Dreyfuss, Clara

Nachname: Dreyfuss
Vorname: Clara
abweichender Name: Dreifuß
geborene: Pollak
Geburtsdatum: 17. Februar 1900
Geburtsort: Olnhausen/Neckarsulm (Deutschland)
Familienstand: verheiratet
Eltern: Leopold und Pauline Pollak
Familie: Ehefrau von Wilhelm D.; Mutter von Bertha und Leo
Adresse:
1933: Waldhornstr. 18,
1940: Kaiserstr. 162
Beruf:
Hausfrau
Deportation:
22.10.1940 nach Gurs (Frankreich),
11.3.1941 - 14.9.1942 in Rivesaltes (Frankreich),
16.9.1942 von Drancy nach Auschwitz (Polen)
Sterbeort:
Auschwitz (Polen)

Biographie

Berthold Dreyfuß, Simon und Meta Dreyfuß, Wilhelm und Clara Dreyfuß
Edmund, Flora (geb. Dreyfuß) und Lieselotte Kahn

Dieser Bericht umfasst die Biografien von fünf verwandtschaftlich eng miteinander verbundenen Familien, die einige Jahre oder sogar Jahrzehnte in Karlsruhe gelebt haben, deren männliche Namensträger Dreyfuß jedoch alle ihre Wurzeln in Malsch bei Ettlingen haben.
Beginnen wir in Malsch. Meier Dreyfuß, dort am 15. September 1823 geboren, entstammte einer bis weit in das 18. Jahrhundert in Malsch nachweisbaren Viehhändler-Familie und war selbst auch Viehhändler. Er hatte mit seiner ersten Frau Babette, geborene Hochstetter, vier Kinder (zwei Töchter und zwei Söhne). Diese starb 1863. Meier Dreyfuß heiratete 1864 ein zweites Mal, und zwar die - 22 Jahre jüngere - Babette, geborene Pfeifer und hatte mit ihr weitere zehn Kinder (drei Töchter und sieben Söhne ).
In diesem Bericht wird versucht, das Leben der Söhne Berthold, Liebmann und Simon Dreyfuß aus der zweiten Ehe und ihrer Familien, des Enkels Wilhelm Dreyfuß und seiner Familie sowie der Enkelin Flora Kahn geb. Dreyfuß und ihrer Familie nachzuzeichnen.

Familie Berthold und Karoline Dreyfuß
Berthold Dreyfuß - geboren als Pfeifer Dreyfuß, den Vornamen Berthold nahm er erst später an - wurde am 21. Juli 1870 in Malsch geboren. Malsch hatte eine der zahlenmäßig größten jüdischen Gemeinden in der Region; als Berthold Dreyfuß geboren wurde, waren es 320.
Er wuchs in Malsch auf, ging hier zur Schule und erlernte bei seinem Vater das Viehhändlergewerbe. Von 1891 bis 1893 absolvierte er seinen Wehrdienst. Am 1. März 1898 heiratete er in Malsch die am 29. Juli 1874 ebenfalls dort gebürtige Karoline Hirsch, die ebenfalls einer Viehhändlerfamilie entstammte. Am 25. November1898 wurden der Sohn Wilhelm und am 15. Juni1904 die Tochter Irma in Malsch geboren. Über beide wird später ausführlich zu berichten sein.
Im März 1908 zog die Familie nach Ettlingen in die Rheinstraße 10. Die Gründe dafür waren vermutlich wirtschaftlicher Natur: in Malsch gab es zu viele Viehhändler. Auf dem gemieteten Anwesen wurden im Hof Stallungen errichtet, so dass es sich gut für den Viehhandel eignete. Und Berthold Dreyfuß schien sich auch gut in Ettlingen etabliert zu haben. Zeugen im Wiedergutmachungsverfahren nach dem Kriege sagten aus, dass er wöchentlich 10 bis 15 Stück Großvieh, also Rinder, umsetzte.
Das Anwesen gehörte einem Ettlinger Architekten. Nach dessen Tod wurde es von einer Erbengemeinschaft versteigert. 1926 erwarb es Berthold Dreyfuß zusammen mit seinem Schwager Hermann Hirsch, Bruder seiner Frau, ebenfalls Viehhändler in Malsch, zu gleichen Teilen. Hermann Hirsch zog nach dem Erwerb mit seiner Frau Jeanette und den Kindern Leo und Irma in das Haus. Dies besteht heute noch wie vor 100 Jahren, allerdings ohne Stallungen im Hof, heute stehen dort Garagen. Berthold Dreyfuß und Hermann Hirsch betrieben das Viehhandelsgeschäft fortan unter einem Dach, aber getrennt.
1930 war Berthold Dreyfuß Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Ettlingen.
Ende 1936 wurde das gemeinsame Grundstück wegen rückständiger Steuerschulden von Hermann Hirsch gegenüber der Gemeinde Ettlingen zwangsversteigert. Berthold Dreyfuß hatte nicht die Mittel, um seinen Schwager auszulösen. Die jüdischen Viehhändler wurden seit 1933 zunehmend isoliert und von Geschäftsfreunden gemieden. Das führte zwangsläufig zu einem drastischen Geschäftsrückgang. Hermann Hirsch wurde durch den Viehwirtschaftsverband Baden mit Schreiben vom 29. Oktober 1936 die Betriebserlaubnis entzogen mit der Begründung, es fehle ihm das notwendige Betriebskapital und somit habe er nicht mehr die erforderliche Zuverlässigkeit. Der Betrieb wurde daraufhin still gelegt. Im April 1937 zog Berthold Dreyfuß mit seiner Frau in die Rheinstraße 21 in Ettlingen; das Haus gehörte der Viehhändlerfamilie Machol. Auch Berthold Dreyfuß wurde im Mai 1937 die Handelserlaubnis entzogen. Ohne Einkünfte war er nun völlig mittellos und lebte von der städtischen Fürsorge, allerdings nur bis Ende 1938, denn ab 1. Januar 1939 hatten jüdische Hilfsbedürftige keinen Anspruch mehr auf Unterstützung durch die öffentliche Fürsorge, für sie musste nunmehr die jüdische Wohlfahrtspflege aufkommen.
Am 17. Juli 1939 zogen Berthold und Karoline Dreyfuß nach Karlsruhe in die Kronenstraße 50. Warum der Wegzug? Die Nähe zu dem in Karlsruhe mit seiner Familie lebenden Sohn Wilhelm wird es kaum gewesen sein, denn Ettlingen war ja keine Entfernung zu Karlsruhe.
Die Vermutung spricht eher dafür, dass der Umzug unfreiwillig war, wahrscheinlich mussten sie ausziehen, nachdem die vormaligen Eigentümer das Haus vor ihrer Emigration verkauft hatten.
Sechs Wochen später brach der Krieg aus. Da Karlsruhe im Schussbereich der französischen Artillerie lag und offenbar damit gerechnet wurde, dass die Stadt zuerst von der französischen Grenze aus beschossen würde, wurden von der Stadt Karlsruhe - „arische“ - Kinder, Kranke und Menschen über 60 Jahren evakuiert und in so genannten Bergungsgaue, also weiter im Inneren des Reiches liegende Regionen untergebracht. Den Juden stand es frei, die Stadt gleichfalls zu verlassen oder zu bleiben. Die Jüdische Gemeinde Karlsruhe organisierte die Evakuierung für diejenigen, die nicht in Karlsruhe bleiben wollten. Berthold und Karoline Dreyfuß kamen auf diese Weise nach Straubing in Bayern und lebten hier nacheinander bei drei jüdischen Familien bis 6. Mai 1940, dann kamen sie zurück nach Karlsruhe in ihre Wohnung Kronenstraße 50.

