Deichmann, Alice

Nachname: Deichmann
Vorname: Alice
geborene: Aron
Geburtsdatum: 30. Juni 1903
Geburtsort: Nürnberg (Deutschland)
Familienstand: verheiratet
Familie: Ehefrau von Kurt D.; Mutter von Marion
Adresse:
Kaiserstr. 55,
bis 1933: Südendstr. 8
Beruf:
Hausfrau
Emigration:
1933 nach Luxemburg Remich,
1940 Frankreich (Frankreich)
Deportation:
29.7.1942 von Drancy nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)

Biographie

In Erinnerung an Alice Deichmann, geborene Aron

Wir, die Klasse 1BK1T1 (der Sekundarstufe) des Technischen Berufskollegs I an der Heinrich-Hertz-Schule in Karlsruhe, beschäftigten uns im ersten Schulhalbjahr 2021/2022 mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und dem Holocaust. Dabei nahmen wir uns auch ein konkretes Beispiel vor Ort vor, die aus Karlsruhe stammende Alice Deichmann, die mit ihrer Familie Hitler-Deutschland früh verlassen hatte, dann aber in Frankreich bei der großen Razzia des Wintervelodroms im Juli 1942 verhaftet wurde und nach Auschwitz kam, wo sie ermordet wurde. Ihre 1932 in Karlsruhe geborene Tochter Marion, hat ihr Schicksal und ihr eigenes, über sieben Jahrzehnte danach autobiographisch festgehalten und reflektiert. Ihr Buch Je voudrais que son nom apparaisse partout, Une enfant au coeur du génocide erschien 2012 in Frankreich. In deutscher Übersetzung wurde es 2015 vom Stadtarchiv Karlsruhe publiziert, Ihr Name soll unvergessen bleiben, Eine Kindheit geprägt vom Völkermord. Dies war Grundlage für uns, eine Biographie im Andenken an Alice Deichmann zu verfassen und dem Gedenkbuch für die Karlsruher Juden hinzuzufügen.

Die Familie von Alice Deichmann väterlicherseits waren die Arons. Die Familie Aron lebte seit Generationen im heutigen Saarland. Moses Aron, mit dem der Stammbaum begann, wurde 1756, 30 Kilometer von Homburg entfernt, geboren. Die Familie durfte sich dort in Steinbach (heute Stadtteil von Ottweiler), einem kleinen Dorf niederlassen. So wie die meisten Juden mussten sie enorm hohe Abgaben leisten. Die Familie mütterlicherseits, die Bocks, waren im fränkisch-bayerischen Fürth beheimatet.
In der Zeit vor Adolf Hitler hat die Familie Aron nie damit gerechnet, dass jener rassistische Judenhasser an die Macht kommen würde. Als Folge dieser falschen Annahme kamen viele aus der Familie in Konzentrationslager. Einige von ihnen hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft und Auszeichnungen erhalten, doch das rettete sie nicht vor Verhaftung und Deportation.

Die engere Familie von Alice Deichmann, geboren am 30. Juni 1903, bestand aus ihren Eltern Bertha und Isidor Aron, sowie ihren Geschwistern Walter (bereits im Alter von 13 Jahren durch einen Unfall verstorben), Paul und Martin Aron. Aus beruflichen Gründen hatte es Isidor Aron nach Karlsruhe verschlagen, er führte eine Tuchhandlung. Alice Deichmann, die eine hervorragende Pianistin war, lernte über das Geschäft ihres Vaters den darin angestellten Kurt Deichmann kennen. Er war 1907 im lothringischen Algringen geboren. Am 30. Juli 1931 heirateten die beiden. Eigentlich hätte Alice zuvor lieber einen anderen Mann geehelicht, aber ihr Vater war gegen die Heirat, da dieser Mann nichtjüdisch war. Isidor Deichmann war besonders religiös bzw. traditionell eingestellt, andere Familienmitglieder sollen gelöster gewesen sein. Die Ehe mit Kurt Deichmann glich eher einer Vernunftehe, die Oberhäupter beider Familien waren damit einverstanden und Alice mit ihren 29 Jahren zählte für damalige Verhältnisse schon zu den älteren noch nicht verheirateten Frauen. Am 18. November 1932 kam in der Wohnung des jungen Paares in der Südendstraße 8b (die Straße, in der sich auch unsere Schule befindet!) die gemeinsame Tochter Marion Deichmann auf die Welt.

