sperber, die, wie der lateinische Zusatz besagt, rituell durch einen Rabbiner, nicht aber standesamtlich verheiratet waren – was damals nicht unüblich war. Salomons Vater wird im Geburtsregister nicht genannt, auch nicht bei seinen Geschwistern – nur jedes Mal der aus Behördensicht ebenfalls „uneheliche“ Familienstand. Im Karlsruher Adressbuch 1922 finden wir später Salomons Vater als inzwischen verstorbenen Haushaltsvorstand – seine Mutter hieß dort, in damaliger Redeweise, „Kleiner, David (Rosa) Kaufmannswitwe“. Ein Neffe von Salomon, Leon Arje, nannte den verstorbenen Großvater später David Nagler1. Ein weiterer Neffe, Heinrich, nannte ihn dagegen David Sperber.2
Liski war ein Dorf nahe dem Städtchen Kolomea im Kreis Stanislawow in Österreich-Ungarn, heute Lisky im Rajon Kolomyja, Oblast Iwano-Frankiwsk in der Ukraine.

Familie Kleiner/Sperber kam um 1913 nach Karlsruhe. 1921 war Mutter Rosa bereits seit einiger Zeit Witwe.3 Vier Geschwister sind neben Salomon in Karlsruhe belegt, alle gebürtig aus Liski: Viktor Kleiner, geboren am 2. August 1895 (für ihn gibt es einen eigenen Beitrag im Gedenkbuch); Abraham Feibisch (Philipp) Sperber, geboren am 4. April 1897; Chaim (Karl) Sperber, geboren am 11. April 1899 und Perl Heńcia (Paula) Sperber, geboren am 24. September 1900, später verheiratete Hackel. Der wechselnde Familienname lässt vermuten, dass die Ämter die rituelle (nicht zivile) Ehe im Laufe der Jahre mal anerkannten, mal nicht.

Mit seinem Bruder Chaim Sperber finden wir Salomon 1917 als noch unverheirateten „Zigarettenmacher“ im niederländischen Venlo, in Den Haag und Amsterdam. Als Herkunftsadresse ist die Augartenstraße 56 in Karlsruhe genannt, dazu eine etwas klischeehafte Personenbeschreibung und seine Unterschrift:
„Alter: 23, Größe: 1,56 m, Stirn: niedrig, Haar: schwarz, Augen: dunkelbraun, Nase: gebogen, Kinn: rund, Bart: keiner, Gesichtsform: oval, Farbe: südländisch, Gottesdienst: Israelit“.4

Ab dem Adressbuch 1922 ist Salomon Kleiner in Karlsruhe belegt: Zunächst als Kaufmann in der mütterlichen Wohnung, Augartenstraße 56, 3. Obergeschoss; im Folgejahr mit „Waschmittelspezialgeschäft“ in der Rüppurrer Straße 92, wo er Adresse und Telefonnummer mit Firma Kleiner & Stechler teilte. Inhaber dieser kleinen Firma, die mit Lumpen, Papier und Altmetallen handelte, war sein Bruder Viktor. Ab etwa 1923 finden wir Salomon mit „Seifenhaus“ in der Waldhornstraße 25, Ecke Kaiserstraße.

Am 21. September 1922 erschien in den Blättern der Agudas Jisroel, einer Beilage in „Der Israelit“, eine Spenderliste „für unsere hungernden Brüder in Sowjetrussland“. Salomon Kleiner ist als Spender gelistet, wie seine Schwager Daniel und Osias Hackel.