Familien Simon und Liebmann Dreyfuß
Wenden wir uns nun den Brüdern von Berthold Dreyfuß, Liebmann (Lippmann) und Simon Dreyfuß und ihren Familien zu.
Liebmann Dreyfuß - er nannte sich später Lippmann - wurde am 24. Juni 1872 in Malsch geboren, Simon Dreyfuß am 7. März 1875. Sie wuchsen in Malsch auf und gingen dort zur Schule. Aber in die väterlichen Fußstapfen - den Viehhandel - wollten beide nicht treten. Sie erlernten beide den Kaufmannsberuf in der Textilbranche, Simon in Freiburg, für Lippmann konnten keine Feststellungen getroffen werden.
Im Jahre 1901 gingen die Brüder nach Karlsruhe, Lippmann 29-jährig, Simon 26-jährig, und gründeten hier die gemeinsame Firma L. und S. Dreyfuß, ein Manufakturwarengeschäft, zunächst in der Kriegsstraße 8, ab 1910 in der Kaiserstraße 1l5 und ab 1917 in der Kaiserstraße 164. Sie erhofften sich in der prosperierenden Landesmetropole gute Chancen für ihre berufliche Zukunft und die Möglichkeit, alsbald eine Familie gründen zu können. Vermutlich haben die (Stief-)Brüder Abraham und David Dreyfuß, Söhne des Vaters aus dessen erster Ehe, die schon zehn Jahre zuvor nach Karlsruhe gekommen waren und hier erfolgreich als Kaufleute tätig waren, Beispiel gegeben.
Lippmann Dreyfuß heiratete am 5. April 1904 in Lahr Pauline Ullmann, geboren am 15. September 1877 im badischen Rust. Am 22. Januar 1905 wurde der Sohn Wilhelm in Karlsruhe - einziges Kind - geboren.
Am 20. Februar 1908 heiratete Simon Dreyfuß in Karlsruhe Meta Rosenfelder, geboren am 4. April 1885 im bayerischen Gunzenhausen, jüngstes Kind des Hopfenhändlers Levi und Therese Rosenfelder geborene Herzog. Am 26. Oktober 1908 wurden die Tochter Flora, am 31. Januar 1912 die Tochter Käte und am 23. August 1914 der Sohn Max in Karlsruhe geboren.
Simon Dreyfuß machte den ganzen Krieg 1914/1918 mit, sein letzter Dienstgrad war Unteroffizier. Lippmann Dreyfuß war anscheinend nicht beim Militär, aus welchem Grunde auch immer.
Im Jahre 1920 trennten sich die Brüder geschäftlich, jeder betrieb seine eigene Firma, beide mit Wohnung und Geschäftsräumen im gleichen Haus, Kaiserstraße 164, Lippmann Dreyfuß als Einzel- und Versandhändler für Aussteuerwaren sowie Bett-, Tisch- und Leibwäsche, Bettfedern und Matratzen, Simon Dreyfuß als Großhändler für Webwaren, Tuche und Futterstoffe. 1928 zog Lippmann Dreyfuß in die Ritterstraße 8 und 1932 in die Herrenstraße 7, die Geschäftsräume befanden sich jeweils in der Wohnung.
Lippmann Dreyfuß' Sohn Wilhelm absolvierte nach der Schule eine kaufmännische Ausbildung und war bei seinem Vater als Reisender und Buchhalter tätig.
Er war Mitglied in der SPD und im Reichsbanner. Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 wurde er verhaftet, kam jedoch nach eintägiger Haft wieder frei. Da er eine neuerliche Verhaftung befürchtete, floh er, nur mit dem Nötigsten versehen, nach Mingolsheim im Elsaß.
Lippmann Dreyfuß fürchtete nach dem reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 um seine Existenz und floh ebenfalls mit seiner Frau Pauline nach Frankreich zu seinem Sohn.
Nach Kriegsbeginn1939 wurde die Familie Lippmann Dreyfuß von den französischen Behörden nach Südfrankreich evakuiert, sie lebte später illegal in Chatillon sur Indre (Nähe Tours). Nach der Befreiung kehrte sie nach Mingolsheim zurück.
Lippmann Dreyfuß war bis zu seinem Tod am 21. März 1948 in Straßburg nicht mehr berufstätig. Er und seine Frau lebten von der Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen. Pauline Dreyfuß lebte nach dem Tode ihres Mannes in einem Altersheim in der Nähe von Straßburg, das von dem Sohn Wilhelm geleitet wurde. Hier starb sie am 17. Dezember 1961.