Vor der Heirat, 1929, hatte sich Alice Aron in einem Ölgemälde vom bekannten Grötzinger Maler August Rummel in seiner Wohnung auf dem Turmberg porträtieren lassen. Alice mit Manuskripten in den Händen, vielleicht Klaviernoten und ein üppiger Strauß Rosen im Hintergrund. Es sollte den Krieg überstehen und wurde für ihre Tochter ein wichtiges Erinnerungsstück. Sie hat es in den Ausgaben ihres Buches verewigt.

Aufgrund der Wirtschaftskrise war das Geschäft von Isidor Aron für ausgesuchte Stoffe 1931/32 rückgängig und geriet in die Krise. Deswegen und auch wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 emigrierten die Brüder von Alice Deichmann, Martin und Paul Aron nach Frankreich. Isidor und Bertha Aron begaben sich wieder in das Saargebiet, damals noch unter Völkerbundverwaltung bzw. französischem Einfluss, bezogen eine Wohnung in Saarbrücken.

Die junge Familie Alice und Kurt Deichmann mit der kleinen Marion zog noch 1933 nach Remich in Luxemburg, da dort ein Teil von Kurt Deichmanns Familie lebte. Zusammen mit ihrer Mutter fuhr Marion zwischen 1933 und 1938 häufig von Luxemburg nach Saarbrücken zu den Großeltern, besuchte auch andere Verwandte in Deutschland. Nach dem Tod ihres Ehemannes Isidor zog die Großmutter zu ihren Söhnen nach Paris. Zu diesem Zeitpunkt war Marion sechs Jahre alt.

Schon als sie vier Jahre alt war, trennten sich Marions Eltern, zunächst inoffiziell. Ihr Vater machte sich rar, da er nur noch Arbeit auf einem Bauernhof fand und tagelang fortblieb. Eine weitere Konsequenz war das geringe Einkommen. 1938 kam es dann zur offiziellen Trennung der Eltern. Marion sollte ihren Vater erst 44 Jahre später wiedersehen. Ende des Jahres verließ er Luxemburg und konnte sich im Januar 1939 nach Rio de Janeiro in Brasilien einschiffen, wo ein Teil seiner Familie schon länger lebte. Eventuell hätte Alice Deichmann sogar noch mitkönnen. Allein zum Bruder Erich ihres Mannes hatte sie stets herzlichen Kontakt gehabt. Alice Deichmann aber wollte nicht ohne ihre Familie sein, schätzte die Gefahr auch falsch ein und wollte der Familie ihres Exmannes nichts zu verdanken haben.

In der Zeit, in der deutsche Juden seit dem 23. Juli 1938 eine Kennkarte mit großem „J“ auf der Deckseite vorweisen mussten, zogen Mutter und Tochter von Remich in eine Wohnung in Luxemburg (Stadt). Finanziell ging es immer schlechter, zuerst vermietete Alice Deichmann ein Zimmer unter, dann begann sie Möbel zu verkaufen. Sie fand ohne Papiere keine Anstellung mehr. Marions Onkel Martin war inzwischen in London wohnhaft. Alices Mutter Bertha hielt engen Kontakt zu ihren Söhnen bzw. Brüdern und bat sie auch um finanzielle Unterstützung. Der Krieg begann am 1. September 1939 und Mitte März 1940 eröffneten die luxemburgischen Behörden der alleinerziehenden Mutter, dass sie Luxemburg mit ihrer Tochter binnen zwei Monaten zu verlassen hätte. Am 10. Mai 1940 fielen deutsche Truppen in die Niederlande und Belgien sowie in das neutrale Luxemburg ein. Am 5. September 1940 traten im besetzten Luxemburg die Nürnberger Gesetze in Kraft und schon eine Woche später forderte die Gestapo die in Luxemburg lebenden Juden auf, binnen 14 Tagen das Land zu verlassen. Alice Deichmann packte einige wenige ihr wichtige Dinge in zwei Holzkisten, darunter das erwähnte Gemälde und verstaute sie bei einer Bekannten. Ihre Hoffnung, sie wieder zu erlangen, erfüllte sich nur für Marion Deichmann. Sie flüchtete mit Marion illegal über Brüssel in das besetzte Frankreich nach Paris.
Dort begaben sie sich in die Wohnung von Bruder bzw. Onkel Paul Aron und der Mutter bzw. Großmutter Bertha, die bei ihm wohnte, im 14. Arondissement. Paul war zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr in Paris, da er zwangsverpflichteter Arbeitssoldat war. Nach dem Waffenstillstand versuchte er vor dem deutschen Zugriff aus dem Land zu flüchten, allerdings erfolglos. Er wurde in verschiedenen Lagern interniert.

