Chan, Ernst Samuel
Nachname: | Chan |
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Vorname: | Ernst Samuel |
Geburtsdatum: | 4. Dezember 1925 |
Geburtsort: | Karlsruhe (Deutschland) |
Familienstand: | ledig |
Eltern: | Julius und Clara, geb. Mayer, C. |
Familie: | Bruder von Hanna (1920-1921) und Helene (1922-?) |
Weltzienstr. 41,
Weltzienstr. 20, 1938 nach Frankfurt a.M. verzogen
Biographie
Ernst Samuel Chan
Julius Chan war als Kaufmann im Schuhgroßhandel tätig. Geboren am 27. März 1880 und Sohn des Metzgers Samuel Chan und der Henriette geborene Simon, stammte Julius Itzhak ha-Cohen Chan aus dem pfälzischen Lambsheim und heiratete 1919 die am 13. Februar 1894 geborene Freiburgerin Klara Mayer, Tochter des Metzgers Israel Mayer und der Emma, geborene Scheuer. Die männlichen Mitglieder der Familie Chan (sprich: „Kahn“1) sind Kohanim, Nachfahren der Priester am Jerusalemer Tempel, zu erkennen auch an den segnenden Händen auf Samuel Chans Grabstein in Lambsheim.
Julius Chan wurde 1919, neben Berthold Oppenheimer, Gesellschafter einer Firma in der Karlsruher Waldstraße 26, „Neu & Hirsch OHG, Schuhwaren en gros“. Zur Familie des Firmengründers Aron Neu muss es verwandtschaftliche Beziehungen gegeben haben. Um 1920 bezog der seit 1894 bestehende Schuhgroßhandel2 größere Räume in der Amalienstraße 47.
Das Ehepaar Julius und Klara Chan wohnte in der Douglasstraße 12, parterre. Am 22. September 1920 kam ihr erstes Kind, Hannah, zur Welt. Knapp ein Jahr später, am 7. August ist sie verstorben. Viele Kleinkinder starben damals noch an – heute gut behandelbaren – Infekten oder ähnlichem. Während die Orthodoxie früherer Zeiten mit unerschütterlichem Gottvertrauen, nach festem Ritual (Shiv'a, Yahrzeit und Yizkor) und eher verhalten auf den Tod eines Kindes reagierte, lassen der Grabstein auf dem Liberalen Jüdischen Friedhof in der Haid-und-Neu-Straße3 („Unser Liebling Hannah“) und Zeitungsannoncen („Unser liebes Kind Hannah wurde uns heute durch den Tod entrissen“) die Bestürzung und den großen Schmerz der jungen Eltern erkennen.
Am 9. August 1922 wurde das zweite Kind, Helene, geboren. Die Chans, inzwischen in der Weltzienstraße 41 im Erdgeschoss in der Weststadt zu Hause, meldeten Helenes Ankunft „hocherfreut“ im Karlsruher Tagblatt.
Ein unternehmerisches Vorhaben neben dem Schuhgroßhandel, die „Kinderschuhfabrik Badenia“, mussten Julius Chan und Kompagnon Berthold Oppenheimer – sicherlich inflationsbedingt – im November 1923 beenden.4
Am 4. Dezember 1925 kam Ernst Samuel (Shmu'el ha-Cohen), Hauptperson dieses Berichts, als drittes Kind der Eheleute Julius und Klara Chan zur Welt. Er wurde nach dem eingangs genannten, inzwischen verstorbenen Großvater Samuel benannt. Ernst besuchte ab etwa 1932 die nahe Gutenbergschule.
Der väterliche Schuhhandel ging unter den nun erschwerten Bedingungen bankrott, das Geschäftsanwesen Amalienstraße 47 der Firma Neu&Hirsch wurde 1934 zwangsversteigert.5
Vater Julius Chan verstarb am 20. Februar 1935 im Alter von nur 54 Jahren. Seinen Hingang meldete die Jüdische Allgemeine Zeitung, ein relativ neu gegründetes, nicht-zionistisches Blatt. Auch das Fehlen traditioneller Symbolik an seinem Grabstein6 auf dem Liberalen Jüdischen Friedhof an der Haid-und-Neu-Straße deutet auf die reformorientierte Haltung in der Familie hin.
Von 1936 bis Anfang 1938 ging Ernst in die Helmholtz-Oberrealschule. Mutter Klara Chan zog mit Ernst und Helene nach dem Tod des Vaters in die Weltzienstraße 20a um, dann 1938 weiter nach Frankfurt am Main, offenbar in die Nähe von Verwandten. Zuletzt lebten die Chans im Frankfurter Ostend, Sandweg 14.
Ernst Samuel Chan zog von dort aus Anfang 1939 zu seinem Onkel Ernst Wilhelm Chan und dessen Frau Helene nach Belgien.7 Am 31. Januar kam der Junge im Brüsseler Stadtteil Ixelles an und wohnte bei Onkel und Tante in der Avenue Ernestine (Ernestinelaan) 12A, wohl um sich beruflich auf die Auswanderung vorzubereiten.