Simon Dreyfuß' älteste Tochter Flora besuchte die Fichte-Mädchenoberschule in Karlsruhe bis zur Obersekunda 1925 und erlernte danach den Beruf der Stenotypistin; danach wird sie in ihrem erlernten Beruf bis zur Heirat auch tätig gewesen sein. Wo sie arbeitete, konnte jedoch nicht festgestellt werden. Der Sohn Max besuchte von 1925 bis 1930 die Oberrealschule, von 1926 bis 1930 das Helmholtz-Realgymnasium in Karlsruhe, das erste Schuljahr wird er an einer anderen Schule verbracht haben. Danach absolvierte er eine kaufmännische Lehre bei der Firma Schnurmann Nachf., Kaiserallee 25 in Karlsruhe, Ledergroßhandel. Als er seine Lehre beendet hatte, 1933, waren die Nazis bereits an der Macht; er konnte von seiner Lehrfirma nicht übernommen werden und konnte als Jude auch keine neue Stelle mehr finden. Er ging deshalb im Spätsommer 1933 nach Frankreich, konnte dort jedoch nicht Fuß fassen, da er keine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Im Frühjahr 1934 kehrte er deshalb nach Karlsruhe zurück. Auch seine Bemühungen, eine Schreinerlehre zu machen, blieben erfolglos. So entschloss er sich frühzeitig zur Auswanderung in die USA. Am 21. August 1936 fuhr er mit dem HAPAG- Schiff "Hamburg" von Hamburg in die USA.
Von der Tochter Käte konnte keine Spur gefunden werden. Lediglich in der Wiedergutmachungsakte von Max Dreyfuß befindet sich ein Hinweis, dass sie im Gebiet der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone verheiratet gewesen und dort von den Russen verschleppt worden sein soll.
Simon Dreyfuß' Geschäft litt natürlich auch unter dem Nazi-Boykott jüdischer Geschäfte. Ein angestellter Reisender musste deshalb 1934 entlassen werden. Die teure Wohnung in der Kaiserstraße 164 konnte er auch nicht mehr halten, 1935 zog die Familie um in die Herrenstraße 11. 1936 wurde die Firma liquidiert, da sie keine Kunden mehr hatte. 1938 zog die Familie schließlich in die Ritterstraße 6, ein sehr ansehnliches Mehrfamilienhaus, das heute noch steht.
Am 11. November 1938 wurde Simon Dreyfuß - wie fast alle männlichen Karlsruher Juden in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Er erhielt dort die Häftlingsnummer 20895. Offenbar aufgrund seines Alters - er war zu diesem Zeitpunkt schon 63 Jahre - wurde er jedoch glücklicherweise bereits am 22. November 1938 wieder entlassen.
Dem Bruder Berthold blieb - wohl wegen seines Alters, er war bereits 68 Jahre - Dachau erspart.

Familie Wilhelm und Clara Dreyfuß
Wenden wir uns nun den Kindern von Berthold und Karoline Dreyfuß, Wilhelm und seiner Familie und Irma zu.
Wilhelm Dreyfuß besuchte die Realschule in Ettlingen von 1908 bis 1912 und danach drei Jahre die Handelsschule in Karlsruhe. Am 20. November 1916 wurde er im Rahmen einer allgemeinen Mobilmachung seines Geburtsjahrganges zum Militärdienst eingezogen zum Ersatz-Bataillon des Fußartillerie Regimentes Nr. 14 und als Kanonier ausgebildet. Wegen seines Augenleidens, das ihn bis ans Lebensende begleiten sollte, wurde er jedoch im März 1917 zur Munitionskolonne der 3. Batterie des Regiments Nr. 33 als Fahrer versetzt. Bis zum Kriegsende blieb er Soldat, Anfang 1919 wurde er schließlich entlassen.
Nach dem Krieg absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung. Es bleibt allerdings ungeklärt wo und bei wem, mutmaßlich jedoch bei einem Möbelhändler, weil er sich später als selbständiger Möbelhändler in Karlsruhe niederließ, und er wird auch nach der Lehre in dieser Branche als Verkäufer im Innen- oder Außendienst tätig gewesen sein.
Am 13. August 1931 heiratete Wilhelm Dreyfuß in Tübingen die am 17. Februar 1900 in Olnhausen, einem Dorf bei Jagsthausen, heute Ortsteil von Jagsthausen - geborene Clara (Klara) Pollak. Sie war die vierte von insgesamt sechs Töchtern des aus Chlistau im Kreis Pilsen, damaliges Böhmen, zugewanderten Kantors und Religionslehrers Leopold Pollak - er wurde als Jehuda geboren und nahm später den Namen Leopold an - und seiner Frau Pauline geborene Heidelberger.
Leopold Pollak kam aus beruflichen Gründen um 1880 nach Olnhausen und heiratete hier 1883. Im August 1914 zog die Familie Pollak nach Tübingen. Er nahm dort die gleichen Aufgaben wahr, aber für eine größere jüdische Gemeinde.
Unmittelbar nach der Heirat ließ sich Wilhelm Dreyfuß mit seiner Frau in Karlsruhe nieder. Er startete im Hinterhaus der Adlerstraße 26 einen Möbelgroßvertrieb. Er nahm Wohnung in der Kaiserstraße 162 (Gebäude der Ellernbank) und wohnte hier mit seiner Familie bis zur Deportation. Heute befindet sich in der Wohnung eine Arztpraxis.
Mitten in der Weltwirtschaftskrise ein solches Unternehmen zu starten, bedurfte großen Mutes und enormer Anstrengungsbereitschaft. Oder war es eine Art ‚Verzweiflungstat’, weil alle Bemühungen, eine Anstellung in seinem erlernten Beruf zu finden, erfolglos waren? Es gibt keine Antwort mehr darauf. Clara Dreyfuß unterstützte ihren Mann und übernahm einen kleinen Pensionsbetrieb, der ein wenig Geld einbrachte.
Gleich nach der Machtübernahme Hitlers und dem Boykott jüdischer Geschäfte zwei Monate später am 1. April 1933, gab Wilhelm Dreyfuß sein Geschäft auf und arbeitete als freier Handelsvertreter für verschiedene Möbelfabriken, vor allem aus Thüringen. Es lief auch anfangs alles recht gut, er konnte gute Geschäfte machen und ordentliche Provisionseinkünfte erzielen. Aber bald ging es ihm wie allen anderen Juden in Deutschland auch, nach und nach kauften die Kunden nicht mehr von ihm, die Nazi-Parole „Kauft nicht beim Juden“ zeigte volle Wirkung. 1937 musste er seine Handelsvertretertätigkeit endgültig aufgeben. Die Familie musste von wenigen Ersparnissen leben und litt Not, wie die Schwägerin Recha Reutlinger im Wiedergutmachungsverfahren bezeugte.
Am 16. September 1935 zog Claras Mutter Pauline Pollak von Tübingen nach Karlsruhe in die Wohnung von Tochter und Schwiegersohn; ihr Mann war bereits am 11. Juli 1923 in Tübingen gestorben, die Töchter waren alle aus dem Haus, da mochte sie nicht länger allein in Tübingen bleiben.
Wilhelm und Clara Dreyfuß wurden am 5. Januar 1936 die Tochter Bertha und am 15. Dezember 1937 der Sohn Leo (Leopold) in Karlsruhe geboren.