Als Marion mit ihrer Mutter nach Frankreich geflohen war, war sie noch keine acht Jahre alt und konnte kaum Französisch. Marion selbst wusste nicht, warum sie geflüchtet waren, aber solange sie bei ihrer Mutter war, fühlte sie sich sicher und geborgen. Die erste Erfahrung mit Frankreich fand in einem Bahnhofsrestaurant kurz nach dem Grenzübergang statt. Mutter und Tochter wurden freundlich von einem Paar am Nebentisch angesprochen. Marion selbst konnte nicht antworten, aber da ihre Mutter ein gutes Schulfranzösisch hatte, übersetzte sie ihre Worte. Für die Mutter war dies gefährlich, da sie einen starken deutschen Akzent hatte.

Aus der bisherigen Wohnung in Paris mussten die Drei in eine kleinere und billigere Wohnung im Pariser Armen- und Arbeiterviertel Marais umziehen, wo sie bis zum Sommer 1942 lebten. Marion besuchte eine französische Schule und sie eignete sich die französische Sprache schnell an. Die Großmutter hatte mit ihrem schlechten Französisch nur ein paar wenige deutsch-jüdische Bekannte, sonst lebten sie sehr isoliert. Über Lebensmittel- und Textilmarken konnte die Familie kaum das Notwendige besorgen, für die größer werdende Marion musste Alice Deichmann immer wieder die Kleidung passend umnähen und verlängern. Als einzige Möglichkeit etwas Geld zu verdienen, begann Alice Deichmann bei einer wohlhabenden Jüdin Verwaltungs- und Haushaltsarbeit zu leisten. Für die Mutter war dies mit Demütigungen verbunden.

Vom französischen Kollaborationsregime wurden zahlreiche judenfeindliche Gesetze und Verordnungen erlassen. So mussten sich ab dem 3. Oktober 1940 alle Juden in ihrem jeweils zuständigen Polizeikommissariat einen Ausweis erstellen lassen. So kam es, dass auch Familie Deichmann in einer „Familienkartei“ erfasst wurde. Sie lebten dabei als Flüchtlinge ohne Rechtsstellung und quasi Illegal im Land. Mutter Alice zögerte nicht sich bei der Polizei zu melden, denn sie war um die Legalisierung bemüht. Ferner gab es persönliche Meldekarten, die die Polizeiverwaltung des Départements Seine unter sich hatten. Auf diesen stand unter anderem ein „J“. Somit gelang es besser die späteren Massenverhaftungen zu organisieren.

Am 20. Januar 1942 fand die berüchtigte Wannseekonferenz statt, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ konkretisiert wurde. Adolf Eichmann organisierte in allen besetzten Ländern Europas Deportationszüge in die Ghettos und Konzentrationslager. Am 11. Juni 1942 hatte Heinrich Himmler Vorgaben für die Deportation von Juden in den Osten aus den besetzten Ländern gemacht und dabei für Frankreich 100.000 zu Deportierende vorgesehen. Eichmann besprach sich mit den verantwortlichen SS-Führern in Paris am 1. Juli 1942 über die Organisation der Transporte aus Frankreich.
Ab Ende Mai sollten in Frankreich alle Juden ab dem sechsten Lebensjahr, auch Marion, den gelben Judenstern tragen. Am 8. Juli 1942 erweiterten sich die Verbote. Juden waren vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, durften ab einer bestimmten Uhrzeit das Haus nicht mehr verlassen.
Um die geplante Deportationszahl von 100.000 Juden aus Frankreich zu erreichen, sollten Tausende staatenlose und ausländische Juden im Großraum Paris zusammengetrieben werden. Dafür organisierten die deutschen Verantwortlichen mit der französischen Verwaltung am 16./17. Juli 1942 eine Großrazzia, die später als die Razzia des Wintervelodroms bezeichnet wurde, weil viele Verhaftete in dieser Radrennsporthalle in Paris gesammelt wurden.