Ernsts Aufenthalt in Belgien war zunächst bis 30. November 1939 genehmigt, dann verlängert um ein Jahr, später ein weiteres Jahr. Mit der deutschen Besatzung seit Mai 1940 spitzte sich allerdings die prekäre Lage der ausländischen Juden in Belgien zu. Im Sommer des Jahres wurden viele in den unbesetzten Süden Frankreichs, in die Lager Gurs und St. Cyprien abgeschoben. Ernst konnte dem entgehen, verließ aber Onkel und Tante in Brüssel am 7. Oktober 1940 und meldete sich am 14. Oktober in Morlanwelz, rue de Baume Marpent 1 an. Morlanwelz-Mariemont war damals eine Kleinstadt mit Montanindustrie bei Charleroi, in der französischsprachigen Wallonie.
Ernst besuchte dort als Externer das „Pensionnat de l'Athénée Provincial du Centre“, eine große, säkulare Internatsschule mit berufsbildendem Zweig. Die Akten nennen ihn „Schüler“ bzw. „serrurier“, „Schlosser“, was auf einen entsprechenden Ausbildungsgang schließen lässt. Es liegt nahe, dass Ernst bei Familie Vöhl wohnte, denn an seiner Wohnadresse, rue Baume Marpent 1, hatten bis April/Mai 1940 der 1882 geborene Arthur Neu und seine Frau Clara gewohnt, beide waren ebenfalls 1939 aus Frankfurt nach Belgien geflüchtet. Nach Arthur Neus Tod im Lager Gurs blieb seine Frau in Belgien zurück (sie überlebte den Krieg im Versteck). Arthurs Schwester Dora Vöhl blieb nachweislich in Morlanwelz. Unter der Todesnachricht zu Arthur Neu in der Zeitung Aufbau vom 7. März 1941 lesen wir: „In tiefem Schmerz: Clara Neu, geb. May, z.Zt. Brüssel; […] Dora Vöhl, geb. Neu, Morlenwelz“ [sic]. Dora (Jahrgang 1880) war mit Tochter Inge ebenfalls 1939 von Frankfurt nach Belgien gekommen und wurde später über Malines/Mechelen deportiert.
Im fremdenpolizeilichen Dossier für „Ernest Chan“, das heute im Belgischen Nationalarchiv liegt, ist das Passfoto aus Ernsts Kinderausweis von 1937 eingefügt, das ihn als etwa 12-Jährigen zeigt.
Ab Juli 1941 wurden die belgischen Ausweise mit einem großen, roten „Jood-Juif“ gestempelt.
Auf den im Juli/August 1942 allgemein verschickten „Arbeitseinsatzbefehl“ hin, ausgeteilt durch die jüdische Zwangsorganisation in Belgien (AJB), meldete sich ein Teil der Betroffenen, andere wurden verhaftet, wieder andere gingen in den Untergrund. Laut einer Karteikarte der Arolsen Archives von 1966 wurde Ernst Samuel im Juni 1942 in Morlanwelz verhaftet und in das Sammellager Caserne Dossin in Malines gebracht. Das Datum ist unwahrscheinlich, da die Einrichtung erst ab Juli offiziell bestand und ein provisorisches, oft überfülltes Durchgangslager war, in dem immer nach Erreichen der „Sollstärke“ der nächste Deportationszug zusammengestellt wurde.
Spätestens Anfang August war Ernst Chan im „SS-Sammellager Mecheln“. Die Deportationsliste vom 9. August 1942 ist erhalten8. Seine Häftlingsnummer „II/658“ bekam Ernst wie alle auf einer Tafel um den Hals gehängt. Er wurde im 2. RSHA-Transport, der aus alten Personenwaggons 3. Klasse bestand, mit fast 1000 Menschen am 11. August 1942 von Mechelen/Malines nach Auschwitz in Oberschlesien deportiert, wo er am übernächsten Tag, dem 13. August in der Spätsommerhitze ankam. Im selben Transport war auch der 1899 geborene Leopold Baer, ebenfalls aus Karlsruhe.