Über Irma Dreyfuß, die Schwester von Wilhelm Dreyfuß, gibt es nicht viel zu berichten. Sie absolvierte die Realschule, vermutlich in Karlsruhe. Dann machte sie eine kaufmännische Lehre. Danach führte sie ein ziemlich unstetes Leben, das sie von Karlsruhe nach Frankfurt/M., Berlin, Köln und Stuttgart führte, zwischendurch auch immer wieder nach Ettlingen ins Elternhaus für länger oder kürzer. Wo sie jeweils und was gearbeitet hat, bleibt ungeklärt. 1939 wanderte sie nach England aus und lebte in London. Hier heiratete sie 1944 den Textilkaufmann Klanfield. Die Ehe blieb kinderlos.

Familie Edmund und Flora Kahn
Am 2. November 1933 heiratete Flora Dreyfuß, die älteste Tochter von Simon und Meta Dreyfuß, in Karlsruhe den aus Rülzheim in der Pfalz stammenden Arzt Dr. Edmund Kahn. Edmund Kahn war am 22. Januar 1897 in Rülzheim als erstes Kind von Simon und Helene Kahn, geborene Schaalmann geboren worden, die Tochter Frieda am 16. November 1898. Vater Simon Kahn, 1868 in Veitshöchheim bei Würzburg geboren, war 1893 nach Rülzheim gekommen, um eine Stelle als Kantor der Jüdischen Gemeinde in dem Großdorf mit damals etwa 3.000 Einwohnern und einer jüdischen Bevölkerung von etwa 300 Personen anzunehmen; damit war zugleich auch die Funktion des Schächters verbunden. 1904 konnte Simon Kahn noch zusätzlich eine Anstellung als Lehrer an der Jüdischen Volksschule bekommen. Im Jahre 1914 musste er krankheitshalber alle Funktionen aufgeben, am 2. August 1916 starb er.
Nach dem Abitur begann Edmund Kahn das Medizin-Studium in Würzburg, ließ sich dann aber zum Wintersemester 1916/17 beurlauben, da er im November 1916 zum Militärdienst eingezogen wurde. Nach der Ausbildung wurde er dem 8. Bayerischen Infanterie-Regiment zugeteilt. Er wurde an der Ostfront im Baltikum eingesetzt. Am 24. Oktober 1917 wurde er zum Sanitätsunteroffizier befördert. Am 15. September 1918 bekam er das EK II verliehen. Nach seiner Entlassung im November 1918 setzte er sein Studium in Würzburg fort. Am 2. Mai 1922 wurde er zum Dr. med. promoviert. Seine Dissertation hatte das Thema "Über Durchfälle nach Magenoperationen". Nach der Promotion absolvierte er noch ein Praktikum an der Frauenklinik der Universität Frankfurt a.M. und ließ sich 1923 als praktischer Arzt in Rülzheim in der Neuen Landstraße 48 mit Wohnung und Praxis-Räumen nieder. Wegen seines großen Engagements für den Fußball wurde er 1922 Vorstand des örtlichen Sportvereins. Er erfreute sich im Ort großer Beliebtheit und wurde von den Einwohnern liebevoll nur „der Edi“ genannt. Es hieß, er habe vielmals auch finanziell minderbemittelte Patienten, jüdische und nicht-jüdische, kostenlos behandelt. Nach der Machtübernahme Hitlers musste er dann allerdings nach zwölfjähriger verdienstvoller Amtsführung den Posten als Vorstand des Sportvereins als Jude auf „Druck der Obrigkeit“ aufgeben.
Nach der Hochzeit zog auch seine Frau Flora zu ihm nach Rülzheim. Am 26. Februar 1937 wurde die Tochter Lieselotte in Karlsruhe geboren, aber die Familie wohnte weiterhin in Rülzheim.
Zum 1. Oktober 1938 verlor Edmund Kahn - wie fast alle jüdischen Ärzte in Deutschland, die noch praktizieren durften - die ärztliche Approbation. Der von Staats wegen verordnete Entzug der wirtschaftlichen Existenz war nur der Endpunkt einer schleichenden wirtschaftlichen Erosion, insbesondere nach 1936: mehr und mehr der nicht-jüdischen Patienten blieben weg, gezwungenermaßen, wenn sie oder Angehörige im Öffentlichen Dienst beschäftigt waren oder aus Opportunismus zum Regime, um nicht öffentlich gebrandmarkt zu werden, langjährige Freunde und Bekannte wollten den Juden Kahn nicht mehr kennen. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen. Am 10. November 1938, als die Synagogen in Deutschland brannten - auch die Synagoge in Rülzheim wurde zerstört, ebenso weite Teile des Jüdischen Friedhofs, zahlreiche Wohnungen von Juden wurden verwüstet, die Nazi-Partei und ihre Formationen in der Südpfalz galten als besonders militant gegenüber Juden - wurde Edmund Kahn verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Er hatte dort die Häftlingsnummer 20798. Am 16. Dezember 1938 wurde er von dort wieder entlassen. Flora Kahn floh in panischer Angst mit Tochter Lieselotte noch am Vormittag des 10. November nach Karlsruhe zu ihren Eltern und musste dort feststellen, dass ihr Vater ebenfalls abgeholt worden war, allerdings - wie nahezu alle männlichen Karlsruher Juden - in das Konzentrationslager Dachau verbracht wurde. Fortan wohnte sie in der elterlichen Wohnung in der Ritterstraße 6.
Nach seiner Entlassung aus Buchenwald ging Edmund Kahn zu seiner Familie nach Karlsruhe. Nach langwierigen Bemühungen gelang es ihm schließlich, im September 1939 als angestellter Arzt am Israelitischen Krankenhaus in Frankfurt a.M. in der Gagernstraße 36 wieder eine Existenz zu finden. Auch Frau und Tochter zogen noch im gleichen Monat zu ihm nach Frankfurt; im Krankenhaus bekamen sie eine kleine Wohnung.