Am 16. Juli um 8 Uhr morgens klopften zwei französische Zivilpolizisten an die Wohnungstür der Rue Caffarelli in Marais. Ein Mann nannte Alice Deichmanns Namen und befahl ihr, ihre Sachen zu packen. Die Koffer standen bereits gepackt, die Familie war vorgewarnt. So musste Alice Deichmann nur noch Kleinigkeiten in ihre Tasche packen, erinnert sich Marion Deichmann. Marion bettelte die Männer an, sie auch mitzunehmen. Sie schrie: „Mama, ich will mitgehen.“ Doch die Männer antworteten, dass ihr Name nicht auf der Liste stehe. Die Mutter sagte: „Mein Liebes“ und „Mein Liebes, sei brav.“ Sie küsste ihre Tochter. Die Polizisten zeigten keine Gefühle. Dann wurde Alice Deichmann fortgebracht. Ihre Tochter und die Großmutter von Marion waren am Boden zerstört. Marion Deichmann wäre am liebsten mit ihrer Mutter gestorben, meinte sie später. Noch heute quälen sie als Überlebende Schuldgefühle.
Marion Deichmann und ihre Großmutter waren nicht unter den Verhafteten, da Marion mit ihren neun Jahren und die Großmutter mit ihren 66 Jahren aus dem vorgegebenen Schema, das bei den zu Verhaftenden unter den Frauen zwischen 15 und 55 Jahren und bei Männern von 15 bis 60 Jahren vorsah, herausfielen.
Alice Deichmann wurde nach späterer Feststellung noch am selben Tag in das eingerichtete Transitlager Drancy bei Paris für die Überstellungen in die Vernichtungslager gebracht. Rund 67.000 von insgesamt 76.000 Deportierten aus Frankreich sollten über Drancy hauptsächlich nach Auschwitz gebracht werden. Die Lebensbedingungen in Drancy waren schrecklich. Die Räume waren überhitzt sowie von Menschen überfüllt, geschlafen wurde auf Matratzen oder auf dem Boden und es gab nicht hinreichend Essen. Außerdem waren die wenigen Toiletten, die es gab, oft verstopft. Mangelnde Hygiene, Angst und Sorge um die eigenen Verwandten machten die Lage noch unerträglicher. Jede Woche durften die Insassen zwei Postkarten schreiben und in Empfang nehmen sowie monatlich ein Päckchen. Die Mutter von Marion Deichmann war vom 16. bis zum 29. Juli 1942 in Drancy interniert. Sie schrieb zwei Karten auf Französisch. In ihrer ersten Mitteilung vom 21. Juli zeigte sie sich glücklich ihrer Familie schreiben zu können und bat um ein Päckchen mit einigen wichtigen Sachen für ihren Aufenthalt im Lager. Essen wünschte sie sich nicht, obwohl im Lager ein riesiger Mangel an Lebensmitteln herrschte. Alice Deichmann schrieb am 28. Juli eine zweite Karte und teilte ihre bevorstehende Abreise in ein weiter entferntes Lager mit. Sie bedankte sich für das erhaltene Paket und fügte beruhigend hinzu, dass sie sich wiedersehen würden. Diese Karte ist das letzte Lebenszeichen der Mutter, das Marion und die Großmutter erhielten. Am 28. Juli wurde die Mutter mit einigen anderen Mithäftlingen vom Rest des Lagers getrennt, zu 70 oder 80 Personen zusammengepfercht. Vor der Abfahrt wurden sie durchsucht und ihrer Wertgegenstände beraubt. Sie wurden zum Bahnhof Bourget-Drancy gebracht, wo sie einen Güterzug, der 1.000 Personen aufnehmen sollte, gepfercht wurden. Um die 50 Personen wurden in jeden Waggon gezwängt. Die deportierten Menschen waren dicht an dicht gepresst und das für die Fahrt von etwa 60 Stunden lang. Am 31. Juli erreichte der Zug Auschwitz.