Um 1922/23 heiratete Salomon außerhalb Karlsruhes die Karoline geborene Sandler, geboren am 1. September 1898 in Eichtersheim, Kreis Sinsheim, heute Teil von Angelbachtal im Rhein-Neckar-Kreis. Sie war eine Tochter des Schuhmachers Moritz (Moses) Sandler aus dem litauischen Tauroggen (heute Tauragė) und seiner aus Eichtersheim gebürtigen Frau Klementine, geborene Metzger. Moritz Sandler führte eine Felle- und Häutehandlung in der Hauptstraße 55. Der Familienname Sandler leitet sich vom hebräischen Wort für Schuhmacher bzw. Schuster (סנדלר) her. Karoline war die älteste von vier Geschwistern, neben Robert (geboren 1901), Arthur (geboren 1903) und Blanka (geboren 1906, später verheiratete Deutsch). Ob die junge Frau einen Beruf gelernt hatte, wissen wir nicht.

Das junge Ehepaar Salomon und Karoline Kleiner wohnte zunächst in der Luisenstraße 22 in der Südstadt. Im nahen St. Vincentius-Krankenhaus kam am 22. Oktober 1924 ihr erstes Kind zur Welt, Hilde Grete.
Ab Mitte der 1920er Jahre war Salomon Kleiner als Kaufmann in der Weinbrennerstraße 16.2 verzeichnet. Die Adresse in der Weststadt bedeutete sicherlich einen gesellschaftlichen Aufstieg. Allerdings musste Salomon im April 1926 Konkurs eröffnen5 und verlor damit sein bisheriges Geschäft.
Um 1930/31 zog die Familie in die Schützenstraße 106, 2. Stock in der Südstadt um. In dieser Wohnung kam Siegfried zur Welt, geboren am 5. März 1932.

Im Herbst 1933 verließen die Kleiners Karlsruhe. Karoline Kleiner mit ihren beiden Kindern meldete sich am 1. Oktober 1933 in Eichtersheim an, wo Eltern und Geschwister lebten. Ihr Mann Salomon ist am 25. Oktober 1933 als Trauzeuge seines Bruders Chaim Sperber, neben Mutter Rosa/Rysia, im niederländischen Utrecht belegt.6 Von der Mutter, die damals in ihren 60ern gewesen sein dürfte, hören wir danach nichts mehr. Weder Akten noch Aussagen von Angehörigen lassen auf einen Tod im Holocaust schließen. Daher ist anzunehmen, dass sie in den 1930er Jahren in Europa in der Nähe ihrer Kinder verstorben ist.
Am 7. Juli 1934 meldete sich Karoline Kleiner in Eichtersheim ab, mit dem amtlichen Vermerk: „nach Polen zurück“7. Blanche (Blanka) Deutsch geborene Sandler gab in den 1950er Jahren an, dass ihre Schwester Karoline mit Familie ungefähr 1934 „in die Tschechoslowakei“ ausgewandert sei.

Wählerlisten zum polnischen Sejm aus den Jahren 1935 und 1938 für Cieszyn (Teschen) an der polnisch-tschechischen Grenze führen „Salamon“ und „Karola“ Kleiner in der dortigen ulica Stawowa 18 auf,8 mit dem Vermerk, dass sie seit 1934 im Bezirk wohnhaft seien. Bruder Viktor und Schwägerin Sara sind im Nachbarhaus Nr. 16 aufgeführt – sie wohnten laut der Liste bereits seit 1928 im Viertel.9 Die Stadt Cieszyn (Teschen) bestand aus „Polnisch Teschen“ und „Tschechisch Teschen“. Damit ist auch Blanche Sandlers Angabe nachvollziehbar.
Mit der Berufsbezeichnung „handlarz“ für Viktor (Hausierer) gegenüber „kupiec“ für Salomon (Kaufmann) deutet die Wählerliste darauf hin, dass Salomon wirtschaftlich etwas bessergestellt war als sein mit Lumpen, Alteisen und Papier handelnder Bruder.