Nach der Reichspogromnacht 1938
Auch Wilhelm Dreyfuß wurde im Verfolg der Pogrome vom 9./10. November 1938, am 11.
November von Karlsruhe in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Er bekam die Häftlingsnummer 20854. Am 7. Dezember 1938 wurde er von dort entlassen.
1939 wurde er zeitweise als Zwangsarbeiter in der Regie des Tiefbauamtes Karlsruhe eingesetzt.
Mit den Erfahrungen von Dachau und der Zwangsarbeit und der Erkenntnis, in Deutschland keine Zukunft mehr zu haben, um Gesundheit und Leben bangen zu müssen, entschlossen sich Wilhelm und Clara Dreyfuß im Sommer 1939 zur Auswanderung in die USA. Vom Konsulat in Stuttgart wurde ihnen die Quotennummer 11617 zugeteilt. Aber erst im März 1940 wurden die Pässe beim Passamt beantragt, die aber offenbar nicht mehr ausgestellt wurden, weil die Visa nicht erteilt wurden. Auch zu einer Vorladung zum Konsulat nach Stuttgart kam es nicht mehr.

Zur Auswanderung in die USA entschlossen sich auch Simon und Meta Dreyfuß, aber erst im Spätjahr 1939. Die Auswandererberatungsstelle bestätigte mit Schreiben vom 4. Dezember 1939 für das Passamt, dass sie nachgewiesen hatten, in die USA auszuwandern und vom US-Konsulat in Stuttgart die Quotennummer 12515 erhalten hatten. Diese sehr hohe Ziffer bot kaum eine reelle Chance, in absehbarer Zeit ein Visum für die USA zu erhalten. So kam es auch nicht mehr zur Ausstellung des beantragten Reisepasses. Die Akte des Polizeipräsidiums enthält den makaberen Vermerk: „Ist am 22.10.1940 evakuiert“.

Berthold und Karoline Dreyfuß fühlten sich einer Auswanderung wegen ihres Alters nicht mehr gewachsen, sie bemühten sich deshalb erst gar nicht um die entsprechenden Papiere.

Im April 1940 zog Pauline Pollak - mit Genehmigung der Gestapo Karlsruhe - zu ihrer Tochter Hilde und ihrem Schwiegersohn Max Fechenbach nach Würzburg. So entging sie auch der Deportation nach Gurs am 22. Oktober 1940, über die noch zu berichten sein wird. Als die Gestapo Würzburg im Oktober 1940 von der Deportation der badischen Juden nach Gurs erfuhr, wollte man Pauline Pollak ebenfalls sofort nach Gurs verfrachten. Irgendwie gelang es der Tochter, die Gestapo davon abzubringen. Aber es war nur ein knapp zweijähriger Aufschub, um ebenfalls deportiert zu werden. Am 22. September 1942 wurde sie zusammen mit Tochter und Schwiegersohn und deren Kindern Walter (14 Jahre) und Susanne (9 Jahre) nach Theresienstadt deportiert. Und wie durch ein Wunder gelang es Pauline Pollak, Hilde und Max Fechenbach sowie deren Tochter Susanne dort 23/4 Jahre zu überleben, obwohl die Menschen zu Tausenden starben. Walter Fechenbach wurde am 14. September 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und überlebte, ein noch größeres Wunder und ein Kapitel für sich.

Am 22. Oktober 1940 wurden die badischen und saarpfälzischen Juden in einer Blitzaktion nach Gurs in Südfrankreich deportiert, auch Berthold und Karoline Dreyfuß, Simon und Meta Dreyfuß sowie Wilhelm und Clara Dreyfuß mit ihren Kindern Bertha, vier Jahre, und Leo, noch nicht drei Jahre alt.