Die Menschen dieses Transporters Nummer 12 wurden bei ihrer Ankunft in zwei Gruppen geteilt, die sogenannten Arbeitsfähigen und die Arbeitsunfähigen. Die Arbeitsunfähigen wurden unmittelbar in den Tod geschickt, indem sie vergast wurden. 270 Männer und 514 Frauen wurden als arbeitsfähig selektiert, sie bekamen eine KZ-Nummer auf ihren Arm tätowiert. Die restlichen 216 Menschen des Transports wurden zum Duschen gehen angewiesen. Eine Frau davon war Marions Mutter. Sie gingen in der Meinung, sich reinigen zu müssen in die neu errichteten besonderen Gebäude, stattdessen wurden Zyklon-B-Behälter über Dachluken geöffnet, womit die Menschen vergast wurden. Der Vergasungstod war ein sehr qualvoller Tod, er konnte bis zu 15 Minuten dauern. Marion Deichmann hat sich später im Leben immer mit Fragen gequält. Sie hat sich gefragt, ob es nicht vielleicht besser war, dass ihre Mutter schon ganz am Anfang gestorben ist, denn von den 784 nicht gleich in die Gaskammer geschickten Menschen, lebten am Kriegsende nur noch fünf Männer. Eine ungeklärte Frage für Marion blieb stets: „Warum musste sie gleich sterben?“ Sie war vor der Verhaftung gerade einmal 39 Jahre alt und wurde bei der Selektion unter „arbeitsunfähig“ eingereiht. Marion war sich bei einer Sache aber sehr sicher, die Nazis wollten zuerst die deutschen Juden töten, da diese in den Augen der Nazis „die Schlimmsten“ waren.

Marion Deichmanns Leben nach der Deportation und Tod ihrer Mutter
Noch am Tag der Verhaftung von Marions Mutter kam ein Helfer zur Großmutter und Enkelin. Er war deutscher Jude, sehr wahrscheinlich gehörte er auch zum Komitee für Flüchtlingshilfe (CAR = Comité d’Assistance aux Réfugiés), das 1936 gegründet worden war, um deutschen Juden zur Hilfe kommen zu können. Er teilte Großmutter und Enkelin mit, dass diese in Verstecke gebracht werden würden. Die Beiden packten das Nötigste zusammen. Die Großmutter wurde bei einer Elsässerin in Vanves, unmittelbar außerhalb des Zentrums Paris untergebracht und als Verwandte ausgegeben, bis Paris im August 1944 befreit wurde. Marion jedoch blieb zunächst bis Anfang 1943 in Paris, ohne Schule. Sie durchlief mehrere Familien, denen sie im Haushalt helfen musste, bis sie schließlich im Winter 1943 in der Normandie in die kleine Provinzstadt Saint-Hilaire in der Region Manche bei der katholischen Familie Parigny untergebracht wurde. Dort wuchs sie zusammen mit den drei Kindern der Familie behütet auf.

Einige Monate nach der Befreiung von Paris im August 1944, im Dezember 1944 kehrte Marion Deichmann über ein Kinderhilfswerk nach Paris zurück, wo sich alle, sie mit ihrer Großmutter und ihrem Onkel Paul, aus ihren verschiedenen Verstecken heraus praktisch wieder vereinten. Der Kontakt zur Familie Parigny, darunter auch einige Besuche, blieb bis 1973 bestehen, dem Todesjahr von Marions Großmutter und von Herrn Parigny. Die Parignys wurden postum 2021 von der Gedenkstätte Yad Vashem zu „Gerechten unter den Völkern“ geehrt.
Unmittelbar nach der Befreiung 1944 begann die Suche nach Alice Deichmann. Über einen Suchdienst erfuhren sie im Herbst 1945 schließlich, dass sie am 29. Ju-li 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert worden war und nicht zu den Überleben-den dieses Transports zählte.

In Paris kehrte etwas Alltag für Marion ein. Sie ging zur Schule, ihr Onkel fand bald Ar-beit und konnte somit die „Familie“ ernähren. Glücklicherweise erhielt Marion Kisten, die ihre Mutter vor ihrem Abtransport einer Dame zur Aufbewahrung anvertraut hatte, darunter das Porträt, das ihre Mutter abbildet. Sie betrachtet es seitdem als ihren Schatz.