Frühere Veröffentlichungen enthielten wiederholt die Angabe, Ehepaar Salomon und Karoline Kleiner seien am 24. April 1939 nach Frankreich ausgewandert.10 Das Datum war der geplante Abreisetermin von Karolines Eltern Moritz und Klementine Sandler aus Eichtersheim, wie aus einer Akte zum Verkauf ihres dortigen Grundstücks mit Wohnhaus kurz vor deren Auswanderung hervorgeht.11 Tochter und Schwiegersohn planten vielleicht, mitzureisen, dazu kam es aber zweifellos nicht. Anders als etwa Schwägerin Johanna Sperber, geborene Heinemann, erscheinen die Kleiners überdies nicht auf den Gestapolisten von Herbst 1938 und Frühjahr/Sommer 1939 und können auch deswegen nicht nach Karlsruhe zurückgekehrt und im April 1939 von hier nach Frankreich emigriert sein.

Salomon Kleiner war damals Mitte 40, seine Frau 3½ Jahre jünger. Daher steht außer Zweifel, dass sie beide nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen Zwangsarbeit leisten mussten. Die meisten jüdischen Bewohner/-innen von Cieszyn/Teschen wurden 1940/41 aus der Stadt vertrieben und nach dem Gebiet Zagłębie, dem sog. Dombrowaer Kohlebecken mit den Städten Będzin und Sosnowiec, in Arbeitslager und die Rüstungsindustrie verschleppt. Belegt ist, dass im Mai 1940 etwa 400 Juden aus Cieszyn nach dem ostoberschlesischen Strzemieszyce Wielkie, einer Kleinstadt 18 km nordöstlich von Kattowitz umgesiedelt wurden.12 Von Sommer 1942 bis Sommer 1943 bestand dort ein Ghetto. Strzemieszyce (heute Teil von Dąbrowa Górnicza, ausgesprochen S-tschemje-schítse), war ein Eisenbahnknoten im damaligen Kreis „Bendsburg“ (Bedzin), es gab Steinkohlezechen sowie Fabriken für hydraulischen Kalk, für künstliches Wachs und für Düngephosphat. Viele Jüdinnen und Juden arbeiteten in Werkstätten, die Kleidung für die Wehrmacht nähen mussten.

Überraschend finden sich Hilde und Siegfried Kleiner in einem Gedenkblatt von 1955,13 geschrieben von Gertrud Chana Wertheimer, geborene Fischheimer, 1924 in Cieszyn geboren. Während des Krieges seien sie im besagten Strzemieszyce Wilkie gewesen.14 Gertrud war ungefähr gleich alt wie Hilde, vielleicht waren die beiden Freundinnen. Sie gab Hildes damaliges Alter mit 17, Siegfrieds mit 10 an. Stand Anfang 1943 war Hilde 18, ihr Bruder Siegfried 10 Jahre alt, die Vor- und Nachnamen stimmen exakt.
Als Mutter der beiden ist allerdings eine 1899 in Dortmund geborene Helena (Chaya) Kleiner, Tochter des Ze'ev und der Hinde aufgeführt. Gertrud bezeichnete Helena im Gedenkblatt als ihre „Bekannte“ und als verheiratet, vermochte aber weder den Mädchennamen, noch den Namen des Ehemanns zu nennen. In Dortmund ist damals keine auch nur annähernd übereinstimmende Person geboren worden, sie ist auch in einer Liste ehemaliger jüdischer Dortmunder/-innen beim dortigen Stadtarchiv nicht enthalten.15
Entweder handelt es sich um eine uns unbekannte Angehörige – nicht aus Dortmund –, die sich als Pflegemutter der verwaisten Kinder angenommen hatte. Oder es handelt sich tatsächlich um die 1898 (nicht 1899) geborene Karoline Kleiner, deren Name und Herkunft falsch angegeben oder verwechselt sind. Folgen wir der Deutung, dass Karoline Kleiner gemeint ist, lässt das vermuten, dass Salomon auswärts inhaftiert oder bereits verschollen war. War Helena Kleiner Pflegemutter, ist noch Schlimmeres anzunehmen.

Kaum ein Mensch kann sich heute vorstellen, wie schwer das Leben mit Hunger, Zwangsarbeit und Kälte in der Ghettozeit war. Nicht nur die Besatzer und ihre lokalen freiwilligen Helfer und Spitzel verbreiteten Angst und Schrecken. Aber orthodoxe und sozialistische Organisationen im Untergrund sorgten auch für gegenseitige Hilfe und Ermutigung. Es bestand Hoffnung auf ein besseres Morgen, in Palästina oder Übersee.