Briefe als Dokumente zwischen Bangen und Hoffen
Eine größere Zahl von Briefen, von Wilhelm und Clara Dreyfuß aus Gurs und anderen Lagern in Frankreich an die Verwandten in USA und in der Schweiz geschrieben, sind bei der Tochter Bertha erhalten geblieben. Anhand dieser Briefe lässt sich das Schicksal dieser Familie und ihr Leiden bis zur Deportation nach Auschwitz im Groben nachvollziehen oder jedenfalls erahnen. Die Briefe sind ein tiefbeeindruckendes persönliches Zeugnis über all die bekannten Beschreibungen des Lebens in Gurs und anderen Lagern in der einschlägigen Literatur hinaus.
Am 6. Dezember 1940 schrieb Wilhelm Dreyfuß: „Wie wir hier hausen, ist unbeschreiblich, und sterben hier täglich 15-20 Personen. Es fehlt an allem, und weiß man nicht, wo man zuerst anfangen soll. Tagelang regnet es, so daß man in dem Dreck kaum laufen kann, dann sind die Nächte sehr kalt und haben wir fast keine Wärmegelegenheit. Ich bitte Euch dringend, uns so schnell wie möglich helfen zu können, da wir sonst hier zu Grunde gehen.“
Die Möglichkeit, Briefe schreiben und empfangen zu können, war für Wilhelm und Clara Dreyfuß ein wesentliches Stück Lebensnerv, zumal auch immer mit der Hoffnung verbunden, aus dieser miserablen Situation heraus und in die USA zu kommen. Diese Hoffnung war vor allem an Claras Schwester Recha gebunden, die mit dem Arzt Dr. Wilhelm Reutlinger verheiratet war und in New York lebte, nachdem es ihnen gelang, über die Schweiz 1940 in die USA zu emigrieren. Die Reutlingers waren auch in materieller Hinsicht ein wesentliches Stück Lebensnerv, wie auch die Schweizer Verwandten, sie schickten Geld und Lebensmittel-Päckchen so oft sie konnten. Ohne diese Hilfe wäre das Leben in den Lagern noch viel schwerer gewesen.
Am 29. Dezember 1940 schrieb Wilhelm Dreyfuß: „Wie wir auf Post von jedem warten, kann Euch gar nicht schildern. Hoffentlich wird doch auch etwas getan werden, um uns aus diesem Schlamassel zu befreien.“ Und im gleichen Brief Clara Dreyfuß: „...die Kinder haben viel Hunger, hoffentlich kommen wir bald raus.“
Hanna Meyer - Moses, Tochter des Karlsruher Rechtsanwaltes Nathan Moses und seiner Frau Betty - die Familie wurde ebenfalls am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert - erinnert sich: „Meine Mutter, meine Schwester Susanne und ich waren in Gurs in der gleichen Baracke wie Frau Dreyfuß mit ihren beiden Kindern Bertha und Leo. Wir lagen auf Strohsäcken auf dem Baracken-Fußboden direkt gegenüber von Frau Dreyfuß mit ihren Kindern. Der kleine Junge brüllte immerzu, wohl vor Hunger. Seine Mutter nahm ihn auf die Anne und wiegte ihn, bis er ruhig wurde.“
Wiederholt beklagte Wilhelm Dreyfuß tief enttäuscht, dass seine Verwandten in den USA sich überhaupt nicht um ihn und seine Familie kümmerten, alle Post blieb unbeantwortet. Max Dreyfuß, Sohn von Simon und Meta Dreyfuß, 1936 in die USA ausgewandert, kümmerte sich nicht einmal um seine Eltern, kein Brief, kein Geld, kein Päckchen. Wilhelm Dreyfuß: „Wir geben von dem wenigen, was wir haben, ihnen davon ab.“
Am 21. Februar 1941 wurden Simon und Meta Dreyfuß in das Lager Noé bei Toulouse verlegt. Anfang, Mitte März 1941 wurden zahlreiche Familien mit Kindern und auch alte Menschen in das Lager Rivesaltes bei Perpignan verlegt, so auch am 11. März 1941 Berthold und Karoline Dreyfuß und am gleichen Tage Wilhelm und Clara Dreyfuß mit ihren Kindern Bertha und Leo.
Alle erhofften sich bessere Lebensbedingungen, vor allem bessere Verpflegung und bessere hygienische Gegebenheiten. Doch sie kamen vom Regen in die Traufe.
Clara Dreyfuß am 27.3.1941 an ihre Schwester Recha in New York: „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie Hunger und Kälte weh tun, wir haben einen schlimmen Winter hinter uns.“
Und Wilhelm Dreyfuß am 9. April 1941, geschrieben in einem Cafe außerhalb des Lagers: „Heute haben wir, d.h. Clara, ich und Bertel [Bertha, d. Verf.] 1 Tag Urlaub, und haben wir uns soeben seit langer Zeit mal wieder richtig satt gegessen, was das heißt, kann nur der ermessen, der dies seit Monaten nicht mehr getan hat.“
Wilhelm Dreyfuß führte im Brief vom 7. Mai 1941 bitterlich Klage über die Zustände im Lager Rivesaltes: „Es ist hier schrecklich seit einigen Wochen. ...Alles ist sehr streng hier und werden wir Tag und Nacht sehr schickaniert, bei der geringsten Gelegenheit kommen die Leute ins Prison [Arrest, d. Verf.]. Mitten in der Nacht kommen besoffene Gardisten in die Baracken und lärmen und halten Appelle ab. Zuerst hieß es, wir kommen in ein Familienlager, leider ist es schlimmer wie in einem Zuchthaus. Es ist geradezu katastrophal, was wir hier erdulden müssen, dazu bekommen wir täglich 200 gr. Brot und 2 x 1 /4 l Rübensuppe, wo die Würmer darin schwimmen. In unserem vorigen Lager waren wir dagegen im Paradies. Wenn dies noch lange so weiter geht, gehen wir alle an Körperschwäche zugrunde.“
Im Brief vom 17. Juni 1941 teilte Wilhelm Dreyfuß seinen Verwandten in USA mit, dass er demnächst in ein Durchgangslager bei Marseille [gemeint ist das Lager Les Milles - d. Verf.] kommen werde, Clara und die Kinder blieben aber vorerst in Rivesaltes. Das war nach langen Wochen des Hoffens und Bangens endlich der ersehnte Lichtblick. Les Milles war schon der ,halbe Weg' nach Marseille, und Marseille bedeutete - allerdings nicht immer- die Ausreise in die USA. Aber schon 10 Tage später bekam die Hoffnung auf baldige Erteilung der Visa einen schweren Dämpfer. Vor das US-Konsulat in Marseille geladen, erfuhr Wilhelm Dreyfuß dort, dass dieses einen Tag zuvor für alle Deutschen geschlossen worden war.
Wilhelm Dreyfuß hatte sich- zusammen mit zahlreichen anderen jüdischen Männern aus dem Lager, darunter auch zwei aus Karlsruhe - im Sommer 1941 zum Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers gemeldet in der Hoffnung auf bessere Verpflegung. Es gab sogar eine angemessene Entlohnung. Am 23. Juli 1941 wurde er mit anderen Männern der „Organisation Todt“ zugeteilt und im Kriegshafen Brest beim Bau der Befestigungsanlagen eingesetzt. Ende August 1941 kamen er und die anderen Männer wieder zurück nach Rivesaltes. Ende Oktober war er wieder in Les Milles.
Clara Dreyfuß am 26. Oktober 1941: „Mein kleiner Junge war 5 Monate sehr schwer krank, und wir haben unseren letzten Pfennig an das Kind gerichtet, wenn ich den Jungen betrachte, ist er mir wie neu geschenkt. ...Wir waren schon zwei Mal vor der Auswanderung und immer kamen neue Bestimmungen, wodurch alles vereitelt wurde. Nun sind glaube ich unsere Papiere wieder in Washington, und wir warten mit Sehnsucht auf Nachricht von dort.“
Zwei Tage später erwähnt sie in einem Brief zum ersten Mal, dass die Kinder in einem Heim sind: „Der Abschied fiel mir sehr schwer und ich habe so Heimweh nach ihnen, doch bin ich so froh, daß sie gut untergebracht sind.“ Am 10. Januar 1942: „Von den Kindern habe G. s. D. [Gott sei Dank, d. Verf.] gute Nachricht, und sie sind gut versorgt, ich bin so glücklich darüber.“
Im Oktober 1941 konnten die Kinder mit Hilfe von Aktivisten der jüdischen Kinderhilfsorganisation OSE (Oeuvre de Secours Aux Enfantes) illegal aus dem Lager Rivesaltes in das OSE-Kinderheim Maison Chaumont (Departement Creuse, 90 km nördlich von Dijon) gebracht werden. Damit begann eine leidvolle Odyssee für die Kinder, die selbst für die damalige Situation sehr ungewöhnlich war und Fragen über Fragen aufwirft, die heute nicht mehr beantwortet werden können: die Kinder waren zu klein, um all das, was mit ihnen geschah, verstehen und registrieren zu können, und die beteiligten Erwachsenen leben nicht mehr.
Im Juli 1942 kamen die Kinder in ein anderes OSE-Heim in Masgelier (Departement Creuse).
Am 1. September 1942 wurden sie auf Anordnung der Gestapo und durch deren französische Helfer wieder zurück in das Lager Rivesaltes zur Mutter gebracht, um von dort aus mit ihr deportiert zu werden - die Deportationen nach Auschwitz waren ja bereits in vollem Gang. Und wieder gelang es der OSE, organisiert durch deren Aktivistin Andree Salomon, die so vielen jüdischen Kindern das Leben gerettet hat, die Kinder illegal aus dem Lager zu holen; am 5. September 1942 wurden sie - nach Erinnerung der Tochter Bertha - in einem LKW versteckt aus dem Lager heraus geschmuggelt und in ein Quäker-Heim - die Quäker waren eine amerikanische Hilfsorganisation, die ebenfalls sehr stark in die Rettung jüdischer Kinder involviert war- in Vernet-les-Bains (Departement Pyrénées.) gebracht. Die letzten Worte von Clara Dreyfuß an ihre Tochter Bertha waren: „Pass immer auf Deinen Bruder auf.“