Das Leben in der familiären Situation war für die in die Pubertät kommende Marion nicht leicht. Der Onkel erzog sie konservativ. Gegen seinen Willen ging Marion zu den Pfad-findern, was ihr sehr guttat. Onkel Paul konnte Kontakt zu Marions Vater aufnehmen. Zugleich bemühte er sich Papiere zur Emigration in die USA der drei Familienmitglieder zu besorgen. Im August 1947 trafen die Papiere ein. Per Schiff reisten Paul Aron und Großmutter Bertha Aron sowie Marion Deichmann in die USA. Am 22. September 1947 kam das Schiff in New York an. Dort blieben sie zusammen woh-nen. Ihr Onkel fand schnell Arbeit und kaufte einige Zeit später eine geräumige Woh-nung, in der Marion Deichmann bis zu ihrem Erwachsensein lebte.
In dieser Zeit schloss sie sich auch den Pfadfindern des französischen Gymnasiums an und hatte nun Franzosen und französische Einwanderer in New York als Bekannte. Sie selbst hatte Probleme sich einer „Nation“ zuzuordnen wie die Einwanderungsbehörden es ver-langten. Deutsch- oder Französischsein empfand sie als nicht zutreffend. Ebenso wenig aber auch die Alternative Jüdischsein. Sie empfand es als nichtzutreffend, wenn man sie als Jüdin bezeichnete, konnte sich selbst aber keiner Identität zuordnen. Jüdischsein war für sie eine Religion oder etwas Historisches. Die Suche nach Identität begleitete sie ein Leben lang.

Als Marion Deichmann 1950 die Schule beendete, wollte sie auf ein College und später Geologie studieren. Ihr Onkel war dagegen, da sich in seinen Augen ein solcher Studiengang nicht für Frauen eignete. Stattdessen lernte sie 1952 Krankenschwester am „Bellevue Hospital“ in New York, dort fand sie amerikanische Freunde. Doch es zog sie nach Frankreich. Auf einer Schiffsreise lernte sie einen US-Luftwaffenoffizier kennen, der in Frankreich stationiert war. Sie heirateten 1953. 1955 wurde er wieder in den USA stationiert und die Familie kehrte in die Staaten zurück. Eines der vier Kinder wurde in Frankreich geboren, die anderen in den USA. Trotz guter Zeit in Kalifornien, Marion Deichmann hatte eine Arbeitsstelle an der University of California, ging die inzwischen sechsköpfige Familie schließlich 1967 nach Frankreich. Marion Deichmann nahm schließlich eine Arbeit bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf auf, lebte in unmittelbarer Nähe auf der französischen Seite der Grenze.

Ihre geliebte Großmutter wurde nie heimisch in den USA. 1956 verließ sie Amerika und zog zu ihrem Sohn und Marions Onkel Martin nach London. 1973 verstarb sie dort.

Einige Jahre nach dem Umzug nach Kalifornien hatte die 28-jährige Marion Deichmann das große Bedürfnis, ihren Vater kennenzulernen. Ihr Brief an den Vater wurde nie beantwortet. Erst viele Jahre später konnte über einen Umweg der Kontakt zur Familie in Rio de Janeiro hergestellt werden. Ende Dezember 1980 rief Marions Vater sie aus Brasilien an. Im April 1981 flog sie zu ihm. Zu dem Zeitpunkt war sie 48 und ihr Vater 73 Jahre alt. Er hatte Antwerpen am 26. Januar 1939 verlassen und war am 10. Februar 1939 in Rio angekommen. Obwohl lange zwischen Marion und ihrem Vater keine Bindung bestand, so hatte sie seit dem Wiedersehen mit ihrem Vater das Gefühl, etwas Verlorenes wiedererlangt zu haben. Am 23. Februar 2000 starb ihr Vater. Das empfand Marion Deichmann als schweren Verlust.
Ende 2020 zog sie aus Frankreich nach den USA, um näher bei ihren Kindern zu sein.

(Klasse 1BK1T1, Heinrich-Hertz-Schule, Januar 2022)


Quellen und Literatur:
Marion Deichmann: Ihr Name soll unvergessen bleiben. Eine Kindheit geprägt vom Völkermord, (= Forschun¬gen und Quellen zur Stadt¬ge¬schichte. Schrif¬ten¬reihe des Stadt¬ar-chivs Karlsruhe, Band 16) Karlsruhe 2015. (frz. Ausgabe 2012)
Generallandesarchiv Karlsruhe: 480/ 20139, 21371, 24994, 25313, 25805, 31695;