Blanche Deutsch gab in den 1950ern im Wiedergutmachungsverfahren für ihre Schwester Karoline und Familie, diese seien „während des Zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa verschollen“. Strzemieszyce liegt 40 km entfernt von Auschwitz. „Auschwitz“ nannte Gertrud Wertheimer in ihrem Gedenkblatt als den Todesort der drei. Die große Mehrzahl der damals in Strzemieszyce, im übrigen Ostoberschlesien und angrenzenden Gebieten lebenden Juden sind in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau zu Tode gekommen. So muss es auch Salomon, Karoline und ihre Kindern ergangen sein.16

Anmerkung: Der hier genannte Salomon Kleiner, geboren am 21. März 1894 im galizischen Liski, Sohn des David und der Rosa, ist nicht zu verwechseln mit einem Mann gleichen Namens, geboren am 4. September 1890 im tschechischen Brzezany, Sohn des Leibusch und der Hinde geborene Saphir. Jener Salomon Kleiner war mit Anna, geborene Spitzer verheiratet und hatte zwei Kinder, Elsbet und Margit. Die Familie lebte in Prostejov/Proßnitz. Er kam in Buchenwald bzw. einem Außenlager zu Tode. Es besteht kein bekannter Zusammenhang zwischen den beiden Familien.

(Christoph Kalisch, Oktober 2024)


Quellen:
[1] Arolsen Archives, ITS-Akten, 06030302.0.796.966, Anfrage von Leon Arje Kleiner zu seinen Eltern, 1960;
[2] YadvaShem Page of Testimony von Henry Sperber für seinen Vater Filip Faibish Sperber, Denver 1992;
[3] Angaben von Viktor Kleiner 1921, Beilage zum Heiratsregister, Stadtarchiv Karlsruhe;
[4] Stadsarchief Amsterdam, Vreemdelingenregister, 5225, 938 (1917) und Registratie 5416, 181 (1917) vgl. www.amsterdam.nl/stadsarchief;
[5] Vgl. Karlsruher Zeitung, 15.4.1926;
[6] Het Utrechtsarchief, 463 Burgerlijke Stand van de gemeenten in de provincie Utrecht 1903-1942, 729-02, 1044: Huwelijk Chaim Sperber en Helena Mendler, 25-10-1933;
[7] Such- und Bescheinigungsvorgang Nr. 898.197 für KLEINER, KAROLINE geboren 01.09.1898, Signatur 06030302.0.898.197;
[8] Vgl. Entschädigungsakte Karoline Kleiner, Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 480/9470 http:www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=4-1678080 (480/9470);
[9] Wybory do Sejmu RP 1938 r. – spis wyborców z miejscowości Cieszyn. Obwód głosowania nr 68 = Wahlen zum Sejm der Republik Polen im Jahr 1935 bzw. 1938 – Wählerliste aus Teschen. Wahlbezirk Nr. 68. www.bc.org.pl/publication/138168 (S. 64 von 67) und https:
www.sbc.org.pl/publication/154634 (S. 64 von 68);
[10] Zusammenstellung des Statistischen Amts der Stadt Karlsruhe, ebenso wie: Gedenkbuch der Archivdirektion Stuttgart (1969), S. 175, Hakenkreuz und Judenstern, 2. Aufl. 1990, S. 473;
[11] GLA 237 Zugang 1967-19 Nr. 1572;
[12] The USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-45, Eastern Upper Silesia Region, p. 166 f.;
[13] www.collections.yadvashem.org/en/names/2004808;
[14] www.swietokrzyskisztetl.pl/asp/en_start.asp?typ=14&menu=255&sub=173 ;
[15] Auskunft Stadtarchiv Dortmund September 2024;
[16] GLA 480/30866, 33879 und 29217;