Am 2. Januar 1942 starb Berthold Dreyfuß in Rivesaltes, er war schon monatelang bettlägerig und hatte - wie so viele alte Menschen im Lager- den Lebensmut gänzlich verloren. „Meine Schwiegermutter ist ganz gebrochen“, schrieb Clara Dreyfuß am 10. Januar 1942. Und Wilhelm Dreyfuß am 25. März 1942 an die Verwandten in New York: „…tut mir meine Mutter schrecklich leid, da sie sich nicht mehr zurecht finden kann. Bin froh, daß I. [liebe, d. Verf.] Clara bei ihr ist und sie so wenigstens nicht allein sein muß.“
Und weiter: „Es ist ja zu traurig, daß es jetzt wie wir heute hörten so gut wie keine Möglichkeiten mehr gibt, zu Euch kommen zu können und bedaure ich Euch so sehr für die vielen unnötigen Laufereien, Ärgernisse usw., denen Ihr wegen uns ausgesetzt ward und doch keinen Erfolg hatten. Jetzt müssen wir in G. [Gottes, d. Verf.] Namen aushalten und durchhalten bis alles zu Ende ist.“
Am 17. Mai 1942 berichtete Wilhelm Dreyfuß in einem Brief an die Verwandten in der Schweiz, daß er als Zwangsarbeiter zu einer Arbeitskompanie nach La Ciotat (Nähe Marseille) kam und schrieb: „Wenn wir nur durchhalten können, sonst wollen wir nichts. ...Ich hoffe doch, mit Gottes Hilfe, daß sie [gemeint ist seine Frau Clara, d. Verf.] und meine Mutter nun bald in meine Nähe kommen, nachdem wir schon so lange getrennt sind.“ Und in seinem letzten Brief vom 26. Juli 1942: „Meine einzigen Gedanken und Sorgen sind bei meinen Lieben. Die ganze schwere Arbeit tue ich nur um ihretwillen.“
Voller Verzweiflung schreibt Clara Dreyfuß in ihrem letzten Brief am 9. September 1942 an ihre Schweizer Verwandten in großer Sorge um ihre Kinder: „Wenn Ihr diesen Brief erhalten werdet, bin ich hier schon weg, aber leider nicht nach Amerika, sondern den Weg, den in letzter Zeit alle von hier gingen. Der I. [liebe, d. Verf.] Wilhelm ist schon eine Woche weg, und ich bin natürlich sehr aufgeregt über alle diese Sachen. Letzte Woche kamen plötzlich die Kinder. Du kannst Dir denken, ich hatte große Freude, doch auch Schrecken. Nun sind sie am Samstag wieder weg gekommen und ich habe I. Käthe so Angst, sie haben keine Ruhe, und ich möchte Euch, I. Albert und Käthe bitten, doch die Kinder zu Dir zu holen. Bitte setze alle Hebel in Bewegung, damit Du die Kinder bekommst. Du bist ja selbst Mutter und ich brauche Dir nicht zu schreiben, mit welchen Gefühlen ich von hier gehe. Wer weiß, wann ich sie wieder sehe.“

Wilhelm Dreyfuß wurde am 7. September 1942 von Drancy mit Transport Nr. 29 nach Auschwitz deportiert. Von 1.000 Personen, darunter 155 Kinder, die der Transport umfasste, wurden bei Ankunft 889 sofort vergast.
Clara Dreyfuß wurde am 14. September 1942 von Rivesaltes nach Drancy und am 16. September 1942 von dort mit Transport Nr. 33 nach Auschwitz deportiert. Von 1.003 Personen, darunter 100 Kinder, wurden bei Ankunft 856 sofort vergast.

Anfang 1943 kamen die Kinder in anderes Heim der Quäker in Espere (Departement Lot). Erneut wurden sie am 15. Dezember 1943 in das OSE-Heim in Masgelier gebracht, vermutlich immer auf der Flucht vor den Nazi-Schergen und ihren Helfern. Und als eine Unterbringung, besser, ein Verstecken, in einem Heim nicht mehr möglich war, wurden sie am 28. Dezember 1943 bei einer französischen Familie, vermutlich bei einem Bauern, im Departement. Haut-Loire versteckt. Wo genau dies war und wie die Familie hieß, ist nicht mehr feststellbar.
Natürlich erhielten die Kinder auch andere Namen, denn seit dem spektakulären Spionagefall des französischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus in den 90er Jahren des 19.
Jahrhunderts wusste jeder in Frankreich, das Dreyfuß ein jüdischer Name war. Aber der ,neue' Name bleibt im Dunkeln, niemand kennt ihn mehr.
Berichten zufolge waren die Kinder bei dieser Familie in sehr schlechten Händen, wie immer sich das geäußert haben mag.
Georges Loinger, einer der maßgeblichen OSE-Aktivisten, Sportlehrer aus dem Elsaß, organisierte im März 1944 wieder einen großen Kindertransport aus verschiedenen Orten, Limoges, Montélimar, Lyon; auch Bertha und Leo wurden nach Lyon gebracht. Die Gruppe umfasste 26 Kinder und fuhr per Bahn – in Begleitung – über Grnoble und Aix-les-Bains nach Annemasse. Am 26. April 1944 kamen sie dort an. Am Bahnhof holte sie ein Paseur (von der OSE bezahlter „Fluchthelfer“) ab und führte sie in den Wald bei Fossard, eine Stunde Fußweg von Annemasse wurde die Grenze passiert. Den Schweizer Grenzbeamten, die die Gruppe alsbald aufbrachten, konnten Bertha und Leo Dreyfuß fast nichts berichten, sie wussten nicht mehr als die Vornamen der Eltern, auch nicht, woher sie kamen; sie konnten auch keine Verwandten oder Bekannten in der Schweiz angeben und kamen deshalb zunächst in ein Genfer Kinderheim. Irgendwie wird sich jedoch ihre Identität bald geklärt haben. Im Juli 1944 schließlich kamen sie zu Verwandten nach Basel. Dort blieben sie bis April 1946, nun endlich bei lieben Menschen, ohne Verfolgung und Angst.
Recha Reutlinger, die Schwester der Mutter, holte sie zu sich in die USA nach New York.
Am 8. Mai 1946 trafen die Kinder mit einer Gruppe von 15 weiteren jüdischen Kindern, die ihre Eltern im Holocaust verloren hatten, mit dem Schiff von Le Havre in Frankreich kommend in New York ein. Die Presse berichtete darüber.
Recha Reutlinger war nicht nur ‚Ersatz’-Mutter und - Vater in einer Person - ihr Mann, der Arzt Dr. Wilhelm Reutlinger, war 1945, 48-jährig, an einem Herzinfarkt verstorben - sondern auch der gesetzliche Vormund. Bertha blieb bis zu ihrer Heirat 1957 bei ihrer Tante, Leo bis zum Militärdienst 1960.