79 Jungen aus dem Transport wurden in das Lager eingewiesen. Da der 16-jährige Ernst als „Schlosser“ auf der Liste stand, ist denkbar, dass er zunächst auch z.B. in Buna oder einem Außenkommando gearbeitet hat – Dokumente dazu fanden sich nicht. Mit seiner Ankunft verliert sich seine Spur. Wer nicht in die auswärtige Rüstungsindustrie verlegt wurde, kam durch Krankheiten, Hunger, Überarbeitung, Gewaltexzesse oder im Gas zu Tode. Ernst Samuel Chan hat nicht überlebt. --
Helene Chan wohnte wie ihr Bruder bis Anfang 1939 bei der Mutter in Frankfurt, Sandweg 14. In einem kurzen Bericht über ihre Jugend in Deutschland gab sie 1984 einige Erinnerungen wieder:9 Ihr Vater habe im Ersten Weltkrieg gedient (seinem Porträtfoto zufolge im Sanitätsdienst). Sehr bewegt habe ihn, als er an der Front auf einen verwundeten französischen Soldaten traf, der das „Shema Yisrael“ betete. Ihre Eltern hätten sich als deutsche Juden gefühlt und ein Stück weit die jüdische Tradition aufrechterhalten. So habe die Mutter am Shabbatabend die Lichter angezündet und der Vater den Segensspruch über Brot und Wein gebetet. Einmal habe der Vater ihr auf dem Friedhof in Lambsheim die Grabsteine seiner Vorfahren über mehrere Jahrhunderte zurück gezeigt. Zu Pessach seien sie immer zu den Eltern der Mutter nach Freiburg gefahren. Der Großvater las dann die Pessach Haggadah, wobei alle in der Runde sie nur in der Übersetzung verstanden. Sie und ihr drei Jahre jüngerer Bruder hätten dank ihrer liebevollen Eltern eine sehr schöne und vergnügliche Kindheit gehabt. Die Eltern hätten sich rundum mit allen auf der Straße freundlich gegrüßt – bis 1933, als viele verstummten oder auf die andere Seite wechselten.
Helene schloss sich damals der zionistischen Jugendbewegung „Werkleute“ an und machte Bekanntschaft mit den Ideen Martin Bubers. Bei der Polenabschiebung im Oktober 1938 war Helene von ihrer Jugendbewegung als Helferin am Frankfurter Bahnhof eingeteilt, wo sie einen der erst am nächsten Tag Aufgerufenen sagen hörte: „Wenn wir dran sind, wird niemand mehr da sein, uns zu helfen“. Das erschreckte die junge Frau und bestärkte sie in ihrem Engagement für einen jüdischen Staat. Der Abschied von Mutter und Bruder – sie dachte, auf Zeit – sei sehr schwer gewesen. So gelangte sie im Februar 1939 in der Jugendgruppe von Frankfurt aus in das Mandatsgebiet Palästina.
Später heiratete Shulamit, wie sie fortan genannt wurde, Binyamin Lomnitz. Die Familie lebte im Kibbutz Ma'abarot nördlich von Netanya, wo Shulamit in der Landwirtschaft des Kibbutz arbeitete. Sie schrieb ihren Mädchennamen כהן, was die Aussprache von Chan als „Kahn“ bestätigt. Anfang der 1950er Jahre erkundigte sich Helene/Shulamit bei deutschen Behörden nach dem Schicksal ihres Bruders und veröffentlichte sein Porträtfoto in einem Gedenkblatt bei Yadvashem10. Sie ist 1999 in Petach Tikwa verstorben.
Drei Schwestern aus dem großen Geschwisterkreis von Julius Chan blieben bis zuletzt in Karlsruhe: Julie Chan (geb. 1864), Klara Moritz, geborene Chan (geb. 1865), Witwe des Bäckers und Gastwirts Ludwig Moritz, und Frieda Chan (geb. 1877) wurden im Oktober 1940 aus Karlsruhe in das Lager Gurs am Rande der Pyrenäen deportiert. Klara starb in Gurs in den ersten Winterwochen, am 14. Dezember 1940, und ist dort begraben.
Julie und Frieda überstanden die Zeit in Gurs und konnten 1941 von Südfrankreich aus in die USA emigrieren. Julie starb 1959 in New York, Frieda bei einem Besuch in Israel, 1964 in Naharya. –
Die erst 46-jährige Mutter Klara Chan überstand die Trennung von ihren beiden Kindern nur um einige Monate. Sie starb an Herz-Kreislauf-Beschwerden am 9. April 1940 im Israelitischen Krankenhaus in der Frankfurter Gagernstraße.
(Christoph Kalisch, August 2025)
Anmerkungen:
[1] Seine Großeltern in Lambsheim schrieben sich noch „Cahn“, damit ist Chan nur eine eigentümliche Schreibweise.
[2] Vgl. Karlsruher Tagblatt vom 10.7.1894.
[3] Zum Grabstein Hanna Chan vgl. http:www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=2-2595147
[4] Vgl. Karlsruher Zeitung vom 12.11.1923.
[5] Vgl. Der Führer vom 21.2.1934.
[6] http:www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=2-2598016
[7] Belgisches Nationalarchiv, Ministerium der Justiz, Fremdenpolizeiakten F 1651, Dossier 335450 und Arolsen Archives, Such- und Bescheinigungsvorgang Nr. 24.010 für Chan, Ernest, 06030302.0.024.010
[8] Transportliste vgl. https:beeldbank.kazernedossin.eu/portal/media/716b0506c8a74d2f9fb27cd94a0bc27c242d699d0ab445fca96f440b528d54d83d838ecc6dc94419816ac146bfd80c93
[9] Helenes Bericht vgl. https:infocenters.co.il/yadyaari/notebook_ext.asp?book=146960&lang=ENG&site=yadyaari¶m=%3Ccur_lang%3EENG%3C/%3E Archive Yad Yaari, 9-1-3/027/001122
[10] https:*collections.yadvashem.org/en/names/13542701