Das Schicksal der Familie Edmund Kahn
Am 24. September 1942 wurden die Angestellten der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt a.M., die bisher von den Deportationen verschont worden waren, die Krankenschwestern, Ärzte, Heimleiterinnen, Handwerker und Hilfskräfte mit ihren Familien deportiert, insgesamt 234 Personen aus Frankfurt. Auch die Familie von Dr. Edmund Kahn war darunter. Der Zug wurde in Berlin mit einem Transport von 811 Berliner Juden zusammen gekoppelt. Insgesamt umfasste dieser Transport also 1.045 Personen. „Wir waren glücklich“, berichtete eine Überlebende, „weil es nicht nach Osten ging, sondern nach Nordosten. Wir hielten in Riga, aber die SS sagte, dass dort kein Platz für uns war. Nach einem Tag Aufenthalt fuhr der Zug nach Norden, und wir hielten in Estland, 35 km von Tallin entfernt in Raasiku. Sofort nach Ankunft auf dem Bahnhof fand auf dem Bahnsteig eine Selektion statt. Die SS sortierte die älteren Leute aus, die Mütter mit Kindern und junge Mädchen. Diese Leute stiegen in Busse ein. Von keinem der Menschen in den Bussen hörten wir jemals wieder.“ Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurde hier Edmund Kahn von Frau und Tochter getrennt, weil die arbeitsfähigen Männer, zu denen er mit 45 Jahren zählte, noch gebraucht wurden. Aus einem Bericht einer in Estland gebildeten sowjetischen Kommission zur Feststellung und Untersuchung nationalsozialistischer Verbrechen stammt die Information: Von der Bahnstation Raasiku fuhren die Busse in die Dünen an der Ostsee. Dort war in einer Talmulde ein großer Graben ausgehoben worden. Etwa 15 m vor der Grube hielten die Busse, die Menschen wurden heraus getrieben und musten sich nackt ausziehen. Sie wurden dann gezwungen, in den etwa 3 m tiefen Graben zu gehen, in den eine Art Rampe hinein führte. Dort wurden sie von einem estländischen Kommando von 6 - 8 Männern erschossen, erst die Erwachsenen, dann die Kinder. Die Leichen wurden mit Sand bedeckt.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren Flora Kahn und Ihre Tochter Lieselotte unter den Erschossenen.
Das Schicksal der Männer nach der Sektion in Raasiku ist unklar: sie wurden teils ebenfalls am Ort erschossen, teils in Lager nach Lettland gebracht und kamen dort um oder wurden dort erschossen, oder sie kamen in das KZ Stutthof (bei Danzig) und kamen dort um. Von den Frankfurter deportierten 234 Personen haben 10 überlebt. Edmund Kahn war nicht darunter.
Die Gemeinde Rülzheim benannte im Jahre 1979 zur Erinnerung an den beliebten Mitbürger im Neubaugebiet "Süd" eine Straße nach ihm: "Dr. - Kahn – Straße“.

Simon und Meta Dreyfuß kamen am 18. August 1943 vom Lager Noé in ein Altenheim in Montelimar (60 km nördlich von Orange ). Dort wurden sie am 12. Januar 1944 verhaftet und nach Drancy gebracht, am 3. Februar 1944 von dort mit Transport Nr. 67 nach Auschwitz deportiert. Der Transport umfasste 1.214 Personen, darunter 188 Kinder. 985 wurden bei Ankunft sofort vergast.

Karoline Dreyfuß, die Witwe von Berthold Dreyfuß, kam am 4. Oktober 1942 von Rivesaltes in das Lager Nexon (120 km südlich von Limoges), von dort am 15. März 1943 in das Lager Masseube bei Toulouse. Am 1. September 1944 wurde sie auf freien Fuß gesetzt – „liberiert“ -, da das Lager am 31. August 1944 geschlossen worden war. Sie lebte danach in verschiedenen Heimen und ging 1946 zu ihrer Tochter Irma nach England, wo sie am 16. Januar 1965 in London starb.
Im Lager Rivesaltes hatte sie von einem französischen Gardisten einen Schlag mit einem Holzknüppel über das Gesicht erhalten. Dadurch wurde eine langjährige Erkrankung des rechten Auges ausgelöst; 1949, sieben Jahre später, musste ihr das Auge entfernt werden.

Es bleibt nachzutragen:
Pauline Pollak kam 1945 zusammen mit Tochter Hilde und Schwiegersohn Max Fechenbach und deren Tochter Susanne von Theresienstadt nach Würzburg zurück, Walter Fechenbach von Auschwitz.
1946 konnten alle fünf endlich in die USA ausreisen, am 16. September 1946 kamen sie in New York an. Pauline Pollak starb dort am 24. Januar 1951.

Hermann Hirsch, Schwager von Berthold Dreyfuß und Bruder von Karoline Dreyfuß, und seine Frau Jeanette wurden ebenfalls am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Am 10. August 1942 wurden sie gemeinsam von Drancy mit Transport Nr. 17 nach Auschwitz deportiert und sofort nach Ankunft umgebracht.

(Wolfgang Strauß, Dezember 2004/Februar 2005, Februar 2006)